Vom Nutzen und Nachteil der Historie für
das Leben (auch in: Die Unzeitgemäßen
/ ...), 1874

Ȇbrigens
ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit
zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dies sind Worte Goethes, mit
denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere
Betrachtung über den Wert und den Unwert der Historie beginnen mag. In derselben
soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen,
bei dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluß
und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhaßt sein muß - deshalb,
weil es uns noch am Notwendigsten fehlt, und weil das überflüssige der
Feind des Notwendigen ist. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 154).Gewiß, wir brauchen die Historie, aber wir
brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im
Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutslosen
Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum
Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar
zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten
Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt
einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das
Leben verkümmert und entartet: ein Phänomen, welches an merkwürdigen
Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt ebenso notwendig ist,
als es schmerzlich sein mag. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 154).Es ist wahr: erst dadurch, daß der Mensch
denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschließend jenes
unhistorische Element einschränkt, erst dadurch, daß innerhalb jener
umschließenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, -
also erst durch die Kraft, das Vergangne zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen
wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaße
vom Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jede Hülle des Unhistorischen
würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen. (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S.. 160-161).Wie der
Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch immer
wissenlos, so vergißt das Meiste, um Eins zu tun, er ist ungerecht gegen
das, was hinter ihm liegt, und kennt nur Ein Recht, das Recht dessen, was jetzt
werden soll. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 162).Sie wissen gar nicht, wie unhistorisch sie trotz aller
ihrer Historie denken und handeln, und wie auch ihre Beschäftigung mit der
Geschichte nicht im Dienste der reinen Erkenntnis, sondern des Lebens steht.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 163).Mag
unsere Schätzung des Historischen nur ein okzidentales Vorurteil sein; wenn
wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurteile fortschreiten und nicht stillestehen!
Wenn wir nur diese gerade immer besser lernen, Historue zum Zwecke des Lebens
zu treiben! Dann wollen wir den Überhistorischen gerne zugestehen, daß
sie mehr Weisheit besitzen als wir; falls wir nämlich nur sicher sein dürfen,
mehr Leben als sie zu besitzen: denn so wird jedenfalls unsre Unweisheit mehr
Zukunft haben als ihre Weisheit. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 164-165).Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht
und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluß und Abrech
nung für die Menschheit. Die historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge
einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Kultur zum Beispiel,
etwas Heilsames und Zu kunfts-Verheißendes, also nur dann, wenn sie von
einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird und nicht selber herrscht
und führt. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 165).Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht
im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung,
reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen.
Die Frage aber, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt
brauche, ist eine der höchsten Fragen und Sorgen in betreff der Gesundheit
eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur. Denn bei einem gewissen Übermaß
derselben zerbröckelt und entartet das Leben, und zuletzt auch wieder, durch
diese Entartung, selbst die Historie. (Ebd., 1874, in: Werke in drei
Bänden, 1. Band, S. 165).Daß das Leben aber den
Dienst der Historie brauche, muß ebenso deutlich begriffen werden als der
Satz, der später zu beweisen sein wird - daß ein Übermaß
der Historie dem Lebendigen schade. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 166).In dreierlei Hinsicht gehört die Historie
dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als
dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen.
Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie:
sofern es erlaubt ist, eine monumentalische, eine antiquarische
und eine kritische Art der Historie zu unterscheiden. (Ebd., 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166).Die Geschichte
gehört vor Allem dem Tätigen und Mächtigen, dem, der einen großen
Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen
Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag. So gehörte sie Schillern:
denn unsre Zeit ist so schlecht, sagte Goethe, daß dem Dichter im umgebenden
menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166).Mit der Rücksicht
auf den Tätigen nennt zum Beispiel Polybius die politische Historie die rechte
Vorbereitung zur Regierung eines Staates und die vorzüglichste Lehrmeisterin,
als welche durch die Erinnerung an die Unfälle Anderer uns ermahne, die Abwechslungen
des Glückes standhaft zu ertragen. Wer hierin den Sinn der Historie zu erkennen
gelernt hat, den muß es verdrießen, neugierige Reisende oder peinliche
Mikrologen auf den Pyramiden großer Vergangenheiten herumklettern zu sehen;
dort, wo er die Anreizungen zum Nachahmen und Bessermachen findet, wünscht
er nicht dem Müßiggänger zu begegnen, der, begierig nach Zerstreuung
