Kulturrevolution von rechts (1985)
Ich
nenne hier - aus reiner Konvention - die Haltung rechts, die darin besteht, die
Vielgestaltigkeit der Welt und folglich die relativen Ungleichheiten, die ihr
notwendiges Ergebnis sind, als ein Gut und die fortschreitende Vereinheitlichung
der Welt, die durch den Diskurs der egalitären Ideologie der seit zweitausend
Jahren gepredigt und verwirklicht wird, als ein Übel anzusehen. (Ebd.,
1985, S. 14).Es gibt zahlreiche Ungleichheiten, die ganz
und gar ungerecht sind. .... Ich billige keinerlei Kastenprivileg. Ich mache die
Chancengleichheit zu einer Forderung jeder Sozialpolitik. Ohnehin heißt
eine antiegalitäre Lebensauffassung zu vertreten nicht, die oft verabscheuungswürdigen
Ungleichheiten verstärken zu wollen .... (Ebd., 1985, S. 15).Ich
sehe rechts wie links Ideen, die dem entsprechen, was ich denke .... Die Wörter
sind schließlich nicht die Dinge selbst. (Ebd., 1985, S. 27).Im
einen Fall ist die Menschheit die Summe aller Individuen, in jedem besonderen
menschlichen Wesen gleichermaßen repräsentiert: man ist zunächst
'Mensch' und erst in zweiter Linie, wie zufällig, Angehöriger einer
bestimmten Kultur oder eines bestimmten Volkes. Im anderen Fall ist die Menschheit
nur die Gesamtheit der Kulturen und Volksgemeinschaften: das Individuum ist lediglich
bestimmt durch seine organische Zugehörigkeit zu ihr. .... Der Einzelmensch
besteht nach unserer Auffassung nur in Verbindung mit den Gemeinschaften, in die
er eingeschlossen ist (und bezüglich deren er sich als Einzelwesen abhebt).
Jede individuelle Tätigkeit stellt einen Akt der Teilnahme am Leben eines
Volkes dar. Dem Interesse des Einzelnen kommt, »an sich« keine Wertschätzung
zu. (Ebd., 1985, S. 133).
Die Religion der Menschenrechte. (in: Mut zur Identität -
Alternativen zum Prinzip der Gleichheit, Hrsg.: Pierre Krebs;
1988)
ä
EinleitungUm
die abstrakten Rechte eines Menschen an sich wissen wir aber nichts - und können
auch nichts wissen. Der »universale« Mensch existiert nicht.
(Ebd., 1988, S. 44).Was allerdings existiert, ist eine zoologische
Einheit des Menschengeschlechts; im strengen Sinne macht die Art Mensch die »Menschheit«aus.
Ein solcher Begriff hat aber eine rein biologische Bedeutung. Nun glauben wir
nicht, daß der Mensch sein Wesen aufgrund seiner biologischen Merkmale bestimmen
kann. Wir sind vielmehr der Ansicht, daß das Spezifische am Menschen, d.
h. was den Menschen-als-Menschen gründet und ausmacht, aus der Kultur und
der Geschichte hervorgeht. (Ebd., 1988, S. 44-45).Auf kultureller
Ebene gibt es aber kein Muster für die gesamte Menschheit. Historisch gesehen
entfalten sich die Kulturen immer in der Mehrzahl. In einem kulturellen rein menschlichen
Sinne von »Menschheit« zu sprechen heißt nichts anderes, als
die Kultur zur Natur zurückzuführen, als die Geschichte auf die Biologie
zu reduzieren. Es ist durchaus bemerkenswert, daß die Anhänger der
Ideologie der Menschenrechte gerade in diesen »biologischen Reduktionismus«
verfallen, indem sie ein moralisches Gebot aus einem Umstand folgern, der nur
mit Zoologie zu tun hat. (Ebd., 1988, S. 45).Es gibt ebensowenig
»ewige Ideen« wie das »Gute« oder das »Wahre«
an sich. (Ebd., 1988, S. 46).Wir ... möchten ... daran
erinnern, daß der Mensch ... keine andere Natur hat als die Kultur, kraft
deren er sich selbst aufbaut. Wird der Mensch allein, in abstracto, außerhalb
jeglicher Gelegenheit, sich in Form zu setzen, aufgefaßt, so ist er weder
gut noch böse. Nur der durch die historischen Institutionen und Verwirklichungen
in Form gesetzte Mensch existiert als Mensch. (Ebd., 1988, S. 47).Wie
Max Weber es nachwies, ist das »Naturrecht« grundsätzlich revolutionär,
denn die gesellschaftliche Ordnung wird immer in seinem Namen in Frage gestellt,
und zwar dadurch, daß eine vermeintliche Legitimität einer feststehenden
Legalität entgegengehalten wird. (Vgl. Max Weber, Rechtssoziologie,
S. 266). (Ebd., 1988, S. 48).Die
Ideologie der Menschenrechte ist nicht nur unfähig, die individuellen Freiheiten
bei den anderen zum Erstarken zu bringen; sie trägt auch dazu bei, daß
die zivilen Freiheiten bei uns verkümmern. Indem sie die Rechte des abstrakten
Einzelnen über die konkreten Zugehörigkeiten stellt, neigt die Ideologie
der Menschenrechte ebenso wie der Liberalismus dazu, im Namen einer fortwährenden
Gegenwart die Vergangenheit wegzuradieren und die Zukunft zurückzusetzen.
(Ebd., 1988, S. 48-49).Als profane Übertragung
der mosaischen Gesetze und der noachidischen Gebote kann die Ideologie der Menschenrechte
eigentlich nur eine Reduzierung oder eine Homogenisierung bewirken (und wahrscheinlich
auch bezwecken). »Jene vereinheitlichende Funktion des Dekalogs gegenüber
dem Volk Moses«, schreibt Ghislaine R. Cassin ferner, »soll die Allgemeine
Erklärung diesmal gegenüber der gesamten Menschheit ausüben.«
(Ghislaine R. Cassin, in: LAction gaulliste, 30.04.1980). Zu diesem Zweck
gilt es, auf die Rechte des Menschen an sich hinzuweisen, und zwar gegen die konkreten
Rechte der konkreten Menschen innerhalb ihrer konkreten Gemeinschaften. Der Mensch,
den die Ideologie der Menschenrechte beschützt, ist ein nicht-bodenständiger.
Er hat kein Erbe und keine Zugehörigkeit - oder er will beide zerstören.
Dieser Mensch möchte gern, daß die anderen ebenfalls ungebunden werden.
Er würde gern zusehen, wie sie ihr eigenes Erbe abtreten und zu Nachtwandlern
werden. Dieses Schreckgespenst berührt uns aber nicht. (Ebd., 1988,
S. 49).ä
Von der Freiheit zur SchreckensherrschaftEs
besteht ... ein großer Unterschied »zwischen den tatsächlichen
Freiheiten, die als Privilegien erfochten wurden, und der prinzipiellen, als Recht
geforderten Freiheit.« Auch Edmund Burke hält der Ideologie der Menschenrechte
ihr potentiell antidemokratisches Wesen vor und äußert die Überzeugung,
daß sie die Freiheiten des Volkes gefährdet zugunsten der als »metaphysischer
Entität« aufgefaßten Freiheit, die auf einer falschen Auffassung
von »Natur« und »Vernunft« beruht und den Arm des erstbesten
Tyrannen stärken kann. »Hat man ein Recht auf alles«, schreibt
er, »so vergißt man alles.« Er fügt hinzu: »Der Zwang
gehört ebensowie die Freiheit zum Recht der Menschen .... Alle vermeintlichen
Rechte jener Theoretiker sind extrem; und so wahr sie metaphysisch auch sein mögen,
so falsch sind sie moralisch und politisch.« (Ebd., 1988, S. 50).Damit
stellen wir erneut fest, wie die widersprüchlichsten Absolutheiten zueinander
stoßen können. Indem die Ideologie der Menschenrechte Recht und Freiheit
auf Universalien, auf eine »abstrakte Vollkommenheit« gründet,
untergräbt sie die Freiheiten und die konkreten Rechte der Individuen und
Gemeinschaften. Indem sie verschiedene Quellen des Rechts homogenisiert, d.h.
vermischt, schafft sie die (für moderne Gewaltherrschaften günstigen)
Voraussetzungen zu einer ständigen Aufhebung der besonderen, differenzierten
Rechte im Namen eines »Universal- und Naturrechts«. (Ebd., 1988,
S. 50).Was bedeutet Freiheit für die Anhänger der Menschenrechte?
Blandine Barret-Kriegel antwortet: Es ist »die Zerstörung aller Disziplin.«
Deutlicher geht es nicht. In diesem Sinne wird die Freiheit als ein Naturzustand
des Menschen wahrgenommen, der u.a. der Gesellschaft, der Regierungsherrschaft,
der sozialen Ordnung entfremdet ist. Es ist eine »unbegrenzte Freiheit«,
die dem eigentlichen Wesen des Menschen bei Rousseau entspricht; eine Freiheit,
die den Menschen aufgrund ihres individuellen, als souverän aufgefaßten
Willens rechtmäßig innewohnt (souverän, sofern er mit einer absoluten
Souveränität verwandt ist, die vor der Gesellschaft bestanden hat.)
Diese Freiheit muß von der Regierungsmacht als eine axiomatische (unanzweifelbare)
Freiheit, als eine Berechtigung anerkannt werden. Da sie einer »Befreiung«
gleichkommt, führt sie zur Verwerfung der Zugehörigkeit und der Disziplin.
Sie arbeitet der Notwendigkeit entgegen; sie bedeutet Erlösung von der Notwendigkeit.
»Frei« ist das Individuum, dem das Recht zuerkannt wurde, sich von
jedem Zwang zu befreien - das Individuum, dessen individuelles, angeborenes Recht
über das aus einer geschichtlichen Tat hervorgehende kollektive Recht gestellt
wurde. Die Auffassung der Freiheit, der wir uns anschließen, ist eine ganz
andere. In dieser Auffassung »gibt es keine allgemeine abstrakte Freiheit,
sondern Freiheiten, die dem eigentlichen Wesen des Menschen gemäß zum
Ausdruck kommen.« (Julius Evola). Ein freier Wille existiert nämlich
nicht im Abstrakten; es gibt nur Willen, die von Kräften getrieben und mit
Projekten verknüpft werden. Der Freiheitsbegriff ist kein philosophischer
oder moralischer, sondern ein praktischer und politischer. Die Freiheit ist dem
Menschen nicht präexistent, wie ein metaphysisches Recht, das er sozusagen
im Wasserzeichen seiner »Person« besäße. Sie muß
vielmehr erobert werden. Sie hat keine »spontanen Nutznießer«,
sondern nur Stifter und Bürgen. Frei wird niemand geboren, aber manche werden
es. Die Freiheit geht nämlich aus der Unternehmung hervor, sie einzuführen
oder zu erobern. Eine solche Unternehmung können sowohl Individuen als auch
Gemeinschaften geplant haben. Innerhalb der Gesellschaft muß eine eroberte
Freiheit vom Staat gewährleistet werden - gegen eine staatsbürgerliche
Verpflichtung seitens der Gesellschaftsmitglieder. Die Freiheit an sich«
ist nicht in der gesellschaftspolitischen Ordnung zu beobachten. Zu beobachten
ist lediglich ein Netz von bestimmten Rechten und Pflichten, die einer Tradition
entstammen und deren Gewähr weniger in Prinzipien als in dem Vorhandensein
einer wirklichen politischen Kraft enthalten ist. Die politische Freiheit, schreibt
Julien Freund, »eben weil sie politisch ist, kann sich den Voraussetzungen
des Politischen nicht entziehen .... Mit anderen Worten: die politische Freiheit
ist nicht nur im Staat, aber man braucht einen Staat, damit sie sich äußern
kann.« (Ebd., 1988, S. 50-51).»Freiheit«,
schreibt der Dichter Rudolf G. Binding, »ist die freiwillige Einfügung
oder Einordnung in eine höchste unter Menschen geltende Ordnung. Anders wäre
Freiheit Unordnung und Anarchie. Fühle, daß sie das nicht sein kann.
Wir leben unter dem Gewölbe der Freiheit wie unter einem weit gespannten
Himmel, der über uns steht; aber wir ständen im Leeren und entfielen
allen menschlichen hohen Gesetzen und Rechten, wenn wir den Himmel durchstießen.«
(Rudolf G. Binding, Von Freiheit und Vaterland). (Ebd., 1988, S.