oder Sensation, wie unter den gehäuften Bilderschätzen einer Galerie
herumstreicht. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 166).Aber Eines wird leben, das Monogramm ihres eigensten Wesens,
ein Werk, eine Tat eine seltene Erleuchtung, eine Schöpfung: es wird leben,
weil keine Nachwelt es entbehren kann. In dieser verklärtesten Form ist der
Ruhm doch etwas mehr als der köstliche Bissen unsrer Eigenliebe, wie ihn
Schopnehauer genannt hat, es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und
Kontinuität des Großen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel
der Geschlechter und die Vergänglichkeit. (Ebd., 1874, in: Werke
in drei Bänden, 1. Band, S. 168).Wodurch also nützt
dem Gegenwärtigen die monumentalische Betrachtung der Vergangenheit, die
Beschäftigung mit dem Klassischen und Seltenen früherer Zeiten? Er entnimmt
daraus, daß das Große, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich
war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird; er geht mutiger
seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt,
ob er nicht vielleicht das Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen. Nehme
man an, daß jemand glaube, es gehörten nicht mehr als hundert produktive,
in einem neuen Geiste erzogene und wirkende Menschen dazu, um der in Deutschland
gerade jetzt modisch gewordenen Gebildetheit den Garaus zu machen, wie müßte
es ihn bestärken wahrzunehmen, daß die Kultur der Renaissance sich
auf den Schultern einer solchen Hundert-Männer-Schar heraushob. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 168-169).Und
doch um an dem gleichen Beispiel sofort noch etwas Neues zu lernen
wie fließend und schwebend, wie ungenau wäre jene Vergleichung! Wieviel
des Verschiedenen muß, wenn sie jene kräftigende Wirkung tun soll,
dabei übersehen, wie gewaltsam muß die Individualität des Vergangnen
in eine allgemeine Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien
zugunsten der Übereinstimmung zerbrochen werden! (Ebd., 1874, in: Werke
in drei Bänden, 1. Band, S. 168).Im Grunde ja könnte
das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Male als möglich
einstellen, wenn die Pythagoreer recht hätten zu glauben, daß bei gleicher
Konstellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar
bis aufs Einzelne und Kleine, sich wiederholen müsse: so daß immer
wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zueinander haben, ein Stoiker sich
mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer wieder bei einem
anderen Stande Kolumbus Amerika entdecken wird. Nur wenn die Erde ihr Theaterstück
jedesmal nach dem fünften Akt von neuem anfinge, wenn es feststünde,
daß dieselbe Verknotung von Motiven, derselbe Deus ex machina, dieselbe
Katastrophe in bestimmten Zwischenräumen wiederkehrten, dürfte der Mächtige
die monumentale Historie in voller ikonischer Wahrhaftigkeit, das heißt
jedes Faktum in seiner genau geschilderten Eigentümlichkeit und Einzigkeit
begehren: wahrscheinlich also nicht eher, als bis die Astronomen wieder zu Astrologen
geworden sind. Bis dahin wird die monumentale Historie jene volle Wahrhaftigkeit
nicht brauchen können: immer wird sie das Ungleiche annähern, verallgemeinern
und endlich gleichsetzen. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 169).Jede der drei Arten von Historie, die es gibt,
ist nur gerade auf Einem Boden und unter Einem Klina in ihrem Rechte: auf jedem
anderen wächst sie zum verwüstenden Unkraut heran. Wenn der Mensch,
der Großes schaffen will, überhaupt die Vergangenheit braucht, so bemächtigt
er sich ihrer vermittelst der monumentalischen Historie; wer dagegen im
Gewohnten und Altverehrten beharren mag, pflegt das Vergangne als antiquarischer
Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige Not die Brust beklemmt, und
der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will, hat ein Bedürfnis zur
kritischen, das heißt richtenden und verurteilenden Historie.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 172).Wie
könnte die Historie dem Leben besser dienen, als dadurch, daß sie auch
die minder begünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat
und Heimatsitte anknüpft, seßhaft macht und sie abhält, nach dem
Besseren in der Fremde herumzuschweifen und um dasselbe wetteifernd zu kämpfen?
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 174).Hier
wird es deutlich, wie notwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen
Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat,
die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muß
die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen
und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß
er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt; jede Vergangenheit
aber ist wert, verurteilt zu werden, denn so steht es nun einmal mit den menschlichen
Dingen: immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen.
Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger
die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene
dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 177).»Denn
Alles, was entlsteht, ist wert, daß es zugrunde geht. Drum besser wär's,
daß nichts entstünde.« Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben
zu können und zu vergessen, inwiefern leben und ungerecht sein Eins ist.
Luther selbst hat einmal gemeint, daß die Welt nur durch eine Vergeßlichkeit
Gottes entstanden sei; wenn Gott nämlich an das »schwere Geschütz«
gedacht hätte, er würde die Welt nicht geschaffen haben. Mitunter aber
verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung
dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die
Existenz irgendeines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum
Beispiel, ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. (Ebd., 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 177-178).Dann
wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an
seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg.
Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher
Prozeß: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen,
daß sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche
und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate
früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen,
Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich
ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und
uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, daß
wir aus ihnen herstammen. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 178).Wir bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite
der ererbten, angestammten Natur und unsrer Erkenntnis, auch wohl zu einem Kampfe
einer neuen strengen Zucht gegen das von alters her Anerzogne und Angeborne, wir
pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinkt, eine zweite Natur an,
so daß die erste Natur abdorrt. Es ist ein Versuch, sich gleichsam a
posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im
Gegensatz zu der, aus der man stammt: immer ein gefährlicher Versuch, weil
es so schwer ist, eine Grenze im Verneinen des Vergangnen zu finden, und weil
die zweiten Naturen meistens schwächlicher als die ersten sind. Es bleibt
zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne es zu tun, weil man auch das
Bessere kennt, ohne es tun zu können. Aber hier und da gelingt der Sieg doch,
und es gibt sogar für die Kämpfenden, für die, welche sich der
kritischen Historie zum Leben bedienen, einen merkwürdigen Trost: nämlich
zu wissen, daß auch jene erste Natur irgendwann einmal eine zweite Natur
war und daß jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 178).Dies
sind die Dienste, welche die Historie dem Leben zu leisten vermag; jeder Mensch
und jedes Volk braucht je nach seinen Zielen, Kräften und Nöten eine
gewisse Kenntnis der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als
antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine
Schar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige,
durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntnis
das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter
der Herrschaft und obersten Führung dieses Lebens. (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179).Daß dies
die natürliche Beziehung einer Zeit, einer Kultur, eines Volkes zur Historie
ist - hervorgerufen durch Hunger, reguliert durch den Grad des Bedürfnisses,
in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft - daß die
Kenntnis der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart
begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer
lebenskräftigen Zukunft: das Alles ist einfach, wie die Wahrheit einfach
ist, und überzeugt sofort auch den, der dafür nicht erst den historischen
Beweis sich führen läßt. (Ebd., 1874, in: Werke in drei
Bänden, 1. Band, S. 179).Und nun schnell einen Blick auf
unsre Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit,
alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie
verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig flutet jetzt dies Problem vor unsren
Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden? Oder hat sich wirklich die
Konstellation von Leben und Historie verändert, dadurch daß ein mächtig
feindseliges Gestirn zwischen sie getreten ist? Mögen Andere zeigen, daß
wir falsch gesehen haben: wir wollen sagen, was wir zu sehen meinen. Es ist allerdings
ein solches Gestirn, ein leuchtendes und herrliches Gestirn dazwischengetreten,
die Konstellation ist wirklich verändert - durch die Wissenschaft, durch
die Fordernng, daß die Historie Wissenschaft sein soll. Jetzt regiert
nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit:
sondern alle Grenzpfähle sind, umgerissen und alles, was einmal war, stürzt
auf den Menschen zu. So weit zurück es ein Werden gab, soweit zurück,
ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven verschoben. Ein solche unüberschaubares
Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen
Wissens, die Historie, zeigt: freilich aber zeigt sie es mit der gefährlichen
Kühnheit ihre wahlspruches: fiat veritas pereat vita. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179-180).Der
moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen
mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln,
wie es im Märchen heißt. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 180).Der moderne Mensch leidet an einer geschwächten
Persönlichkeit. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 187).Der Wahrheit dienen Wenige in Wahrheit, weil nur
Wenige den reinen Willen haben, gerecht zu sein, und selbst von diesen wieder
die Wenigsten die Kraft, gerecht sein zu können. (Ebd., 1874, in: Werke
in drei Bänden, 1. Band, S. 195).Wie unwahrscheinlich
ist ... die Häufigkeit des historischen Talentes! (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 197).Glaubt einer
Geschichtsschreibung nicht, wenn sie nicht aus dem Haupte der seltensten Geister
herausspringt .... (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1.
Band, S. 202).Wer nicht Einiges größer und höher
erlebt hat als Alle, wird auch nichts Großes und Hohes aus der Vergangenheit
zu deuten wissen. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1.
Band, S. 202).Fragt nicht bei der Geschichte an, daß sie
euch das Wie? das Wohin? zeige. Wenn ihr euch dagegen in die Geschichte großer
Männer hineinlebt, so werdet ihr aus ihr ein oberstes Gebot lernen, reif
zu werden, und jenem lähmenden Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die
ihren Nutzen darin sieht, euch nicht reif werden zu lassen, um euch, die Unreifen,
zu beherrschen und auszubeuten. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 203).Die historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie
wirklich und in reiner Gesiinung geübt wird, ist ... eine schreckliche Tugend,
weil sie immer das Lebendige untergräbt und zu Falle bringt: ihr Richten
ist immer ein Vernichten. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 203).Eine Religion zum Beispiel, die in historisches
Wissen, unter dem Walten der reinen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine
Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende
dieses Weges zugleich vernichtet. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 204).Was man am Christentum lernen kann, daß
es unter der Wirkung einer historisierenden Behandlung blasiert und unnatürlich
geworden ist, bis endlich eine vollkommen historische ... Behandlung es in reines
Wissen um das Christentum auflöst und dadurch vernichtet, das kann man an
allem, was Leben hat, studieren; daß es aufhört zu leben, wenn es zu
Ende seziert ist und schmerzlich und krabkhaft lebt, wenn man anfängt, an
ihm die historische Sezierübungen zu machen. (Ebd., 1874, in: Werke
in drei Bänden, 1. Band, S. 205).Alles Lebendige braucht
um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese
Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt, als
Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle
Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-Werden nicht mehr wundern. So ist es nun einmal
bei allen großen Dingen, »die nie ohn' ein'gen Wahn gelingen«,
wie Hans Sachs in den Meistersingern sagt. (Ebd., 1874, in: Werke in
drei Bänden, 1. Band, S. 206).Aber selbst jedes Volk,
ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht einen solchen umhüllenden
Wahn, eine solche umschützende und umschleiernde Wolke; jetzt aber haßt
man das Reifwerden überhaupt, weil man die Historie mehr als das Leben ehrt.