51-52).In Sachen Freiheit haben die Erben der europäischen
Kultur übrigens von niemandem etwas zu lernen. Der Begriff der politischen
Freiheit entstand im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Athen. Bei den
Kelten und den Germanen nahm das gesamte Volk an den politischen Entscheidungen
teil. (Dort wurde auch die Frau immer als Person angesehen.) Die konkreten Freiheiten
entstanden in Rom aus dem System der gegenseitigen Leistungen, innerhalb dessen
Verpflichtungen und erhaltene Dienste sich die Waage hielten. Und nicht zu Unrecht
rühmte Montesquieu - bei seinem Vergleich zwischen den alten europäischen
Demokratien und den orientalischen Despotismen - gerade jene aus dem Norden stammenden
»tapferen Völker, die aus ihrem Land ausziehen, um Tyrannen und Sklaven
zu vernichten.« (Charles-Louis de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze,
1748, 17, 5). Wir könnten sogar der Frage nachgehen, ob die öffentlichen
Freiheiten wegen dieses Erbes, dieser Tradition der gemeinschaftlichen Freiheiten,
heutzutage noch (relativ) besser in Nordeuropa geschützt sind als in den
südlichen Ländern. (Ebd., 1988, S. 52).Denn die
Freiheit besteht ja eigentlich in der Unabhängigkeit« und »Autonomie«.
Die »Befreiung« und die »Emanzipierung«, werden sie einmal
von der Unabhängigkeit und der Autonomie getrennt aufgefaßt, haben
nichts mehr mit dem Kampf um Freiheiten, sondern nur noch mit Kulturpathologie
zu tun. Sich von seinen Zugehörigkeiten »emanzipieren« zu wollen
heißt, sich selbst vernichten und verleugnen. Keine Gesellschaft darf zulassen,
daß in ihr im Namen der »Freiheit« sich Mitglieder absondern
und sie zerstören. (Ebd., 1988, S. 53).Abgesehen davon,
daß die Behauptung eines solchen Rechts auf »Emanzipation« den
Individuen keineswegs mehr an realer Freiheit einbringt, ist sie auch dazu geeignet,
die schlimmsten Gewaltherrschaften zu nähren. Wenn die Freiheit nur eine
zurückzuerobernde »Natur« ist, kann diese Zurückeroberung
als ein entferntes Ziel hingestellt werden, dessen Zielsetzung die sofortige Negierung
der konkreten Freiheiten rechtfertigt. Die Revolution von 1789 mündete somit
durchaus folgerichtig in die Schreckensherrschaft von 1793. ... Die Erhöhung
einer abstrakten Freiheit führt immer zur Negierung der konkreten Freiheiten,
so wie die Erhöhung des »Menschen an sich« immer auf Kosten der
Einzelnen geschieht. Das »Universalrecht« ist der allerschlimmste
Feind der Privatrechte. (Ebd., 1988, S. 53).ä
Die Kulturen sind in GefahrDer
mit dem Monotheismus zusammenhängende Monohumanismus führt logischerweise
zu jener besonderen Erscheinungsform des Rassismus, die auf dem Ethnozentrismus
gründet. Zu behaupten, daß es grundsätzlich nur »einen«
Menschen gebe, heißt letzten Endes nämlich alle Menschen nach denselben
Kriterien beurteilen, sie durch das gleiche Sieb schütten. Völlig objektive
Kriterien kann es allerdings nicht geben - umso weniger, als es auf kultureller
und geschichtlicher Ebene kein Muster für die gesamte Menschheit gibt. Die
Menschen als gleich, die Kulturen als zusammengehörig zu betrachten, ihnen
die gleichen Bestrebungen und Rechte zuzuschreiben heißt, sie immer von
einem einzelnen Standpunkt aus betrachten, dem gegenüber sie nicht gleich
sein können. »Für den Durchschnittsmenschen«, schreibt Edmund
Leach, »bezeichnet der Begriff Mensch »unseresgleichen, Leute unseres
Schlages«, und oft ist der Anwendungsbereich einer solchen Kategorie äußerst
begrenzt. Daraus folgern wir, daß es eine effektive Menschengesellschaft,
innerhalb deren alle Individuen, selbst nur annähernd und in irgendeinem
Sinne, untereinander gleich sind, nie gab und nie geben wird - außer daß
sie winzigen Ausmaßes wäre.« (Edmund Leach, a.a.O., 1960, S.
365). Mit anderen Worten, der Egalitarismus besteht darin, alle Menschen als gleich
zu betrachten, »unter der Bedingung allerdings, daß sie meine moralischen
Werte akzeptieren.« (Ebd., 1960, S. 382). (Ebd., 1988, S. 53-54).Und
Leach schließt mit den Worten: »Möglicherweise wird eine künftige
Generation aufdecken, was der verheerende Trugschluß unserer Zeit war: nachdem
wir mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Methoden entdeckt hatten, daß
der Mensch als zoologische Art tatsächlich einzig ist, waren wir - mit Zwang
und politischer Propaganda - bestrebt, dem Menschen als Kulturwesen und moralischer
Person eine ähnliche Einheitsbedeutung aufzuerlegen, die dem eigentlichen
Wesen unserer menschlichen Natur widerspricht.« (Ebd., 1960, S. 388).
(Ebd., 1988, S. 54).Die Ideologie der Menschenrechte liefert das
beste Beispiel für diesen »okzidental-biblischen« Ethnozentrismus.
An der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« fällt
nämlich am meisten auf, daß sich das »Allgemeine« auf ihre
Anmaßung, es zu werden, beschränkt. In den Werten einer besonderen
Religion, dem jüdisch-christlichen Monotheismus, gründend, ist sie nach
den Worten Marcel Boisards »ein Synthese-Kompromiß zwischen dem westlichen
Liberalismus, der gegenüber der Gesellschaft abstrakte Persönlichkeitsrechte
definiert, und dem Marxismus, der das Individuum durch die Bindung an die Sozialgruppe
zu schützen trachtet.« (Marcel Boisard, a.a.O., 1980). Ebenso bemerkenswert
ist übrigens, daß kein einziger Vertreter der Dritten Welt in der achtköpfigen
Kommission zu finden war, die mit der Ausarbeitung dieser Allgemeinen Erklärung
beauftragt worden war. (Ebd., 1988, S. 54).Gibt
es etwa auf der ganzen Erde nur eine Einheitskultur, deren Modell überall
durch ein nach westlichen Kriterien zivilisiertes« Schulsystem gelehrt werden
müßte? Besteht nicht in manchen Kulturen auch eine traditionelle Schulung,
die außerhalb der Schule geschieht? Der Westen versucht, der ganzen Menschheit
eine einheitliche Form des Unterrichts und der Wissensübertragung, folglich
auch eine einheitliche Kultur und Weltanschauung aufzuzwingen. Was ist andererseits
unter »Sklaverei« zu verstehen? Nach Auffassung der Ideologie der
Menschenrechte hört die Sklaverei auf, sobald die Arbeit mit Geld entlohnt
wird. Würde aber nicht die Einfuhr einer billigen fremdländischen Arbeitskraft
nach Europa - aus der Sicht eines Irokesen zum Beispiel - als neue Form der Sklaverei
erscheinen? Und überhaupt: Hat die westliche Welt nicht etwa neue Formen
der »Sklaverei« und der kollektiven Unterdrückung geschaffen,
und zwar durch den wirtschaftlichen Imperialismus, die kulturelle Beherrschung
und die »Diktatur der Medien«? (Ebd., 1988, S. 55).Auf
diese Weise erkennen wir die Gefahr, welche die »universalen« Prinzipien
in sich bergen. Sie schließen nämlich in juristischen Bezeichnungen
sowie in typisch okzidentalischen Vorstellungen Begriffe ein, die von jeder Kultur
unterschiedlich wahrgenommen werden. Mit der gesamten christlichen, dann rationalistischen
Philosophie ... münden sie in dieselbe Illusion ein: sie geben vor, eine
juristische und philosophische Sprache für den ganzen Planeten freizulegen.
Sie wollen einen einzigen Signifikanten (Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens)
für alle Signifikate (Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens) finden.
(Ebd., 1988, S. 55).Diese Verfahrensweise stößt auf
allerlei Hindernisse. Die islamischen Länder zum Beispiel weigern sich, die
1962 verabschiedete Konvention über die freie Partnerwahl, das Heiratsmindestalter
und die Registrierung der Eheschließung zu unterzeichnen. In dem bereits
erwähnten Artikel geht Marcel Boisard übrigens der Frage nach, ob es
eine typische islamische Auffassung der Menschenrechte gebe. Er stellt insbesondere
fest, daß in den Ländern islamischer Kultur »die Pflicht des
Individuums vor seinem Recht geht. Die soziale Qualität in höchstem
Grad ist eher kollektiv als interindividuell. Jener traditionelle Gegensatz, den
die abendländische Philosophie zwischen persönlichem Vorteil und Gemeingut
aufstellte, ist im islamischen sozialen Denken somit theoretisch nicht anzutreffen.«
»Da Welt, Gesellschaft und Individuum alle, auf verschiedenen Ebenen, moralische
Gebote darstellen, besteht das höchste Wohl folglich in der harmonischen
Anpassung an diese Gebote.« Die »Rechte Gottes« durch die Menschenrechte
ersetzen zu wollen kann dem Islam nur widersinnig vorkommen. Der Artikel 29 der
»Allgemeinen Erklärung« von 1948, der einzige übrigens,
in dem es um die Pflichten des Individuums gegenüber der Gemeinschaft geht,
erscheint in juristischer Hinsicht besonders widersprüchlich und verworren
(**).
Der Rechtsphilosoph John Finnis beurteilt ihn als »unklar« und »vieldeutig«.
Um welche Gemeinschaft« handelt es sich eigentlich? Um die Familie, die
Nation, die Firma, den Stamm? Die Erklärung hält anscheinend für
eine Tatsache (oder für wünschenswert), daß alle Menschen in einer
gleichartigen Sozialgruppe leben, die nach westlichem Vorbild rationell und juristisch
organisiert ist. Zu den im besagten Artikel erwähnten »Pflichten«
gehört die Berücksichtigung »der Moral, öffentlichen Ordnung
und allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft«. Die Rechte
und Pflichten, die mit der wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Unabhängigkeit
der Nationalgruppen zusammenhängen, werden dagegen in keiner Weise erwähnt.
(Ebd., 1988, S. 55-56).Es gilt lediglich das »demokratisch«-liberal-kapitalistische
Modell, das auf dem westlichen Universalismus und dem bürgerlichen Individualismus
gründet, in Achtung zu bringen. Was können aber außerhalb jeder
kulturellen Norm die Begriffe »Moral« und »öffentliche
Ordnung« überhaupt bedeuten? Letzterer Ausdruck hat nicht einmal die
gleiche Bedeutung im Englischen wie im Französischen! Der Versuch, für
die gesamte Menschheit die psychischen Normen der allgemeinen Wohlfahrt«
(general welfare) nach dem Hedonismus Benthams zu bestimmen, kann auf juristischer
Ebene ebensowenig ernstgenommen werden. (Ebd., 1988, S. 56).Indem
sie das Schwinden der ethisch-kulturellen Eigentümlichkeiten legitimiert,
bekräftigt die Ideologie der Menschenrechte die Erhöhung des Lebensniveaus
- die jedem »gebührt« - als allgemeingültiges Ideal und
wesentliches »Erfolgs«-Kriterium für die einzelnen Staatsformen.
In diesem Sinne ist beispielsweise der 1966 geschlossene »Pakt über
wirtschaftliche und soziale Rechte« zu verstehen. Ein solches durchaus antihistorisches
Ideal ist nichts anderes, wie Jürgen Habermas es treuherzig formulierte,
als eine Perspektive auf Ruhe und Befriedigung im Leben. Es steht aber keineswegs
fest, ob diese Aussicht dem Wunsch aller Menschengruppen entspricht oder entsprechen
muß. Das Glück hat nämlich nicht nur mit Materiellem zu tun. Es
besteht auch in dem zwangsläufig besonderen Schicksal, das sich die Völker
verleihen wollen. (Ebd., 1988, S. 56-57).Die
Ideologie der Menschenrechte kann sich als eine aus dem Westen importierte Lehre
nur verheerend auf die Rechts- und Verfassungssysteme der Dritte-Welt-Länder
auswirken. In manchen Gesellschaften bedeutet das Auseinandernehmen der Hierarchien
nichts anderes, als mühevoll errungene Gleichgewichte zu zerstören.
Der Verfall der Gewohnheitsrechte, die Abschaffung jener zum Schutz der Gemeinschaften
gedachten Vorrichtungen erweisen sich als ebenso verhängnisvoll. Die Verfasser
der »Allgemeinen Erklärung« von 1948 konnten sich offenbar nicht
vorstellen, daß ein persönliches Recht für einen afrikanischen
Bauern nicht unbedingt die gleiche Bedeutung hat wie für einen wohlhabenden
Bürger aus New-York. »Das Individuum zu schützen« bedeutet
nicht, daß man ihm überall die Vorrechte zuweist, die im christlichen
kanonischen Recht oder im angelsächsischen Jusnaturalismus verankert sind.