Ja man triumphiert darüber, daß jetzt »die Wissenschaft anfange
über das Leben zu herrschen«: möglich, daß man das erreicht;
aber gewiß ist ein derartige beherrschtes Leben nicht viel wert, weil es
viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt
als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige
Wahnbilder beherrschte Leben. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 206).So ..., wie der junge Mensch durch die Geschichte
läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern, so hören wir Konzerte.
Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes, das wirkt anders als jenes:
dies gefühl der Befremdung immer mehr zu verlieren, über nichts mehr
übermäßig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen zu lassen
- das nennt man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 207).Die
gediegene Mittelmäßigkeit wird immer mittelmäßiger, die
Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer. (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 208-209).Schafft
euch den Begriff eines »Volkes«; den könnt ihr nie edel und hoch
genug denken. Dächtet ihr groß vom Volke, so wäret ihr auch barmherzig
gegen dasselbe und hütetet euch wohl, euer historisches Scheidewasser ihm
als Lebens- und Labetrank anzubieten. Aber ihr denkt im tiefsten Grunde von ihm
gering, weil ihr vor seiner Zukunft keine wahre und sicher gegründete Achtung
haben dürft, und ihr handelt als praktische Pessimisten, ich meine als Menschen,
die die Ahnung eines Unterganges leietet und die dadurch gegen das fremde, ja
gegen das eigne Wohl gleichgültig und läßlich werden. Wenn uns
nur die Scholle noch trägt! Und wenn sie uns nicht mehr trägt, dann
soll es auch recht sein: - so empfinden sie und leben eine ironische Existenz.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 210).Uns
ziemt jede Ungereimtheit, jener Aberglaube ..., uns, den Spätgekommenen,
den abgeblaßten letzten Sprossen mächtiger und frohmütiger Geschlechter,
und, auf die Hesiods Prophezeiung zu deuten ist, daß die Menschen einst
sogleich graubehaart geboren würden, und das Zeus dies Geschlecht vertilgen
werde, sobald jenes zeichen an ihm sichtbar geworden sei. Die historische Bildung
ist auch wirklich eine Art angeborner Grauhaarigkeit .... (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 211).Steckt nicht
... in diesem lähmenden Glauben an eine bereits abwelkende Menschheit das
Mißverständnis einer, vom Mittelalter her vererbten, christlich theologischen
Vorstellung, der Gedanke an das nahe Weltende, an das bänglich erwartete
Gericht? (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S.
212).Das Christentum ... erreicht ... doch ebenfalls sein Ziel,
wenn es sich mit der historischen Bildung, meistens sogar ohne deren Mitwissen,
verbündet und nun, aus ihr heraus redend, alles Werdende achselzuckend ablehnt
und darüber das Gefühl des gar zu Überspäten und Epigonenhaften,
kurz der angebornen Grauhaarigkeit ausbreitet. Die herbe und tiefsinnig ernste
Betrachtung über den Unwert alles Geschenen, über das Zum-Gericht-Reifsein
der Welt, hat sich zu dem skeptischen Bewußtsein verflüchtigt, daß
es jedenfalls gut sei, alles Geschehene zu wissen, weil es zu spät dafür
sei, etwas Besseres zu tun. So macht der historische Sinn seine Diener passiv
und retrospektiv .... (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 213).Ich glaube, daß es keine gefährliche
Schwankung oder Wendung der deutschen Bildung in diesem Jahrhundert gegeben hat,
die nicht durch die ungeheure, bis diesen Augenblick fortströmende Einwirkung
dieser Philosophie, der Hegelischen, gefährlicher geworden ist. Wahrhaftig,
lähmend und verstimmend ist der Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein:
furchtbar und zerstörend muß es aber erscheinen, wenn ein solcher Glaube
eines Tages mit kecker Umstülpung diesen Spätling als den wahren Sinn
und Zweck alles früher Geschehenen vergöttert, wenn sein wissendes Elend
einer Vollendung der Weltgeschichte gleichgesetzt wird. Eine solche Betrachtungsart
hat die Deutschen daran gewöhnt, vom »Weltprozeß« zu reden
und die eigne Zeit als das notwendige Resultat dieses Weltprozesses zu rechtfertigen;
eine solche Betrachtungsart hat die Geschichte an Stelle der andern geistigen
Mächte, Kunst und Religion, als einzig souverän gesetzt, insofern sie
»der sich selbst realisierende Begriff«, insofern sie »die Dialektik
der Völkergeister« und das »Weltgericht« ist. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 216).Man
hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der
Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht
wird. Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen
durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen
Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so daß
für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner
eignen Berliner Existenz zusammenfielen. Ja er hätte sagen müssen, daß
alle nach ihm kommenden Dinge eigentlich nur als eine musikalische Coda des weltgeschichtlichen
Rondos, noch eigentlicher, als überflüssig zu schätzen seien. Das
hat er nicht gesagt: dafür hat er in die von ihm durchsäuerten Generationen
jene Bewunderung vor der »Macht der Geschichte« gepflanzt, die praktisch
alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste
des Tatsächlichen führt: für welchen Dienst man sich jetzt die
sehr mythologische und außerdem recht gut deutsche Wendung »den Tatsachen
Rechnung tragen« allgemein eingeübt hat. (Ebd., 1874, in: Werke
in drei Bänden, 1. Band, S. 216-217).Wer aber erst gelernt
hat, vor der »Macht der Geschichte« den Rücken zu krümmen
und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein »Ja«
zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung
oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte,
in dem irgendeine »Macht« am Faden zieht. (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217).Enthält
jeder Erfolg in sich eine vernünftige Notwendigkeit, ist jedes Ereignis der
Sieg des Logischen oder der »Idee« - dann nur hurtig nieder auf die
Knie und nun die ganze Stufenleiter der »Erfolge« abgekniet!