In den ländlichen Demokratien Südamerikas führt das in ein parlamentarisches
Repräsentativsystem mündende Wahlrecht dazu, das Wahlgangstertum zu
fördern und das Volk der Tyrannei feudaler Politiker zu unterwerfen. In manchen
afrikanischen Gesellschaften kann die »Bewegungsfreiheit« den Zusammenbruch
der traditionellen Strukturen sowie die »wilde« Proletarisierung eines
nicht unwesentlichen Teils der Bevölkerung hervorrufen usw.. »Im Namen
der Menschenrechte«, bemerkt Gilles Anquetil, »kann man ohne weiteres
und ungeprüft die islamisch geprägte Rechtspflege, das Kastensystem
in Indien oder unzählige afrikanische Gesellschaftsriten in den Bereich der
Barbarei zurückwerfen, ohne dabei die von solchen gesellschaftlichen Vorschriften
übertragenen Werte zu berücksichtigen, die eine authentische Weltordnung
organisieren.« (Gilles Anquetil, a.a.O., 06.03.1980).Wir sind aufgrund der
bisherigen Ausführungen nun berechtigt, die Verbreitung der Philosophie der
Menschenrechte in den Dritte-Welt-Ländern als ein (wenigstens zum Teil) Phänomen
der politisch-juristischen Akkulturation auszulegen sowie als Verzicht auf Normen
authentischen Rechts zugunsten abstrakter »universaler« Normen, die
im kulturellen Erfahrungsgut der betroffenen Länder auf nichts verweisen.
Diese Akkulturation stellt ohne Zweifel eine Form des Neokolonialismus dar, die
im unmittelbaren Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker steht,
im Namen dessen sich die Entkolonisierung gerechterweise vollzog. (Ebd.,
1988, S. 57-58).»Die Ideologie der Menschenrechte«,
schreibt Gilles Anquetil ferner, »postuliert in ihrem Universalismus und
durchaus Kantischen Rigorismus, daß alle Menschen den gleichen Bezug zum
Leben und zum Tod haben und daß man ohne Bedenken von den kulturellen und
religiösen Traditionen absehen kann, die diesen Bezug bestimmen.« (Gilles
Anquetil, a.a.O., 06.03.1980). Und dennoch, »so schockierend es uns erscheinen
mag, müssen wir uns damit abfinden, daß ein afghanischer Untergrundkämpfer
nicht nur ausschließlich für den Triumph dessen kämpft, was wir
als Menschenrechte bezeichnen. Er kämpft, um eine kulturelle Ordnung zu verteidigen,
in der das Verhältnis zum gegebenen oder erhaltenen Tod, die moralischen
Werte, die Zeit und das Gesellschaftsprojekt in keiner Weise dem entsprechen,
worum die Abendländer kämpfen.« (Ebd., 1988, S. 58).ä
Im Dienst des Liberalkapitalismus **In
Technik und Wissenschaft als »Ideologie« (1968) weist Jürgen
Habermas darauf hin, daß die liberalistische Gesellschaft ... durch die
Erweiterung von »Sub-Systemen zweckrationalen Handelns« gekennzeichnet
ist. (Ebd., 1988, S. 59).Max Weber weist seinerseits nach,
daß in einer solchen Gesellschaft die Kohäsion nicht mehr durch politische
Führung erfolgt, sondern durch eine dezentralisierte Selbstregulierung technokratischen
Wesens. Der Konsens beruht dann auf der praktischen Einwilligung der Individuen
in eine Lebensweise, auf die sie nicht mehr verzichten können; diese Einwilligung
geschieht auf der Ebene der Sub-Systeme, und nicht mehr auf allgemeiner Ebene.
(Diese integrierenden Sub-Systeme können u. a. der Betrieb, die Berufssphäre,
die Vereinstätigkeit, die Welt des Autos, die häusliche Sphäre
sein.) Um seine Herrschaft zu behaupten, braucht das System folglich keinen politischen
Diskurs und keine nationalen mobilisierenden Mythen mehr. Aus dieser Tatsache
ergibt sich eine Entpolitisierung und Entnationalisierung der bürgerlichen
Gesellschaft - was Max Weber als deren Säkularisierung« bezeichnete.
Die Legitimation der gesamten Gesellschaftsstruktur durch politische Argumentation
oder »fraglose Traditionen« weicht einer Legitimation durch wirtschaftliche
Ideologien oder durch private Ethiken, die eine materielle Lebensauffassung rechtfertigen
(und sich selbst an dem mechanistischen und ökonomistischen Aspekt des internationalen
zu legitimierenden Systems orientieren). (Ebd., 1988, S. 59).So
unterschiedlichen Autoren wie Max Weber, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky oder Martin
Heidegger zufolge beruht das allgemeine System der liberalkapitalistischen Gesellschaft
letzten Endes auf einer Deutung der Wissenschaft und der Technik als Tätigkeiten,
die dem Einzelnen zweckrational zu seinem ökonomischen Glück verhelfen
sollen. Es kommt also darauf an, über eine Theorie zu verfügen, die
eine Synthese der beiden Schlüsselbegriffe Glück und Rationalität
in höchstem Maße bestätigt. Die Theorie ist die Ideologie der
Menschenrechte. (Ebd., 1988, S. 59-60).Aus der Sicht ihrer
Urheber weist die Ideologie der Menschenrechte mehrere Vorteile auf. In erster
Linie besitzt sie ein moralisches Wesen, kraft dessen sie zumeist auch dort annehmbar
ist, wo ein rein technokratischer« Diskurs unter Umständen schlecht
angenommen werden würde. »Die Lösung technischer Aufgaben«,
schreibt Habermas, »ist auf öffentliche Diskussion nicht angewiesen,
öffentliche Diskussionen könnten vielmehr die Randbedingungen des Systems,
innerhalb dessen die Aufgaben der Staatstätigkeit als technische sich darstellen,
problematisieren.« Außerdem verdeckt diese Ideologie die Macht- und
Bedeutungslosigkeit des politischen Diskurses einer führenden Klasse, die
- da sie eine immer mehr durchökonomisierte Gesellschaft »auf Sicht«
steuert - jeglichen legitimierenden ideologischen Diskurs vom herkömmlichen
Typ entbehrt. Mit anderen Worten: In dem Augenblick, da die moderne Zivilisation,
die ja auf allen Ebenen ihrer Sub-Systeme - mit Ausnahme der Erfahrungsebene -
umstritten ist, keine politische Ideologie zu deren Legitimation findet, vermag
nur noch die Lehre der Menschenrechte einen Konsens zu schaffen, und zwar in der
(etwas lockeren) Form des kleinsten gemeinsamen ideologischen Nenners.
(Ebd., 1988, S. 60).Daß die Ideologie der Menschenrechte
größtenteils als eine us-amerikanische Ideologie hervortritt, ist unter
diesen Bedingungen folgerichtig. Es ist nämlich kein Zufall, wenn die Vereinigten
Staaten gleichzeitig die größten Anhänger des liberalkapitalistischen
Gesellschaftsmodells sind; und wenn die zentralen Begriffe der liberalistischen
Rechtsphilosophie zur Theorie der us-amerikanischen kapitalistischen Praxis wurde
- oder genauer zum legitimierenden Kodex eines Signifikats, das nichts anderes
als der Handelsaufschwung der USA ist. (Ebd., 1988, S. 60). Das
hauptsächlich biblische Wesen der us-amerikanischen Ideologie der Anfänge
erwies sich in dieser Hinsicht als prädisponierendes Element. »Die
dialektische Verwandtschaft des amerikanischen Grundgesetzes mit dem mosaischen
Gesetz drängt sich einem beinahe auf«, schreibt Pol Castel. Dem fügt
er hinzu: »Es ist kein Zufall, wenn die amerikanische Demokratie so viele
Ähnlichkeiten mit der ersten hebräischen Regierung aufweist, denn die
Founding Fathers waren mit der biblischen Welt hinlänglich bekannt«
(Le Monde, v. 4. Juni 1979). (Ebd., 1988, S. 60).Die
1776 in Philadelphia unterzeichnete Unabhängigkeitserklärung von Amerika
postuliert: »Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich:
daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer
mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß
dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören« daß
zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden.«
Es ist wahrlich schwierig, in so wenig Sätzen soviel Unsinn auszusprechen.
Daß »alle Menschen gleich geschaffen sind«, stimmt nicht - und
die Überlegung, ob es gut ist, daß sie es werden, kann nur subjektiv
sein: Nur der Mensch ist wirklich Schöpfer, und er kann nicht von »Natur
aus« mit irgendeinem Recht oder irgendeiner Pflicht ausgestattet worden
sein. Die Regierungen wurden nicht nur eingesetzt, um die persönlichen Rechte
zu sichern; sie setzten sich vielmehr selbst ein, um verschiedenen Verpflichtungen
nachzukommen, allen voran der Pflicht, den Völkern ein Schicksal zu verleihen.
Was die »selbstverständlichen Wahrheiten« betrifft, sind sie
ebenso wenig wirklich und »selbstverständlich« wie die goldenen
Berge oder die sechsfüßigen Einhörner. Aber die ganze Ideologie
der Menschenrechte » keimt« bereits in diesen Behauptungen.
(Ebd., 1988, S. 61).Es sei in diesem Zusammenhang festgestellt,
daß die im Schoße der französischen Revolution von 1789 entstandene
Philosophie der Menschenrechte eine rousseauistische, wenig ökonomistische
und mehr politische Philosophie - von der us-amerikanischen stark abweicht. Sie
ist weniger individualistisch, weniger universalistisch und drückt nicht
gleich ein und denselben Wunsch nach einem Abschluß der Geschichte aus.
Neben ihrer Theorie über den »Menschen an sich« weist sie dem
positiven Begriff des Staatsbürgers eine große Bedeutung zu.
Vielleicht deshalb berufen sich die bedeutendsten Theoretiker der Menschenrechte
heute eher auf die us-amerikanische als auf die französische Revolution.
Hannah Arendt zum Beispiel, deren Lebensweg sie in die Nähe des Marxismus
brachte und die schließlich die us-amerikanische Auffassung der Menschenrechte
verteidigte (**), lehnt die Praxis der
französischen Revolution entschieden ab. Freiheit mit revolutionärer
Gewalt zu sichern, ist für sie unannehmbar. Die Freiheit muß auf einem
ununterbrochenen Gesellschaftsprozeß gegründet sein. Dadurch daß
sie sich von vornherein Lockes Bourgeoisismus und Benthams Utilitarismus (u.a.
Ablehnung der historisch gründenden Revolutionen; Wille, die Menschenrechte
auf »eine spontane gesellschaftliche Organisation« und nicht auf einen
politischen Bruch zu gründen) anschließt, verwirft H. Arendt den polemischen
Begriff der Gesellschaftsklasse; und das führt sie dazu, das Problem der
wirtschaftlichen Beherrschung und der sozialen Entfremdung nahezu völlig
zu vertuschen. »In den Vereinigten Staaten von 1776«, schreibt sie,
»behielt der Begriff »Volk« (people) die Bedeutung der Vielzahl,
deutete die unendliche Mannigfaltigkeit einer Vielheit an, deren Größe
in ihrer Pluralität bestand.« Diese Andeutung ist ebenfalls aufschlußreich.
Die »Vielheit« ist nichts anderes als die heterogene und »individualisierte«
Menge, wo jedem frei steht, »glücklich zu sein« und wo der ideale
gesellschaftliche Raum der konsumierenden Kundschaft entsteht, auf die der Liberalkapitalismus
angewiesen ist. Hannah Arendt wird somit dazu gebracht, aus der Ideologie der
Menschenrechte das Instrument einer Klassenkollaboration zu machen, und bekräftigt
gleichzeitig das Interesse, das die us-amerikanischen Wirtschaftskreise dieser
Philosophie entgegenbringen. (Ebd., 1988, S. 61-62).Die
Verwirklichung der weltbürgerlichen Ideologie der Menschenrechte führt
... zu einer Einschränkung der politischen Souveränität der nationalen
Staaten. Mit Bezug auf Montesquieu befürwortete Jean-Marie Benoist noch vor
kurzem eine Art »Richterregierung« für Europa. Nationale oberste
Gerichtshöfe, die einem europäischen obersten Gerichtshof unterstünden,
müßten auf alle Hemmnisse aufmerksam machen, mit denen die Regierungen
den vollen Genuß der Menschenrechte erschweren könnten. Solche auf
dem zweideutigen Prinzip der »Gewaltenteilung« gründenden Auffassungen
könnten nur zur Einsetzung eines Obersten Weltgerichtshofes führen -
eines ungeheuren, gegen die nationalen Mächte und Regierungen ... gerichteteten
Gleichschaltungsapparat .... (Ebd., 1988, S. 62).Der Vorrang
der individuellen Rechte vor den nationalen Souveränitätsrechten ruft
gegenwärtig eine gefährliche Erscheinung hervor: die Ablösung
der politisch-exekutiven Kategorie durch die juristische. Indem sie im Namen
einer moralischen »Weltinstanz« die Macht der nationalen Staaten einschränkt,
zielt die Ideologie der Menschenrechte darauf ab, das Politische um seine Vorrechte
zu bringen und es einer höheren juristischen Entscheidungsinstanz zu unterwerfen.
Daß das Politische und sein Wesen den zersetzenden Praktiken eines metaphysischen,
abstrakten Rechtswesens untergeordnet wird, führt zur Diktatur der Juristen
über die Regierenden. Diese Unterordnung schließt die Absetzung der
Staatsräson in sich; sie bekräftigt den Untergang des Politischen. Der
eigentliche Begriff der »menschlichen Person«, auf den die Ideologie
der Menschenrechte so großen Wert legt, ist ein juristischer: das
Recht ist die »natürliche« Quelle einer Theorie der Person, die
das Individuum in erster Linie als Besitzer von Rechten kennzeichnet. (Ebd.,
1988, S. 63).Schon in frühgeschichtlicher Zeit versuchte man
in dem einen oder anderen Fall durch Einsetzung einer Nomokratie zu verhindern,
daß die politische Macht sich für »allmächtig« erklärt
und mit »Gott wetteifert«. Moses war der erste, der die Trennung zwischen
dem Politischen und dem Richterlichen sowie die Unterordnung des ersten unter
das zweite befürwortete. In Kanaan ist der Richter oberster Führer in
Frieden und Chef der Exekutive in Kriegszeiten. Die Regierungsmacht müßte
demnach dem Gesetz untergeordnet sein und das Gesetz müßte das Abbild
von Jahwes Gesetz sein. Dieses Thema wird heutzutage nach allen Seiten ausgebeutet.
Das Recht drückt dann, wie Nietzsche es treffend darlegte, nichts anderes
als einen »Willen zur Macht« aus: es dient dazu, die politisch-exekutive
Souveränität zugunsten derjenigen Macht zu vernichten, die sich ihrer
zu bemächtigen versucht. Zur Zeit des Augustinus und Gregors VII. hatte schon
die Kirche die christliche Theorie der Menschenrechte dazu benutzt, sich von der
politisch-exekutiven Macht zu emanzipieren. Die im 18. Jahrhundert auf ideologischer
Ebene erneut aufgetretene Unterordnung des Politischexekutiven - gegenüber
dem Juristischen - nahm im vorigen Jahrhundert mit dem Konstitutionalismus zu.
Die politische Tätigkeit wurde immer auf die gesetzgebende reduziert; jeder
politische Konflikt unterstand dem gerichtlichen Beschluß usw.. Diese Entwicklung
führte zum heutigen sogenannten Rechtsstaat. »Nicht nur, daß
das gesamte Recht mit dem Gesetz völlig übereinstimmt; das Gesetz gilt
außerdem als politische Tätigkeit bzw. als politisches Tätigkeitsfeld.«
(Julien Feund, a.a.O., 1965, S. 242). Die Verrechtlichung des internationalen
Menschenrechtsschutzes wurde mit der Gründung des unheilvollen Völkerbundes
(1919) konkretisiert, der 1945 von der Organisation der Vereinten Nationen abgelöst
wurde. Die Rechtstheorie, an die sich die Ideologie der Menschenrechte anschließt,
ist selbstverständlich die »Naturrechtstheorie«. Wir legten bereits
dar, weshalb wir diese Theorie als irrig betrachten. (**).
Wir sind nämlich der Überzeugung, daß es keinen extrinsischen
(außen liegenden) Rechtsdeterminismus gibt, keine rechtliche Verbindlichkeit,
die sich aus einer dem Menschen fremden Ordnung ergibt. Die vom Recht gegründete
Ordnung ist ursprünglich immer eine gewollte und konventionelle; sie wird
durch stillschweigende oder ausdrückliche Übereinkunft eingesetzt. Sie
ist also beliebig veränderbar und modifizierbar, je nach dem Willen und den
Wahlentscheidungen der Menschen. Das Recht ist im eigentlichen Sinne etwas Künstliches;
und hierin ist es rein menschlich. Demnach kann von Rechtsgültigkeit nur
innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft die Rede sein. »Das Gesetz im juristischen
Sinne ist nicht universal«, unterstreicht Julien Freund. »Es gilt
räumlich und zeitlich nur innerhalb der territorialen Grenzen der politischen
Autorität, die den unmittelbaren Zwang ausüben kann. Seine Gültigkeit
ist auf eine politische Einheit beschränkt.« (Julien Feund, a.a.O.,
1972, S. 7). Außerdem bezweckt das Recht nicht etwa die »Gerechtigkeit
an sich«, sondern die konkrete Rechtlichkeit in einer Reihe von bestimmten
Fällen. »So wie das Recht Vermittlung ist und die Verhältnisse
zu den anderen bestimmt, so stellt die Rechtlichkeit keine Gerechtigkeit an sich
dar, sondern eine Haltung, die die Freiheit und die Interessen eines jeden achtet.«
(Ebd., S. 92). Wir geraten deshalb nicht in den juristischen Positivismus, dem
zufolge das Recht einzig das Ergebnis des Willens ist, der es gründet. Das
hieße letztlich die Ansicht vertreten, daß alles, was eine konstituierte
Behörde entscheidet, gerecht ist; das Recht würde nicht mehr die (zur
Ordnung beitragende) Rechtlichkeit bezwecken, sondern lediglich die Ordnung. Das
hieße ebenfalls, auf andere Art in die Vormachtstellung des Gesetzes zurückfallen,
über das bereits Platons Hippias aussagte, es könne zum »Tyrannen
des Menschen« werden (Protagoras). Das Recht enthält auch eine Wertkomponente:
ein Gesetz muß, um gerecht zu sein, den spezifischen Werten der Kultur oder
des Volkes entsprechen, in dem und für das es geschaffen wurde. (Ebd.,
1988, S. 63-64).Von daher ist es offensichtlich, daß die
Destrukturierung der politischen Macht den Zusammensturz des Rechts insofern hervorruft,
als dieses nicht mehr anwendbar ist. Das Recht hat nämlich kein ureigenes
Wesen. Tritt es einmal zutage, so gibt es Anlaß zu einer autonomen Tätigkeit,
deren spezifisches Mittel das Prozeßverfahren ist, aber es vermag nicht,
sich selbständig zu konstituieren. »Das Recht hat nur dann einen Sinn,
wenn ein politischer Wille die Gesellschaft in Kenntnis setzt, daß sie sich
konstituiert, sich eine Regierungsform verleiht, das heißt ihre Ordnung
bestimmt.« (Julien Feund, a.a.O., 1972, S. 88). Deshalb kann das Gesetz
als Instrument der Ordnung diese nicht aus sich heraus stiften oder sie allein
aufrechterhalten. »Gesetze bestehen nur dort, wo es eine gegründete
Republik gibt«, schrieb Hobbes. Das liegt daran, daß der zur Verwirklichung
der Gesetze notwendige Zwang dem Recht nicht innewohnen kann; er wird ihm von
außen beigefügt. Das an sich normende und vorschreibende Recht besitzt
weder die Mittel noch die Macht, das, was es verordnet, aufzuzwingen oder einhalten
zu lassen. Das bedeutet aber nicht, daß das Politische das Vollstreckungsmittel
des Rechts ist. Das heißt vielmehr, daß sich das Politische das Recht
gefügig macht, sofern nur jenes dieses verbürgern kann. So wird jener
alte Gegensatz von Macht und Gesetz gelöst. Die politische Macht darf nicht
an die Stelle des Rechts treten: es wäre die Willkür. Oder auch das
Recht darf nicht die politische Macht ersetzen: es wäre die Ohnmacht. »In
einem Rechtsstaat, wo ausschließlich das Gesetz regieren würde«,
schreibt ferner Julien Freund, »wäre das Recht machtlos und die Politik
gelähmt.« (Ebd., S. 10). (Ebd., 1988, S. 64-65).Auch
die von den Verfechtern der Menschenrechtsideologie häufig vertretene Auffassung,
wonach das Recht die Macht ausschließe, wonach der Rechtsstaat den Frieden
sichere (da der Rückgriff auf das Gesetz genüge, den Konflikt auszuschließen)
ist reine Absurdität: die Konflikte rühren nämlich aus der Unterschiedlichkeit
von Kräften, die das Recht nur dann zügeln kann, wenn es sich selbst
auf eine Macht stützt. Deshalb ist »Friede eine in erster Linie politische
Sache, keine juristische. Erst wenn das Politische es vermag, die Gewalt sowohl
innen als auch außen zunichte zu machen, kann es Lösungen auf dem rechtlichen
Weg erzwingen«. (Julien Feund, a.a.O., 1972, S. 10). Der tatsächliche
Schutz der Freiheiten kann nur dann erfolgreich sein, wenn er auf politischer
Ebene vorgenommen wird. Die Sicherung der Freiheiten setzt ein Kräfteverhältnis
voraus, das für denjenigen, der sie schützen will, vorteilhaft ist.
Ganz anders verhält es sich natürlich mit der Ideologie der Menschenrechte,
die sich von vornherein auf der moralisch-juristischen Ebene definiert, die das
Recht dazu führt, seine eigene Sphäre auf Kosten des Politischen zu
verlassen. Je mehr sich das Recht aber ausdehnt, umso mehr verdünnt es sich.
Je mehr vom Recht »die Rede« ist, umso mehr sieht es seine Macht dahinschwinden.
Für die Menschen wie für die Nationen sind begrenzte, genau beschriebene
und gekennzeichnete Rechte besser als ein anspruchsvolles, egalitäres, »universales
Recht«, Im dessen Anwendung keine Einschränkung, keine historische
Tradition bürgen. Das Recht, das einem Menschen nur deshalb zugesprochen
wird, »weil er ein Mensch ist«, ist nichtig; wird dieses Recht nicht
anerkannt, und schon kann keiner den Vorteil davon genießen. Nur diejenigen
Rechte, die von einer politischen Macht geschützt werden oder die zu schützen
sich eine politische Macht entschließt, können effektiv anerkannt und
verwirklicht werden. (Ebd., 1988, S. 65-66).Schon ein kurzer
Blick auf die jüngste Vergangenheit zeigt, daß sich die Ideologie der
Menschenrechte beim Schützen der konkreten Freiheiten als völlig wirkungslos
erwies. Sie ist freilich bestens darauf eingestellt, die westlichen Länder,
in denen sie ins Leben trat, zu destrukturieren; es gelang ihr aber andererseits
nicht, z.B. mehr reale Freiheit in den Ländern einzuführen, die unter
sowjetischer Herrschaft stehen. Kurz nach dem russischen Einfall in Afghanistan
sabotierte sie 1980 die Olympischen Spiele von Moskau im Namen des »Weltgewissens«
und zur »Sanktion«: sie trug letzten Endes nur dazu bei, den olympischen
Geist zu vernichten. In einzelnen Fällen konnten die Verfechter der Menschenrechte
die Medien auf das Schicksal des einen oder anderen »Dissidenten«
aufmerksam machen. Diese Proteste halfen dennoch nichts (außer wenn die
UdSSR es für politisch einträglich hielt, »eine Geste zu machen«).
(Ebd., 1988, S. 66).Das gute Gewissen des Humanitarismus beklagt
arglos, daß »die Menschenrechte seit ihrer juristischen Verankerung
in höherem Maße verunglimpft werden.« Wir möchten aber darauf
hinweisen, daß die konkreten Freiheiten eines jeden Volkes zwangsläufig
von dem Augenblick an zurücktreten mußten, da man sie durch ein »universales
Recht« und eine abstrakte »Freiheit« zu ersetzen versuchte,
die viel leichter zu verletzen waren. Indem die Ideologie der Menschenrechte so
unklare Begriffe wie das »Gemeinwohl«, die »Demokratie«,
das »Sanitätswesen« oder die »Moralität« als
Prinzipien aufstellt, verhilft sie den tyrannischen Regierungen dazu, alle Hemmnisse
zu überwinden, die die Gewohnheits- und Lokalrechte für sie darstell(t)en.