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217).Was,
es gäbe keine herrschenden Mythologien mehr? Was, die Religionen wären
im Aussterben? Seht euch nur die Religion der historischen Macht an, gebt
acht auf die Priester der Ideen-Mythologie und ihre zerschundenen Knie! Sind nicht
sogar alle Tugenden im Gefolge dieses neuen Glaubens? Oder ist es nicht Selbstlosigkeit,
wenn der historische Mensch sich zum objektiven Spiegelglas ausblasen läßt?
Ist es nicht Großmut, auf alle Gewalt im Himmel und auf Erden zu verzichten,
dadurch, daß man in jeder Gewalt die Gewalt an sich anbetet? Ist es nicht
Gerechtigkeit, immer Waagschalen in den Händen zu haben und fein zuzusehen,
welche als die stärkere und schwerere sich neigt? Und welche Schule der Wohlanständigkeit
ist eine solche Betrachtung der Geschichte! (Ebd., 1874, in: Werke in
drei Bänden, 1. Band, S. 217).So wird die Geschichte zu
einem Kompendium der tatsächlichen Unmoral. Wie schwer würde sich der
irren, der die Geschichte zugleich als Richterin dieser tatsächlichen Unmoral
ansähe! Es beleidigt zum Beispiel die Moral, daß ein Raffael sechsunddreißig
Jahr alt sterben mußte: solch ein Wesen sollte nicht sterben. Wollt ihr
nun der Geschichte zu Hilfe kommen, als Apologeten des Tatsächlichen, so
werdet ihr sagen: er hat alles, was in ihm lag, ausgesprochen, er hätte,
bei längerem Leben, immer nur das Schöne als gleiches Schönes,
nicht als neues Schönes schaffen können, und dergleichen. So seid ihr
die Advokaten des Teufels, und zwar dadurch, daß ihr den Erfolg, das Faktum
zu eurem Götzen macht: während das Faktum immer dumm ist und zu allen
Zeiten einem Kalbe ähnlicher gesehen hat als einem Gotte. Als Apologeten
der Geschichte souffliert euch überdies die Ignoranz: denn nur weil ihr nicht
wißt, was eine solche natura naturans, wie Raffael, ist, macht es
euch nicht heiß, zu vernehmen, daß sie war und nicht mehr sein wird.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 218).Über
Goethe hat uns neuerdings jemand belehren wollen, daß er mit seinen 82 Jahren
sich ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des »ausgelebten«
Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufe einhandeln,
um noch einen Anteil an solchen Gesprächen zu haben, wie sie Goethe mit Eckermann
führte, und um auf diese Weise vor allen zeitgemäßen Belehrungen
durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben. Wie wenige Lebende
haben überhaupt, solchen Toten gegenüber, ein Recht zu leben! Daß
die Vielen leben und jene Wenigen nicht mehr leben, ist nichts als eine brutale
Wahrheit, das heißt eine unverbesserliche Dummheit, ein plumpes »es
ist einmal so« gegenüber der Moral »es sollte nicht so sein«.
Ja, gegenüber der Moral! (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 218).Dicht neben dem Stolze des modernen Menschen steht
seine Ironie über sich selbst, sein Bewußtsein, daß er
in einer historisierenden und gleichsam abendlichen Stimmung leben muß ....
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 219).Hier
und da geht man noch weiter, ins Zynische, und rechtfertigt den Gang der Geschichte,
ja der gesamten Weltentwicklung ganz eigentlich für den Handgebrauch des
modernen Menschen, nach dem zynischen Kanon: gerade so mußte es kommen,
wie es gerade jetzt geht, so und nicht anders mußte der Mensch werden, wie
jetzt die Menschen sind, gegen dieses Muß darf sich keiner auflehnen.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220).In
das Wohlgefühl eines derartigen Zynismus flüchtet sich der, welcher
es nicht in der Ironie aushalten kann; ihm bietet überdies das letzte Jahrzehnt
eine seiner schönsten Erfindungen zum Geschenke an, eine gerundete und volle
Phrase für jenen Zynismus: sie nennt seine Art, zeitgemäß und
ganz und gar unbedenklich zu leben, »die volle Hingabe der Persönlichkeit
an den Weltprozeß«. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 220).Die Persönlichkeit und der Weltprozeß!
Der Weltprozeß und die Persönlichkeit des Erdflohs! Wenn man nur nicht
ewig die Hyperbel aller Hyperbeln, das Wort: Welt, Welt, Welt hören müßte,
da doch Jeder, ehrlicherweise, nur von Mensch, Mensch, Mensch reden sollte! Erben
der Griechen und Römer? des Christentums? Das scheint Alles jenen Zynikern
nichts; aber Erben des Weltprozesses! Spitzen und Zielscheiben des Weltprozesses!
Sinn und Lösung aller Werde-Rätsel überhaupt, ausgedrückt
im modernen Menschen, der reifsten Frucht am Baume der Erkenntnis! - das nenne
ich ein schwellendes Hochgefühl; an diesem Wahrzeichen sind die Erstlinge
aller Zeiten zu erkennen, ob sie auch gleich zuletzt gekommen sind. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220).So
weit flog die Geschichtsbetrachtung noch nie, selbst nicht, wenn sie träumte;
denn jetzt ist die Menschengeschichte nur die Fortsetzung der Tier- und Pflanzengeschichte;
ja in den untersten Tiefen des Meeres findet der historische Universalist noch
die Spuren seiner selbst, als lebenden Schleim; den ungeheuren Weg, den der Mensch
bereits durchlaufen hat, wie ein Wunder anstaunend, schwindelt dem Blicke vor
dem noch erstaunlicheren Wunder, vor dem modernen Menschen selbst, der diesen
Weg zu übersehen vermag. Er steht hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses:
indem er oben darauf den Schlußstein seiner Erkenntnis legt, scheint er
der horchenden Natur rings umher zuzurufen: »wir sind am Ziele, wir sind
das Ziel, wir sind die vollendete Natur.« (Ebd., 1874, in: Werke
in drei Bänden, 1. Band, S. 220-221).Überstolzer
Europäer des 19. Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die
Natur, sondern tötet nur deine eigne. Miß nur einmal deine Höhe
als Wissender an deiner Tiefe als Könnender. Freilich kletterst du an den
Sonnenstrahlen des Wissens aufwärts zum Himmel, aber auch abwärts zum
Chaos. Deine Art zu gehen, nämlich als Wissender zu klettern, ist dein Verhängnis;
Grund und Boden weicht ins Ungewisse für dich zurück; für dein
Leben gibt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefäden, die jeder neue
Griff deiner Erkenntnis auseinanderreißt. - Doch darüber kein ernstes
Wort mehr, da es möglich ist, ein heiteres zu sagen. (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221).Das rasend-unbedachte
Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung in ein immer
fließendes und zerfließendes Werden, das unermüdliche Zerspinnen
und Historisieren alles Gewordenen durch den modernen Menschen, die große
Kreuzspinne im Knoten des Weltall-Netzes - das mag den Moralisten, den Künstler,
den Frommen, auch wohl den Staatsmann beschäftigen und bekümmern; uns
soll es heute einmal erheitern, dadurch, daß wir dies alles im glänzenden
Zauberspiegel eines philosophischen Parodisten sehen, in dessen Kopfe die
Zeit über sich selbst zum ironischen Bewußtsein, und zwar deutlich
»bis zur Verruchtheit« (um Goethisch zu reden), gekommen ist.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221).Hegel
hat uns einmal gelehrt, »wenn der Geist einen Ruck macht, da sind wir Philosophen
auch dabei«: unsre Zeit machte einen Ruck, zur Selbstironie, und siehe!
da war auch E. von Hartmann dabei und hatte seine berühmte Philosophie
des Unbewußten - oder um deutlicher zu reden - seine Philosophie der
unbewußten Ironie geschrieben. Selten haben wir eine lustigere Erfindung
und eine mehr philosophische Schelmerei gelesen als die Hartmanns; wer durch ihn
nicht über das Werden aufgeklärt, ja innerlich aufgeräumt
wird, ist wirklich reif zum Gewesensein. (Ebd., 1874, in: Werke in drei
Bänden, 1. Band, S. 221).Anfang und Ziel des Weltprozesses,
vom ersten Stutzen des Bewußtseins bis zum Zurückgeschleudert-Werden
ins Nichts, samt der genau bestimmten Aufgabe unsrer Generation für den Weltprozeß,
alles dargestellt aus dem so witzig erfundenen Inspirations-Borne des Unbewußten
und im apokalyptischen Lichte leuchtend, alles so täuschend und zu so biederem
Ernste nachgemacht, als ob es wirkliche Ernst-Philosophie und nicht nur Spaß-Philosophie
wäre. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S.