Die neue chinesische Verfassung, die das »Recht der freien Meinungsäußerung«
und des »freien Schriftverkehrs« garantiert, konnte beispielsweise
das (konkrete) Recht zum Anschlagen der dazibaos dadurch aufheben, daß
sie sich auf die Theorie der Menschenrechte stützte. (Ebd., 1988, S.
67).Einige schwarzafrikanische Staaten der nachkolonialen Zeit,
die die »Allgemeine Erklärung« von 1948 unterzeichnet hatten,
verzichteten gleichzeitig auf ihr herkömmliches Gewohnheitsrecht - da sie
es viel lieber hatten, nur noch an drei Seiten eines philosophischen und moralisierenden
Diskurses gebunden zu sein. Und wir sprechen hier lediglich von den politischen
Freiheiten des klassischen Typs: den sprachlichen, kulturellen u.a. Freiheiten
ist die Ideologie der Menschenrechte bekanntlich völlig gleichgültig,
wenn nicht feindlich gesinnt. (Ebd., 1988, S. 67).Daß
die juristischen Begriffe des angelsächsischen biblischen Demokratismus weltweit
übernommen werden, erweist sich nicht nur als völlig fruchtlos für
die Besserung der Verhältnisse; diese Entwicklung kennzeichnet unseres Erachtens
auch einen eindeutigen Verfall des Rechts, der übrigens auch mit dem Rückgang
des Politischen zusammenhängt. Da das Recht allmählich aufhört,
praxisbezogen zu sein, an Bräuche oder an überlieferte und vererbte
Rechtsprechungen gebunden zu sein, wird es moralisch und ideologisch. Zum Thema
wissenschaftlicher Abhandlungen umgewandelt, der Unaufgeklärtheit von Journalisten
und Meinungsmachern zur Speisung gegeben, erweist es sich als völlig unfähig,
seiner Aufgabe in aller Form gerecht zu werden. Damit die Völker und die
Sozialgruppen sich von der wirtschaftlichen Herrschaft und der auf die
liberalkapitalistische Gesellschaftsform zurückgehende - soziokulturellen
Entfremdung freimachen, müssen sie eine antiindividualistische Ideologie
und Strategie übernehmen, wo die Widerstandsräume möglichst von
einem Befreiungswillen beherrscht sowie strukturiert werden, der nur souverän
und politisch sein kann. Zu einer entgegengesetzten Haltung drängt leider
die Ideologie der Menschenrechte, deren pseudo-befreiender Diskurs sich letzten
Endes für das gesamte System verbürgt, indem er dieses anscheinend nur
punktuell, auf der oberflächlichen unwesentlichen Ebene der formalen Semiologie
anficht. (Ebd., 1988, S. 67-68).ä
Rückkehr zum bürgerlichen HumanitarismusDie
Ideologie der Menschenrechte bildet heute den Sammelpunkt aller egalitären,
sowohl religiösen wie auch weltlichen Strömungen nicht nur, weil die
jetzige »egalitäre Zivilisation« eine theoretische Legitimation
im höchsten Grad braucht, sondern auch, weil das Thema der Menschenrechte
sozusagen eine gemeinsame Entwicklungsschicht innerhalb ihres Diskurses ausmacht.
Liberale und Rationalisten westlicher Tradition, gemäßigte Sozialisten,
Kantianer, Marxisten, Anhänger der christlich-sozialen Bewegung, ja sogar
traditionalistische Christen, alle erlebten irgendwann im Verlauf ihrer »ideologischen
Geschichte« den rationalen Idealismus der Menschenrechte. Und aus
diesem Grunde eignet sich dieses Thema besonders dazu, sie ökumenisch zusammenzubringen,
zu einem Zeitpunkt, wo sie es am meisten nötig haben. (Ebd., 1988,
S. 68).Nur die Ideologie der Menschenrechte war nämlich in
der Lage, auf einer breiten Rückzugstellung eine westliche Intelligenzia
neu zu gruppieren, die seit etwa zehn Jahren durch das Abbröckeln ihres theoretischen
Diskurses sowie den wiederholten Zusammenbruch ihrer politischen und gesellschaftlichen
Modelle völlig ratlos geworden war. Daß heute Marxisten und revolutionäre
Sozialisten, deren Lehrgebäude einst den »kleinbürgerlichen Idealismus«
(Lenin) und den »Formalismus« zu überwinden begehrte, erneut
zum Schutz der Menschenrechte ansetzen, zeugt von einem unbestreitbaren theoretischen
Rückzug des egalitären Denkens. Dieser Rückzug, dieser ideologische
Widerruf fällt mit der Entwicklung des Egalitarismus, von einer dialektischen
Phase zu einer soziologischen, zusammen. Die im 18. Jahrhundert eingeleitete dialektische
Phase zeichnete sich durch intellektuelle Findigkeit aus: die Formulierung der
Ideen ging ihrer politischen und gesellschaftlichen Umsetzung voraus. In der soziologischen
Phase läuft die massive Verbreitung der egalitären Lebensformen sowie
der Triumph des bürgerlichen Typus parallel zum Rückgang der revolutionären
ideologischen Formulierungen und zum erneuten Aufkommen einer pseudo-humanitären
Sensibilität: dann steuert das soziale Geschehen die Ideen, und nicht umgekehrt.
Die egalitäre Ideologie hört damit auf, erfinderisch zu sein. Sie beschränkt
sich auf »bescheidene« Formeln. Sie zielt auf Homogenisierung und
Vermassung hin. Die Ideologie der Menschenrechte, als Diskurs eines Weltbürgertums
und Sinn dieses Projekts, bildet die Axialform dieser »Vermassung«
der Ideen. (Ebd., 1988, S. 68-69).Auf Seiten der Christen
ist die Entwicklung besonders bemerkbar. Vor allem das katholische Christentum
bekämpfte lange Zeit die Philosophie der Menschenrechte - zu deren Gründung
es dennoch in hohem Maße beigetragen hatte -, als diese Philosophie dazu
überging, das »Naturrecht« nicht mehr auf einer geoffenbarten
Moral, sondern auf westlichen Prinzipien zu gründen. Heute aber muß
das - einen Teil der Vergangenheit übersehende - Christentum sich nicht verweltlichen,
um im Evangelium eine zivile Moral zu finden, die auf dem »Naturrecht«
und auf dem Vorrang des Individuums gründet. Pater Michel Lelong durfte vor
wenigen Jahren sogar schreiben, daß die Einwilligung in die Philosophie
der Menschenrechte ein wichtigeres Kriterium zur Beurteilung der einzelnen Lehrgebäude
darstelle als die Haltung zum Apostolischen Glaubensbekenntnis. Die ... Vereinigung
»Rechte des Menschen und Solidarität« äußerte
unlängst den Wunsch, unter diesem Motto Katholiken und Freimaurer zusammenzubringen.
Was Papst Johannes Paul II., den würdigen Fortsetzer des Verhaltens
von Papst Paul VI., betrifft, tritt er auf seinen Reisen ebenfalls immer
wieder für die Menschenrechte« ein. (**).
(Ebd., 1988, S. 69-70).In der streng-marxistischen Tradition, die
zwischen »formalen« (bürgerlichen) Freiheiten und »realen«
(sozialistischen) Freiheiten unterschied, wurde die Ideologie der Menschenrechte
noch vor einiger Zeit verworfen, weil sie einer historisch überholten Phase
entspreche. Im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) sprach Marx seinen
berühmten Fluch aus: »Aber streitet nicht mit uns, indem ihr an euren
bürgerlichen Vorstellungen von Freiheit, Bildung, Recht usw. die Abschaffung
des bürgerlichen Eigentums meßt. Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse
der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht
nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist.« Unter den heutigen,
mehr auf humanistischen Anstand bedachten Marxisten sind es immer weniger, die
auch das bürgerliche Recht als Diskurs wirtschaftlicher Legitimation verwerfen
- obwohl diese Verwerfung einen der interessantesten Aspekte der marxistischen
Analyse darstellt. Man könnte diese Analyse übrigens wiederaufnehmen
und dabei nachweisen, daß sich die Legitimation weniger auf eine Klasse
bezieht als auf eine Funktion: auf die ökonomische und kaufmännische
Funktion. Die Kritik am bürgerlichen humanitären Recht« ziemt
sich heute nicht mehr, seitdem die Revolution in Verdacht gekommen ist, sich dem
»Glück« zu widersetzen. (Ebd., 1988, S. 70).Der
Verzicht auf den Antihumanismus geht nicht auf die Stimmungen eines Roger Garaudy
zurück. In Wirklichkeit läutete die Frankfurter Schule schon
vor dem 2. Weltkrieg die enttäuschte und schmerzvolle Rückkehr
zur Ideologie der Menschenrechte ein, der sich ein großer Teil der heutigen
Linksintellektuellen mittlerweile angeschlossen hat. Ernst Bloch war einer der
ersten, die die Rückkehr zur Bibel und den Verzicht auf jegliche revolutionäre
Perspektive priesen. (Ebd., 1988, S. 70).Die Ideologie der
Menschenrechte bildet nunmehr den Treffpunkt all derjenigen, die der Egalitarismus
enttäuschte; den Ort, wo sie zugleich ihre Irrfahrten gestehen, ihre Pleiten
zugeben, ihre Grundbestrebungen beibehalten und nach wie vor ein gutes Gewissen
haben können. Sie ist der ideologische Raum, in den alle gegenwärtigen
Universalismen, alle der monotheistischen Mentalität entsprungenen Systeme
hineinfließen werden. Sie ist die Religion des ausgehenden 20. Jahrhunderts
(und des gesamten 21. Jahrhunderts; HB).
(Ebd., 1988, S. 71).
Totalitarismus. Kommunismus und Nationalsozialismus - die andere
Moderne. 1917-1989 (2001)
ä
Vorwort (von Ernst Nolte)Alain
de Benoist ist in der großen Öffentlichkeit Deutschlands nur wenig
bekannt, obwohl seit kurzem die Übersetzung eines seiner wichtigsten Bücher
unter dem Titel Aufstand der Kulturen vorliegt. Am ehesten weiß man von
ihm, daß er als der Hauptvertreter der »Neuen Rechten« in Frankreich
gilt, daß diese intellektuelle Richtung eine umfangreiche Publikationstätigkeit
entfaltet und über einige Zeitschriften ... verfügt, die aus dem geistigen
Leben von Paris und Frankreich kaum wegzudenken sind. Wenn irgendeine Gruppierung
von Menschen sich als »Rechte« bezeichnet, muß sie damit rechnen,
daß von der politischen und der intellektuellen »Linken« die
»Faschismuskeule« gegen sie geschwungen wird, und auch de Benoist
hat diese Erfahrung gemacht. Aber er hat Vorwürfe dieser Art immer mit Entschiedenheit
und guten Argumenten zurückgewiesen. Wenn man sein überaus umfangreiches
und vielfaltiges Werk auf einen einfachen Begriff bringen kann, so ist es derjenige
des »Ethnopluralismus«, d.h. die Auffassung, daß »Völker«,
Ethnien, Nationen, aber auch Kulturen fundamentale Realitäten des geschichtlichen
Daseins darstellen und durch eine Selbstachtung charakterisiert sein sollten,
welche die Achtung vor den anderen Völkern und Kulturen einschließt.
Das bedeutet eine nachdrückliche Absage an den »Nationalismus«
und dessen Selbstbezogenheit, der so häufig einen Herrschaftsanspruch gegenüber
anderen Völkern erhebt, ja, der im Extremfall sogar die Versklavung oder
Vernichtung benachbarter Nationen ins Werk setzt, wie es besonders am Beispiel
des deutschen Nationalsozialismus deutlich geworden ist. Aber diese Verneinung
bedeutet ebenfalls die Kritik an jener übergreifenden Tendenz, die man heute
meist »Globalisierung« nennt und die nach der Meinung de Benoists
einen völkervernichtenden und kulturzerstörenden Charakter hat. Sie
wurde einst unter dem Namen »Weltrevolution« von der radikalen Linken
zur obersten Zielsetzung erhoben, und sie wird heute vom Neoliberalismus ebenfalls
sowohl als Tatbestand wie auch als Norm verstanden. Mit ebenso großer Entschiedenheit
wie gegen den Nationalsozialismus muß sich de Benoist daher gegen den Kommunismus,
aber auch gegen einen Liberalismus wenden, der in seiner »mondialistischen«
und ökonomistischen Ausrichtung sogar die repräsentative Demokratie
der Nationalstaaten in Gefahr bringt. Alain de Benoist kann also mit Recht den
Begriff des »Totalitarismus« übernehmen und seine »antifaschistischen«
Gegner in die Schranken weisen, denn selbst der italienische Faschismus war totalitär,
doch er sieht sich weiterhin dem Vorwurf ausgesetzt, sein Begriff der staatlichen
und kulturellen Gemeinschaft sei »organizistisch« und auch der »völkische«
Flügel des Nationalsozialismus habe Hitlers Ausgriff über die deutschen
Grenzen hinaus abgelehnt. Aber lassen sich nicht ebenfalls Gemeinsamkeiten mit
dem Kommunismus aufweisen, den er doch mit so viel Nachdruck ablehnt, etwa die
negative Einstellung zu dem »kapitalistischen« Globalismus und die
Kritik an der »Abstraktheit« der modernen Gegenwart? Triviale und
parteiliche Polemik ist de Benoist gegenüber also nicht berechtigt, und von
seinem Ausgangspunkt her ist er vorzüglich legitimiert, den Kommunismus und
den Nationalsozialismus gleichzeitig zum Thema zu machen. (Ebd., 2001, S.