221-222).Ein solches Ganze stellt seinen Schöpfer als einen
der ersten philosophischen Parodisten aller Zeiten hin: opfern wir also auf seinem
Altar, opfern wir ihm, dem Erfmder einer wahren Universal-Medizin, eine Locke
- um einen Schleiermacherischen Bewunderungs-Ausdruck zu stehlen. Denn welche
Medizin wäre heilsamer gegen das Übermaß historischer Bildung
als Hartmanns Parodie aller Welthistorie ? (Ebd., 1874, in: Werke in
drei Bänden, 1. Band, S. 222).Wollte man recht trocken
heraussagen, was Hartmann von dem umrauchten Dreifuße der unbewußten
Ironie her uns verkündet, so wäre zu sagen: er verkündet uns, daß
unsre Zeit nur gerade so sein müsse, wie sie ist, wenn die Menschheit dieses
Dasein einmal ernstlich satt bekommen soll: was wir von Herzen glauben. Jene erschreckende
Verknöcherung der Zeit, jenes unruhige Klappern mit den Knochen - wie es
uns David Strauß naiv als schönste Tatsächlichkeit geschildert
hat - wird bei Hartmann nicht nur von hinten, ex causis efficientibus,
sondern sogar von vorne, ex causa finali, gerechtfertigt; von dem jüngsten
Tage her läßt der Schalk das Licht über unsre Zeit strahlen, und
da findet sich, daß sie sehr gut ist, nämlich für den, der möglichst
stark an Unverdaulichkeit des Lebens leiden will und jenen jüngsten Tag nicht
rasch genug heranwünschen kann. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 222).Zwar nennt Hartmann das Lebensalter, dem die Menschheit
sich jetzt nähert, das »Mannesalter«: das ist aber, nach seiner
Schilderung, der beglückte Zustand, wo es nur noch »gediegene Mittelmäßigkeit«
gibt und die Kunst das ist, was »dem Berliner Börsenmanne etwa abends
die Posse« ist, wo »die Genies kein Bedürfnis der Zeit mehr sind,
weil es hieße, die Perlen vor die Säue werfen, oder auch weil die Zeit
über das Stadium, welchem Genies gebührten, zu einem wichtigeren fortgeschritten
ist«, zu jenem Stadium der sozialen Entwicklung nämlich, in dem jeder
Arbeiter »bei einer Arbeitszeit, die ihm für seine intellektuelle Ausbildung
genügende Muße läßt, ein komfortables Dasein führe«.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222-223).Schalk
aller Schalke, du sprichst das Sehnen der jetzigen Menschheit aus: du weißt
aber gleichfalls, was für ein Gespenst am Ende dieses Mannesalters der Menschheit,
als Resultat jener intellektuellen Ausbildung zur gediegenen Mittelmäßigkeit,
stehen wird - der Ekel. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 223).Sichtbar steht es ganz erbärmlich, es wird
aber noch viel erbärmlicher kommen, »sichtbar greift der Antichrist
weiter und weiter um sich« - aber es muß so stehen, es muß so
kommen, denn mit dem Allen sind wir auf dem besten Wege - zum Ekel an allem Daseienden.
»Darum rüstig vorwärts im Weltprozeß als Arbeiter im Weinberge
des Herrn, denn der Prozeß allein ist es, der zur Erlösung führen
kann!« (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 223).Der Weinberg des Herrn! Der Prozeß! Zur Erlösung!
Wer sieht und hört hier nicht die historische Bildung, die nur das Wort »werden«
kennt, wie sie sich zur parodischen Mißgestalt absichtlich vermummt, wie
sie durch die vorgehaltne groteske Fratze die mutwilligsten Dinge über sich
selbst sagt! Denn was verlangt eigentlich dieser letzte schalkische Anruf der
Arbeiter im Weinberge von diesen? In welcher Arbeit sollen sie rüstig vorwärtsstreben?
Oder um anders zu fragen: was hat der historisch Gebildete, der im Flusse des
Werdens schwimmende und ertrunkene moderne Fanatiker des Prozesses noch übrig
zu tun, um einmal jenen Ekel, die köstliche Traube jenes Weinberges, einzuernten?
-Er hat nichts zu tun als fortzuleben, wie er gelebt hat, fortzulieben, was er
geliebt hat, fortzuhassen, was er gehaßt hat und die Zeitungen fortzulesen,
die er gelesen hat; für ihn gibt es nur Eine Sünde - anders zu leben,
als er gelebt hat. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1.
Band, S. 223).Es oll dem Verfasser der Philosophie des Unbewußten
stets zum Lobe nachgesagt werden, daß es ihm zuerst gelungen ist, das Lächerliche
in der Vorstellung des »Weltprozesses« scharf zu empfinden und durch
den sonderlichen Ernst seiner Darstellung noch schärfer nachempfinden zu
lassen. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 227-228).Wie,
die Statistik bewiese, daß es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze?
Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung
der Schwerkräfte Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen?
Nun, wir wollen es zugeben, aber damit steht dann auch der Satz fest: soweit es
Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte
nichts wert. Gerade diejenige Art der Historie ist aber jetzt allgemein in Schätzung,
welche die großen Massenbetriebe als das Wichtige und Hauptsächliche
in der Geschichte nimmt und alle großen Männer nur als den deutlichsten
Ausdruck, gleichsam als die sichtbar werdenden Bläschen auf der Wasserflut
betrachtet. Da soll die Masse aus sich heraus das Große, das Chaos also
aus sich heraus die Ordnung gebären; am Ende wird dann natürlich der
Hymnus auf die gebärende Masse angestimmt. »Groß« wird
dann alles das genannt, was eine längere Zeit eine solche Masse bewegt hat
und, wie man sagt, »eine historische Macht« gewesen ist. Heißt
das aber nicht recht absichtlich Quantität und Qualität verwechseln?
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 228).Wenn
die plumpe Masse irgendeinen Gedanken, zum Beispiel einen Religionsgedanken, recht
adäquat gefunden hat, ihn zäh verteidigt und durch Jahrhunderte fortschleppt:
so soll dann, und gerade dann erst, der Finder und Gründer jenes Gedankens
groß sein. Warum doch! Das Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf
die Massen; der historische Erfolg des Christentums, seine historische Macht,
Zähigkeit und Zeitdauer, alles das beweist glücklicherweise nichts in
betreff der Größe seines Gründers, da es im Grunde gegen ihn beweisen
würde: aber zwischen ihm und jenem historischen Erfolge liegt eine sehr irdische
und dunkle Schicht von Leidenschaft, Irrtum, Gier nach Macht und Ehre, von fortwirkenden
Kräften des imperium romanum, eine Schicht, aus der das Christentum
jenen Erdgeschmack und Erdenrest bekommen hat, der ihm die Fortdauer in dieser
Welt ermöglichte und gleichsam seine Haltbarkeit gab. (Ebd., 1874,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 228-229).Die
reinsten und wahrhaftigsten Anhänger des Christentums haben seinen weltlichen
Erfolg, seine sogenannte »historische Macht« immer eher in Frage gestellt
und gehemmt; denn sie pflegen sich außerhalb »der Welt« zu stellen
.... (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 229).Ich
vertraue der Jugend, daß sie mich recht geführt hat, wenn sie
mich jetzt zu einem Proteste gegen die historische Jugenderziehung des modernen
Menschen nötigt, und wenn der Protestierende fordert, daß der Mensch
vor allem zu leben lerne und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie
gebrauche. Man muß jung sein, um diesen Protest zu verstehen, ja man kann,
bei der zeitigen Grauhaarigkeit unsrer jetzigen Jugend, kaum jung genug sein,
um noch zu spüren, wogegen hier eigentlich protestiert wird. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 232-233).Ja
als ob man so als flüchtiger Spaziergänger in der Historie den Vergangenheiten
ihre Griffe und Künste, ihren eigentlichen Lebensertrag absehen könnte!
Ja also ob das Leben selbst nicht ein Handwerk wäre, das aus dem grunde und
stätig gelernt und ohne Schonung geübt werden muß, wenn es nicht
Stümper und Schwätzer auskriechen lassen soll! (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 235).Das Übermaß
von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht
mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.
(Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 237).Die
Gegenmittel gegen das Historische heißen - das Unhistorische und das
Überhistorische. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 237).Soll nun das Leben über das Erkennen, über
die Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herrschen? Welche
von beiden ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben
ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welche das Leben
vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben. (Ebd., 1874, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 238).Und wie kommen
wir zu jenem Ziele? werdet ihr fragen. Der Delphische Gott ruft euch, gleich am
Anfang eurer Wanderung nach jenem Ziele, seinen Spruch entgegen: »Erkenne
dich selbst.« Es sit ein schwerer Spruch: denn jener Gott »verbirgt
nicht und verkündet nicht, sondern zeigt nur hin«, wie Heraklit gesagt
hat. Worauf weist er euch hin? (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 240-241).Es gab Jahrhunderte, in denen die Griechen
in einer ähnlichen Gefahr sich befanden, in der wir uns befmden, nämlich
an der Überschwemmung durch das Fremde und Vergangne, an der »Historie«
zugrunde zu gehen. Niemals haben sie in stolzer Unberührbarkeit gelebt: ihre
»Bildung« war vielmehr lange Zeit ein Chaos von ausländischen,
semitischen, babylonischen, lydischen, ägyptischen Formen und Begriffen,
und ihre Religion ein wahrer Götterkampf des ganzen Orients: ähnlich
etwa wie jetzt die »deutsche Bildung« und Religion ein in sich kämpfendes
Chaos des gesamten Auslandes, der gesamten Vorzeit ist. Und trotzdem wurde die
hellenische Kultur kein Aggregat, dank jenem apollinischen Spruche. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241).Die
Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisieren, dadurch, daß
sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heißt auf ihre
ächten Bedürfnisse zurückbesannen und die Schein-Bedürfnisse
absterben ließen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz; sie blieben nicht
lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen Orients; sie wurden
selbst, nach beschwerlichem Kampfe mit sich selbst, durch die praktische Auslegung
jenes Spruches, die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes
und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Kulturvölker. (Ebd.,
1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241).Dies
ist ein Gleichnis für jeden Einzelnen von uns: er muß das Chaos in
sich organisieren, dadurch, daß er sich auf seine echten Bedürfnisse
zurückbesinnt. Seine Ehrlichkeit, sein tüchtiger und wahrhaftiger Charakter
muß sich irgendwann einmal dagegen sträuben, daß inmmer nur nachgesprochen,
nachgelernt, nachgeahmt werde; er beginnt dann zu begreifen, daß Kultur
noch etwas Anderes sein kann als Dekoration des Lebens, das heißt im Grunde
doch immer nur Verstellung und Verhüllung; denn aller Schmuck versteckt das
Geschmückte. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1.
Band, S. 241).So entschleiert sich ihm der griechische Begriff
der Kultur -im Gegensatze zu dem romanischen - der Begriff der Kultur als einer
neuen und verbesserten Physis, ohne innen und außen, ohne Verstellung und
Konvention, der Kultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen
und Wollen. So lernt er aus seiner eignen Erfahrung, daß es die höhere
Kraft der sittlichen Natur war, durch die den Griechen der Sieg über alle
andren Kulturen gelungen ist, und daß jede Vermehrung der Wahrhaftigkeit
auch eine vorbereitende Förderung der wahren Bildung sein muß; mag
diese Wahrhaftigkeit auch gelegentlich der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit
ernstlich schaden, mag sie selbst einer ganzen dekorativen Kultur zum Falle verhelfen
können. (Ebd., 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 241-242). |