5-8).Eben das tut er in dem vorliegenden Buch .... Es handelt sich
... nicht etwa um eine historische Darstellung, in welcher der Kommunismus und
der Nationalsozialismus als die Hauptakteure fungieren, und auch nicht um eine
politologische Abhandlung, die eine neue Theorie
des Totalitarismus zu entwickeln versucht, sondern um eine Anzahl von »Reflexionen«,
welche das Nachdenken über die Phänomene fördern sollen - die Kenntnis
von grundlegenden historischen und politologischen Werken wie etwa der Efemente
und Ursprünge des Totalitarismus von Hannah Arendt und François Furets
Ende einer Illusion wird dabei vorausgesetzt. Aber das Büchlein ist weit
mehr als eine Sammlung von kleinen Essays, denn ein ziemlich umfangreicher Anmerkungsteil
stellt unter Beweis, wie gründlich sich der Autor mit seinem Gegenstand beschäftigt
hat, und zwar unter Einbeziehung von nicht ganz wenig an deutscher und italienischer
Literatur. (Ebd., 2001, S. 9).Der deutsche Leser dürfte
jedoch gerade aus denjenigen Abschnitten besonderen Gewinn ziehen, die sich mit
den Stellungnahmen französischer, meist linksgerichteter Autoren zu der Frage
der Ähnlichkeit oder des Gegensatzes zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus
befassen. Frankreich ist ja das Land, in dem bald nach dem Zweiten Weltkrieg die
ersten Hinweise auf die Existenz des sowjetischen »Gulag« die größte
Empörung auslösten und zu einem berühmten Gerichtsverfahren führten,
und es ist das Land, wo das intellektuelle Leben bis 1956, ja weit darüber
hinaus, von der marxistischen Ideologie fast vollständig beherrscht wurde.
Eben hier führte allerdings die Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns
Archipel Gulag (1973) die spektakulärste Veränderung des Denkens
herbei, und hier erschien 1997 das vom ehemaligen Maoisten Stephane Courtois herausgegebene
Schwarzbuch des Kommunismus (**),
das zwar keinen ausdrücklichen Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus
vornahm, das aber die Zahl der von den kommunistischen Regimen verursachten Todesopfer
so viel höher ansetzte als diejenige der Opfer des nationalsozialistischen
Regimes, daß ein Vergleich sich aufdrängte. Frankreich ist jedoch gleichwohl
das Land, dessen sozialistischer Premierminister sagen konnte, er sei stolz auf
die kommunistischen Mitglieder seiner Regierung, ohne daß er dasjenige hinzugefügt
hätte, was man eigentlich hätte erwarten müssen: daß er der
schärfste Gegner dieser Partei sein würde, wenn sie jemals wieder ihren
alten Anspruch auf die Alleinherrschaft erheben sollte. Es ist daher im heutigen
Frankreich, nicht anders als im heutigen Deutschland, wenngleich aus verschiedenartigen
Gründen, von einem »Tabubruch« nicht weit entfernt, wenn ein
Autor es unternimmt, Kommunismus und Nationalsozialismus miteinander zu vergleichen,
ohne in erster Linie die Verschiedenheit herauszustellen. Für den deutschen
Leser ist es daher von hohem Interesse, aus dem Buch von de Benoist nicht wenige
derjenigen Argumente kennenzulernen, mit denen in Frankreich der in kritischer
Absicht und unter Verwendung des Begriffs »Totalitarismus« vorgenommene
Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus zurückgewiesen worden
ist. So behauptete ein Autor, die Wurzel des Nationalsozialismus sei der Menschenhaß
gewesen, die Grundlage des Kommunismus aber die Menschenliebe; ein anderer schrieb,
man sei aus »Haß gegen das Menschengeschlecht« Nazi geworden,
Kommunist aber aus dem entgegengesetzten Grunde. Ein dritter meinte, der aus Berufung
verbrecherische Nationalsozialismus habe mit der Vernichtung von Menschen sein
Programm in die Tat umgesetzt, während der sozusagen aus Versehen verbrecherische
Kommunismus dagegen das seine verraten habe. Die Ehrenvorsitzende der Liga für
Menschenrechte brachte das Argument vor, wenn man behaupte, Kommunismus sei gleich
»Nazismus«, vergesse man, »daß die UdSSR niemals den Ausschluß
einer Menschengruppevom Staatsgrundgesetz« organisiert habe (3
[S. 35-38]). Wie immer diese undurchsichtige Wendung näher zu verstehen
ist, miissen in der Tat jedem Kenner die Haare zu Berge stehen, wenn er sieht,
wie sehr hier ein Regime »verharmlost« wird, das schon in seiner Friihzeit
große Gruppen von Menschen für »vogelfrei« erklärte
und wenig später imstande war, der Witwe eines verstorbenen Popen als einer
»Klassenfeindin« die Lebensmittelkarten zu verweigern. Alain de Benoist
wischt nun den Unterschied, der allen diesen törichten oder bösartigen
Behauptungen zugrunde liegt, nicht etwa einfach vom Tisch, sondern er sieht den
Kern der Sache darin, daß »die Utopie der klassenlosen Gesellschaft
und die Utopie der reinen Rasse beide die Ausschaltung derjenigen Menschen verlangten,
die der Verwirklichung eines großartigen Entwurfs, nämlich
der Entstehung einer von Grund aus besseren Gesellschaft, im Wege standen«.
(S. 49) Mit anderen Worten:
Kommunismus und Faschismus waren beide »Säuberungsideologien«
- die Menschenliebe des Kommunismus galt nicht den konkreten, vorfindbaren Personen,
sondern einem idealen, erst noch zu schaffenden Menschen; der Menschenhaß
der Nationalsozialisten beruhte jedoch seinerseits auf Liebe zum Menschen, aber
nicht einmal auf der Liebe zu den Menschen des eigenen Volkes, sondern zu den
bisher erst in geringer Zahl existierenden und also noch hervorzubringenden Menschen
einer »reinen« und »höheren« Rasse. Die möglicherweise
unblutige, aber mit höherer Wahrscheinlichkeit blutige Vernichtung der »falschen«
Menschen erwuchs mithin aus dem innersten Wesen beider Bewegungen und Regime.
Dennoch iibersieht de Benoist den Unterschied nicht: Der Kommunismus will die
ganze Menschheit vom »Schmutz« des Kapitalismus reinigen, der Nationalsozialismus
dagegen will eine partikulare Realität, eine »Rasse«, zum Zweck
des besseren Kampfes um ihre Selbstbehauptung durch die Ausschaltung der schwachen,
kranken und natürlich der feindlichen Elemente stärken - der Kommunismus
ist universalistisch, der Nationalsozialismus ist partikularistisch, und hier
ist der rationale Kern all jener verharmlosenden Unterscheidungen zu sehen. Aber
de Benoist artikuliert eine These, welche diese simple Unterscheidung in ein ganz
anderes licht rückt: »Der Universalismus verschärft den Totalitarismus«
(S. 52); er macht ihn keineswegs
besser oder menschenfreundlicher. Von dieser These her gelangt de Benoist zwar
durchaus nicht zu einer Verharmlosung oder gar zur Rechtfertigung des Nationalsozialismus,
aber er wagt es, jene »andere Seite« herauszustellen, die normalerweise
jedem menschlichen Phänomen zuzuschreiben ist, die aber durch die kommunistische
und philokommunistische Behauptung, der Nationalsozialismus habe das »absolute
Böse« verkörpert, zum Verschwinden gebracht wird: Nicht wenige
Nationalsozialisten ließen sich ebenfalls durch »hohe Ideale«
leiten, in der Waffen-SS kämpften beinahe 400 000 ausländische Freiwillige,
zehnmal so viele wie kommunistische und philokommunistische Männer in den
Internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkrieges (S.
56). (Ebd., 2001, S. 9-12).Der Vergleich zwischen Kommunismus
und Nationalsozialismus ist also nicht bloß zulässig, sondern geradezu
geboten, und der beste übergeordnete Begriff ist derjenige des »Totalitarismus«.
Alain de Benoist beruft sich weit weniger auf Carl Joachim Friedrich und Zbigniew
Brzezinski als auf Hannah Arendt, weil diese nicht so sehr die formalen und übereinstimmenden
Strukturen als vielmehr die konkreten historischen Zusammenhänge herausarbeite.
Er nimmt auch die Fragestellung von Alain Besançon auf, der in tiefdringenden
Überlegungen Gründe für die »Amnesie« gegenüber
dem Kommunismus und die »Hypermnesie« hinsichtlich des Nationalsozialismus
aufzudecken sucht. Man kann indessen schwerlich um die Feststellung herumkommen,
daß schon der Titel des Buches ... selbst die Differenz zugrunde legt, denn
er stellt eine Selbstbezeichnung mit einem polemischen Kampfbegriff zusammen.
Ein ähnlicher Kampfbegriff war in Deutschland die Kennzeichnung der Sozialdemokraten
als »Sozis«, und ein Buch mit dem Titel Der Kampf der Sozis ftir
die Fürstenenteignung in der Weimarer Republik würde sicherlich
als parteiisch angesehen und hart getadelt werden. Für den Begriff des »Nazismus«
gilt die entsprechende Forderung nicht, und auch darin kommt die Tatsache zum
vorschein, daß es nicht bloß auf die alliierte Kriegspropaganda oder
den blinden Philosowjetismus der europäischen Linksintellektuellen zurückzuführen
sein kann, wenn dem Nationalsozialismus eine so viel heftigereAblehnung zuteil
wird als dem Kommuntismus. (Ebd., 2001, S. 12-13).Irgend
etwas muß nicht ganz stimmig sein, wenn de Benoist sowohl die kommunistische
als auch die nationalsozialistische Ideologie durch einen Messianismus gekennzeichnet
sieht, der einen Endzustand der Menschheit anstrebt, »in dem es weder Krankheiten
noch Tränen« geben werde (S.
113), und wenn er beiden Regimen den Willen zuschreibt, »durch eine
radikale Beschleunigung der Geschichte der historischen Existenz ein Ende setzen«
zu wollen (S. 118). Muß
man nicht eher sagen, daß sich Kommunismus und Nationalsozialismus auf militante
Weise mit längst bekannten und schroff entgegengesetzten Tendenzen identifizierten,
nämlich mit der Tendenz zur »Weltzivilisation«, ja zum »Weltstaat«
auf der einen Seite und dem Willen zur Bewahrung der historischen Existenz der
Staaten und Kulturen auf der anderen? Aber die richtige Feststellung wird unrichtig,
wenn man nicht hinzufügt, daß der militante Wille zu Reinigung und
Vernichtung im 20. Jahrhundert jeweils sein Gegenteil mit sich führte: den
Quasi-Partikularismus des Engagements für das »Sowjetvaterland«
einerseits und den Quasi-Universalismus des Kampfes für eine »reine
Rasse« andererseits? (Ebd., 2001, S. 13-14).So
muß man de Benoist doch wieder recht geben, wenngleich auf eingeschränkte
Weise: Es wäre wünschenswert, ja vielleicht unumgänglich, die tiefe
und wohlbegründete Feindschaft zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus
stärker herauszuarbeiten und die Gleichrangigkeit insofern einzuschränken,
als dem kommunistischen Regime die zeitliche und sachliche Priorität und
dem nationalsozialistischen die Tendenz zur Nachahmung zuzuschreiben wäre.
Ganz am Ende zitiert de Benoist einen Satz von Helene Carrère d'Encausse,
die Bourgeois seien für Lenin dasjenige gewesen, was für Hitler die
Juden gewesen seien (S. 114).
Wenn man hier die richtige Reihenfolge herstellt, nämlich: für Hitler
seien die Juden dasjenige gewesen, was für Lenin die Bourgeois waren, hätte
man die Gelegenheit gewonnen, neben der Übereinstimmung zwischen den beiden
Totalitarismen auch ihre Verschiedenheit mit starker Betonung herauszustellen.
(Ebd., 2001, S. 14).Aber eben dann müßte eine viel dringlichere
und heiklere Frage an Alain de Benoist gerichtet werden: Stellt er sich mit seiner
Verteidigung des Pluralismus der Völker und der Kulruren nicht letzten Endes
auf dieselbe Seite, auf welcher der Nationalsozialismus stand? Haben die Vorwürfe
jener Streiter mit der Faschismuskeule nicht doch Hand und Fuß? Die stillschweigende
Voraussetzung, die hier gemacht wird, ist indessen die, daß der Fortschritt
zur Weltzivilisation rundum gut und deshalb mit Panmixie und allgemeinem Mestizenrum
identisch sei, wie nicht wenige Fortschrittler mit Nachdruck behaupten. Aber wenn
es im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine ebenso überraschende wie
weitreichende Wandlung gegeben hat, dann war es die Ausbreitung der Einsicht in
die »andere Seite« des Fortschritts, einer Einsicht, die von einzelnen
Denkern bis zur Vorstellung eines Untergangs der Menschheit durch den unaufualtsamen
»Fortschritt« getrieben wurde, der seine angeblichen Urheber, die
Menschen, letzten Endes überholt und zerstört. Der »europäische
Bürgerkrieg« zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus und der darauf
folgende Weltbürgerkrieg zwischen Kommunismus und »Kapitalismus«
sind zwar entschieden, nämlich durch den Untergang sowohl der »faschistischen«
wie auch der kommunistischen Regime, aber die Auseinandersetzung um das richtige
Verhältnis zwischen Universalem und Partikularem, zwischen Weltmarkt und
Staaten oder staatsähnlichen Zusammenschlüssen, zwischen den völlig
flexiblen und den irgendwo verwurzelten Menschen ist bei weitem noch nicht an
ihr Ende gelangt. Auch in der gegenwärtigen Phase fehlt die Ambivalenz nicht
ganz, aber die Selbstbehauptung der Völker und Kulturen wird die Weltzivilisation
schwerlich verneinen, sondern versuchen, sie zur bloßen Basis zu machen,
und was die Vorkämpfer der »Amerikanisierung« betrifft, so identifizieren
sie sich nicht notwendigerweise mit dem Staat USA. Daher hat Alain de Benoist
recht, wenn er die gegen ihn gerichteten Vorwürfe als Relikte einer vergangenen
Epoche zurückweist und für sich in Anspruch nimmt, daß seine Perspektive
ihm eine gute Position gibt, um aus der für Gegenwart und Zukunft so zentralen
historischen Frage nach dem Verhältnis von Kommunismus und Nationalsozialismus
weiterführende Einsichten zu gewinnen. (Ebd., 2001, S. 14-15). | | Ernst
Nolte
im August 2001 |
ä
Einführung»War
das Denken früher blind für den Totalitarismus, so ist es heute durch
ihn verblendet«, schrieb Alain Finkielkraut zu Recht im Jahre 1993. Die
Diskussion, die die Veröffentlichung des Schwarzbuchs des Kommunismus
(**) in Frankreich
und Deutschland auslöste, ist ein gutes Beispiel für diese Verblendung.
Andere Ereignisse, die unsere Zeitgenossen in regelmäßigen Abständen
zwingen, sich mit der jüngsten Geschichte auseinanderzusetzen, veranschaulichen
ebenso die Schwierigkeit, sich gegenüber der Vergangenheit festzulegen. Heute
wird diese Schwierigkeit noch verstärkt durch die Auseinandersetzung zwischen
dem geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisweg und einer »Erinnerung«,
die auf dessen Vorrechte neidisch ist und sich nun zunehmend als eigentlicher
Wert (es gebe eine »Erinnerungspflicht«), als Ersatzmoral, ja sogar
als neue Religiosität aufspielt. Nun sind aber Geschichte und Erinnerung
nicht gleichen Wesens. Sie sind in vieler Hinsicht sogar völlig entgegengesetzt.
(Ebd., 2001, S. 17).Die Erinnerung hat natürlich ihre eigene
Legitimität, sofern sie hauptsächlich darauf hinzielt, die Identität
der Menschen und Gruppen zu begründen oder deren Überleben zu sichern.
Als Form des gefühlsmäßigen und oft schmerzlichen Verhältnisses
zur Vergangenheit ist die Erinnerung nichtsdestotrotz vor allem narzißtisch.
Sie bedingt einen Kult des Sich-Erinnerns und ein zwanghaftes Nicht-Vergehen-Lassen
der Vergangenheit. Wenn sie sich auf das Andenken an erlittene harte Prüfungen
gründet, ermutigt sie diejenigen, die sich darauf berufen, sich als Träger
des größten Leids und der stärksten Schmerzen zu empfinden, einfach
deshalb, weil man selbsterlittenes Leid immer für schmerzlicher hält.
(Mein Schmerz und der meiner Angehörigen ist defnitionsgemäß größer
als der Schmerz der anderen, da er der einzige ist, den ich empfinden konnte.)
Groß ist dann die Gefahr, eine Art Konkurrenz zwischen den Erinnerungen
heraufzubeschwören, die wiederum eine Konkurrenz zwischen den Opfern hervorruft.
(Ebd., 2001, S. 17-18).Außerdem ist die Erinnerung im wesentlichen
konfliktträchtig. Das historische Gedächtnis ist zwangsläufig selektiv,
da es auf »einer Intrigierung der Vergangenheit« (Paul Ricur)
beruht, die eine Auswahl bedingt - auf diese Weise trägt das Vergessen paradoxerweise
zu dessen Formung bei. Dadurch verbietet die Erinnerung jegliche Aussöhnung,
schürtt somit den Haß und erhält die Konflikte aufrecht. Indem
sie die Distanz, die Kontextualisierung, das heißt die Historisierung, beseitigt,
hebt sie die feinen Unterschiede auf und institutionalisiert die Klischees. Die
Erinnerung neigt dazu, die Abfolge der Jahrhunderte als einen Krieg der Gleichen
gegen die Gleichen darzustellen, dabei verwesentlicht sie die historischen und
sozialen Akteure und pflegt den Anachronismus. (Ebd., 2001, S. 18).Tzvetan
Todorov und Henry Rousso haben sehr gut aufgezeigt, daß Erinnerung und Geschichte
eigentlich zwei gegensätzliche Formen des Verhältnisses zur Vergangenheit
darstellen. Dieses Verhältnis zur Vergangenheit, wird es von der Erinnerung
kanalisiert, hat die historische Wahrheit nicht nötig. Es genügt zu
sagen: »Erinnere dich!« Die Erinnerung verleitet dadurch zum
identitären Rückzug auf einzigartige Leiden, die man für unvergleichlich
hält nur aufgrund der Tatsache, daß man sich mit den Opfern identifiziert,
wohingegen der Historiker mit jeglicher Form von Subjektivität möglichst
brechen muß. Die Erinnerung wird durch Gedenkfeiern gepflegt, die historische
Forschung durch Arbeiten gefördert. Erstere ist definitionsgemäß
vor Zweifeln und Revisionen sicher. Dagegen erkennt die zweite grundsätzlich
die Möglichkeit einer Infragestellung oder Anzweiflung an, sofern sie darauf
hinzielt, Fakten - und seien sie vergessen oder vom Standpunkt der Erinnerung
schokkierend - zu ermitteln und sie in ihren Zusammenhang einzuordnen, um Anachronismen
zu vermeiden. Mit anderen Worten: Um als solcher gelten zu können, muß
sich der historische Erkenntnisweg von der Ideologie und dem moralischen Urteil
befreien. Wo die Erinnerung Zustimmung verlangt, erfordert er Distanzierung.
(Ebd., 2001, S. 18-19).Aus allen diesen Gründen - wie von
Paul Ricur ... dargelegt ... - kann die Erinnerung die Geschichte nicht
ersetzen. »In einem Rechtsstaat und einer demokratischen Nation«,
schreibt seinerseits Philippe Joutard, »wird der Staatsbürger von der
Geschichtspflicht geformt, und nicht von der Erinnerungspflicht.«
(Ebd., 2001, S. 19).Die Erinnerung schließlich wird maßlos,
wenn sie sich einbildet, sich die Justiz einzuverleiben. Letztere hat nämlich
nicht zum Ziel, den Schmerz der Opfer zu lindern oder ihnen einen Ersatzwert für
den erlittenen Schmerz zu verschaffen. Ihr Zweck ist, die Verbrecher zu bestrafen
gemäß der objektiven Schwere ihrer Verbrechen und unter Berücksichtigung
der Umstände, unter denen sie verübt wurden. Wird die Justiz von der
Erinnerung annektiert, dann reduziert sie sich zwangsläufig auf die Rache,
während sie eigentlich gerade geschaffen wurde, um die Rache abzuschaffen.
(Ebd., 2001, S. 19-20).Nach dem Erscheinen des Schwarzbuchs
des Kommunismus (**)
haben manche erneut ein »Nürnberg des Kommunismus« gefordert.
Dieser Gedanke, erstmals von dem russischen Dissidenten Wladimir Bukowski (**)
vorgebracht und meist zu rein polemischen Zwecken wiederaufgegriffen, ist zumindest
fragwürdig. Wozu diejenigen aburteilen, die die Geschichte bereits verurteilt
hat? Die ehemaligen kommunistischen Länder können gewiß, wenn
sie es wünschen, ihre früheren verantwortlichen Politiker durchaus vor
Gericht stellen, denn die Justiz eines Staates stellt die innere Ordnung dieses
Staates sicher. Das gilt aber nicht für eine »internationale Justiz«,
die, wie vielfach erwiesen, auf einer irenischen (friedenstiftenden) Auffassung
der juristischen Funktion beruht, und zwar auf der Vorstellung, daß es möglich
sei, den Akt der Rechtsprechung dem ihm eigenen Kontext zu entziehen. Tiefgründiger
kann man auch die Ansicht vertreten, daß die Gerichte über Menschen
zu urteilen haben, und nicht über Ideologien oder politische Systeme. »Über
ein politisches System richten zu wollen«, äußerte Hannah Arendt,
»heißt über die Natur des Menschen richten zu wollen.«
(Ebd., 2001, S. 20).Vor über vierhundert Jahren verkündete
das Edikt von Nantes in seinem ersten Artikel bereits die Notwendigkeit, die Erinnerung
zum Schweigen zu bringen, um unter den Bürgern einen Frieden wiederherzustellen,
den die Religionskriege zunichte gemacht hatten: »Die Erinnerung an alle
beiderseitigen Geschehnisse von Anfang März 1585 bis zu Unserer Thronbesteigung
sowie während der vorhergehenden Unruhen und dieser wird erloschen sein,
als wenn nichts geschehen wäre; Unseren Generalprokuratoren und jeder öffentlichen
oder Privatperson wird es nicht erlaubt sein, sie bei welcher Gelegenheit auch
immer zu erwähnen.« (Ebd., 2001, S. 20-21).Die
Vergangenheit muß vergehen, nicht, um in Vergessenheit zu geraten, sondern,
um ihren Platz in dem einzigen Kontext zu finden, der ihr zukommt: in der Geschichte.
Nur eine historisierte Vergangenheit kann nämlich die Gegenwart angemessen
»informieren«, während eine ständig aktuell gehaltene Vergangenheit
nur eine Quelle von voreingenommenen Polemiken und von Mißverständnissen
sein kann. (Ebd., 2001, S. 21).ä
Der TotalitarismusDas
zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution erschienene und von einer Historikergruppe
unter der Leitung von Stephane Courtois verfaßte Schwarzbuch des Kommunismus
(**)
hat in Frankreich und anschließend im Ausland eine Debatte großen
Ausmaßes ausgelöst. Das Werk, dessen Vorwort der einige Monate zuvor
verstorbene Historiker François Furet hätte schreiben sollen, ist
bestrebt, im Lichte der heute verfügbaren Informationen eine genaue und dokumentarisch
belegte Bilanz der vom Kommunismus geforderten Menschenleben aufzustellen. Diese
Bilanz belaufe sich auf 100 Millionen Tote .... (Ebd., 2001, S. 23).Diese
Zahlen stellen genaugenommen keine Enthüllung dar. Von Anton Cilinga und
André Gide bis Krawtschenko, von Boris Souvarine bis Robert Conquest und
Solschenizyn hatten sich bereits zahlreiche Autoren für das sowjetische Straflagersystem
(Gulag) interessiert, für die absichtlich aufrechterhaltenen, wenn nicht
vom Kreml hervorgerufenen Hungersnöte, die 1921/'22 und 1932/'33 fünf
bzw. sechs Millionen Tote in der Ukraine forderten, für die Deportationen,
denen zwischen 1930 und 1953 sieben Millionen Menschen in der UdSSR (Kulaken,
Wolgadeutsche, Tschechenen, Inguschen und andere Kaukasusvölker) zum Opfer
fielen, für die Millionen Tote, die die chinesische Kulturrevolution forderte,
u.s.w.. Im Vergleich zu diesen früheren Arbeiten scheint die im Schwarzbuch
aufgestellte Bilanz übrigens eine Mindestbilanz: Es hatte auch schon wesentlich
höhere Schätzungen gegeben. (**).
(Ebd., 2001, S. 23-24).Während Stéphane
Courtois die Zahl der Opfer allein für die UdSSR auf 20 Millionen schätzt,
wagte Zbigniew Brzezinski (The Grand Failure, 1989; deutsch: Das gescheiterte
Experiment: der Untergang des kommunistischen Systems, 1989) zehn Jahre zuvor
eine Schätzung von 50 Millionen Toten. Rudolf J. Hummel ... ist der Ansicht,
daß das sowjetkommunististische System 61,9 Millionen Menschen zwischen
1917 und 1987 getötet hat (Lethal Politics, 1996). Robert Conquest,
dessen Arbeiten (in deutscher Sprache u.a.: Stalins Völkermord: Wolgadeutsche,
Krimtataren, Kaukasier; 1974; Stalin: der totale Wille zur Macht, 1991)
lange Zeit maßgebend waren, kam zu einer Gesamtzahl von 40 Millionen Opfern,
die Toten des Zweiten Weltkriegs nicht eingeschlossen. Dimitri Volkogonov (Lenin:
Utopie und Terror, 1994) schrieb von 35 Millionen Toten zwischen 1917 und 1953;
Jacques Julliard »von 40 Millionen Toten in der UdSSR« (»Les
pleureuses du communisme«, in: Le Nouvel Observateur; 19. September
1991, S. 58); Dimitri Panine von »60 Millionen Opfern«. Alexander
Solschenizyn kommt im zweiten Band seines Archipel Gulag ebenfalls auf
eine Zahl von 66 Millionen Opfern. Manche Forscher stützen ihre Berechnungen
auf eine Schätzung der demographischen Einbußen der russischen Bevölkerung.
Im Jahre 1917 zählte die UdSSR 143,5 Millionen Einwohner. Die Annexionen
von 1940 brachten 20,1 Millionen hinzu, die Gesamtbevölkerung betrug also
163,6 Millionen Einwohner. Von 1917 bis 1940 und von 1940 bis 1959 hätte
der natürliche Zuwachs dieser Bevölkerung bei einer durchschnittlichen
Geburtenrate von 2,7 Kindern pro Frau deren Volumen auf 319 Millionen Menschen
erhöhen müssen. Im Jahre 1959 wurden aber nur 208,8 Millionen Einwohner
in der UdSSR gezählt, das entsprach einem »Defizit« von 110,2
Millionen. Zieht man von letzterer Zahl die Zahl der Kriegsopfer (44 Millionen)
ab, so stelle der Rest - 66,2 Millionen Männer, Frauen und Kinder - die Zahl
der Menschenleben dar, die das sowjetische System gekostet hat (siehe den Artikel
des Demographen Kourganov, erschienen am 14. Apri1 1964 in der Zeitung Novie
Rousskoii Slova, 16. Mai 1977). Auf der anderen Seite der Skala behauptete
John Arch Getty noch vor fünfzehn Jahren, daß die Zahl der unter Stalin
hingerichteten Personen nie »einige Tausend« überschritten habe
(Origins of the Great Parges, 1985, S. 8). Siehe auch Jean-Pierre Dujardin,
»Cout du communisme: 150 millions de morts«, in Le Figaro-Magazine,
18. November 1978, S. 50 f. und S. 150; Robert W. Thurston, Life and Terror
in Stalins Russia, 1934-1941, New Haven 1998. (Ebd., 2001, Anmerkung
6, S. 24-25).Die Bedeutung des Buches (**)
liegt vielmehr darin, daß es sich auf eine gründliche, authentische
Dokumentation stützt, die größtenteils aus den inzwischen den
Forschern zugänglichen Moskauer Archiven stammt. Deshalb wurden die im Schwarzbuch
enthaltenen Zahlen kaum angezweifelt; einige Beobachter kamen daher zu dem Schluß,
daß »die Bilanz des Kommunismus das gewaltigste politische Blutbad
der Geschichte darstellt« (**)
oder daß die Wahrheit über »das bislang größte, blutigste
Verbrechersystem der Geschichte« (**)
nunmehr feststehe. (Ebd., 2001, S. 26).Ohnehin ist die Diskussion
weniger von den Fakten als von deren Auslegung ausgelöst worden. Überall
in der Welt, bemerkt Stéphane Courtois, haben sämtliche kommunistischen
Regime »den Massenmord zum echten Regierungssystem erhoben«. Es wäre
logisch, daraus zu folgern, daß der Kommunismus nicht im Widerspruch zu
seinen Grundsätzen getötet hat, sondern in Übereinstimmung mit
ihnen - mit anderen Worten, daß der Kommunismus nicht nur ein System gewesen
ist, das Verbrechen begangen hat, sondern auch ein System, dessen Wesen selbst
kriminell war. »Niemand mehr«, schreibt Tony Judt, »wird nun
noch das kriminelle Wesen des Kommunismus in Zweifel ziehen können.«
(**). Hinzu kommt, daß
der Kommunismus viel mehr, über einen längeren Zeitraum und bereits
vor dem Nationalsozialismus getötet hat. »Die von Lenin erarbeiteten
und von Stalin und seinen Schülern systematisierten Methoden lassen an die
Methoden der Nazis denken, nehmen sie aber oftmals voraus«, schreibt Courtois
(S. 27). Allein schon Diese Tatsache , fügt er hinzu, regt an »zum
Nachdenken über die Ähnlichkeit, die zwischen dem NS-Regime, das seit
1945 als das verbrecherischste System angesehen wird, und dem kommunistischen
besteht, dessen Legitimität auf internationaler Ebene bis 1991 unangefochten
war, das bis heute in bestimmten Ländern die Macht innehat und nach wie vor
über Anhänger in der ganzen Welt verfügt.« (Ebd.).
(Ebd., 2001, S. 26-27).Diese beiden Fragen waren es, an die die
Diskussion anknüpfte. Die Vorstellung, daß der Kommunismus als verbrecherisch
an sich und als potentiell exterminatorisch angesehen werden kann, stößt
nämlich weiterhin auf stärksten Widerstand. Das gilt ebenfalls für
das Postulat der Vergleichbarkeit von Kommunismus und Nationalsozialismus. Weil
er diese beiden Themen angesprochen hat, wurde Stéphane Courtois mit seltener
Heftigkeit von Autoren angegriffen, die im Zusammenhang mit seinem Buch nicht
gezögert haben, von »intellektuellem Schwindel« und von »Propagandaaktion«
(Gilles Perrault) zu sprechen, von »Gemisch« (Jean-Marie Colombani),
von »Geschenk an die Front National zur Zeit des Papon-Prozesses«
(Lilly Marcou), von »makabrer Buchführung eines Großhändlers«
(Daniel Bensaid), von »ideologischem Pamphlet« (Jean-Jacques Marie),
von »Betrug« (Maurice Nadeau), von »Negierung der Geschichte«
(Alain Blum) und sogar von »Negationismus« [Revisionismus] (Adam Rayski).
(Ebd., 2001, S. 27).Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß
man Stéphane Courtois vorwerfen konnte, einen Satz wie den folgenden geschrieben
zu haben: »Der Tod eines ukrainischen Kulakenkindes, das das stalinistische
Regime gezielt der Hungersnot auslieferte, wiegt genauso schwer wie der Tod eines
jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto.« (S. 21). Man könnte nämlich
der Meinung sein, daß nicht dieser Satz skandalös ist, sondern die
Tatsache, daß man ihn beanstandet. Philippe Petit hat sogar geschrieben,
»daß nicht alle Toten gleich zählen« (**).
Er hat allerdings nicht die Bewertungskriterien näher beschrieben, die eine
Unterscheidung zwischen Opfern ersten und zweiten Ranges ermöglichen würden.
Daß man heutzutage noch Argumente liefern muß, um der Meinung sein
zu dürfen, daß ein Verbrechen ein Verbrechen ist, oder um nachzuweisen,
daß alle Opfer gleich zählen, sagt viel über den Zeitgeist.
(Ebd., 2001, S. 27-28). Die
Vorstellung, daß man das kommunistische und das nationalsozialistische Regime
vergleichen könne, haben die Kommunisten immer empört zurückgewiesen.
Man vergißt meistens, daß sie von den Nationalsozialisten wohl mit
der gleichen Empörung zurückgewiesen worden wäre. Dennoch haben
seit langem so unterschiedliche Autoren wie Jacques Bainville, Elie Halevy, George
Orwell, Victor Serge, André Gide, Simone Weil, Marcell Mauss oder Bernard
Shaw diesen Vergleich angestellt. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg stellte Waldemar
Gurian Hitler als »Lenins späten Bruder« und den Nationalsozialismus
als »braunen Bolschewismus« (**)
dar, während Trotzki im Jahre 1938 den Stalinismus und den Nationalsozialismus
als »symmetrische Erscheinungen« bezeichnete. Wer die traurige Ehre
hatte, nacheinander in sowjetischen und in nationalsozialistischen Lagern interniert
zu werden, konnte konkret vergleichen. Nach ihrer Befreiung aus dem Lager Ravensbrück
(sie hatte einer Gruppe deutscher Kommunisten angehört, die der NKWD übergangslos
von den Todeslagern Sibiriens in die Gefängnisse der Gestapo gebracht hatte)
erklärte Margarete Buber-Neumann: »Ich glaube nicht, daß es einen
Unterschied zugunsten der sowjetischen Lager gegeben hat oder noch gibt.«
(**). Sie
wurde sofort mundtot gemacht. (Ebd., 2001, S. 29-30).Ebendieser
Vergleich diente später als Grundlage für die Erforschung des Totalitarismus;
auf den Begriff des Totalitarismus, den unter anderen Hannah Arendt theoretisierte,
werden wir noch zurückkommen. Auch hat Allan Bullock eine Parallelbiographie
von Hitler und Stalin verfaßt. (**).
Vor nicht allzu langer Zeit äußerte François Furet: »Der
stalinisierte Bolschewismus und der Nationalsozialismus bilden die zwei Beispiele
der totalitären Regime im 20. Jahrhundert. Sie sind nicht nur miteinander
vergleichbar, sie bilden auch für sich allein gewissermaßen eine politische
Kategorie.« (**).
Derselbe Autor hatte lange nach den tieferen Gründen gesucht für die
Weigerung, beide Systeme miteinander zu vergleichen. »Dieses Verbot, von
den Untröstlichen wie eine quasi-religiöse Wahrheit verinnerlicht«,
schrieb er, »ermöglicht nicht, den Kommunismus in seiner tiefsten Wirklichkeit
zu denken, und die ist totalitär.« (**).
Nationalsozialismus und Kommunismus wurden von Pierre Chaunu als »heterozygote
Zwillinge« (**)
beschrieben. In seiner Mitteilung anläßlich der öffentlichen Jahressitzung
des Institut de France nach der Sommerpause 1998 stellte Alain Besançon
sie als »gleichermaßen kriminelle« (**)
Systeme dar. (Ebd., 2001, S. 30-31).Der Vergleich zwischen
Kommunismus und Nationalsozialismus ist in Wirklichkeit nicht nur legitim, sondern
auch unbedingt notwendig, denn ohne ihn werden beide Erscheinungen unverständlich.
Man kann sie - und mit ihnen die Geschiche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
- nur dann begreifen, wenn man sie »zusammen auffaßt« (Furet),
sie »in ihrer Zeit« (Nolte),
das heißt in dem ihnen gemeinsamen historischen Moment, untersucht. Einer
der Pfeiler, die diesen Erkenntnisweg stützen, ist, was Ernst Nolte einen
»kausalen Nexus« zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus genannt
hat. In mancher Hinsicht erscheint der Nationalsozialismus nämlich als symmetrische
Reaktion auf den Kommunismus, als »ein Antimarxismus«, so Nolte, »der
den Feind zu vernichten sucht, indem er eine gleichwohl verwandte, so doch völlig
gegensätzliche Ideologie entwickelt und indem er nahezu identische, wenn
auch in typischer Weise abgewandelte Methoden anwendet«. Beim »Marsch
auf Rom« im Jahre 1922 gedachte Mussolini bereits, gegen die »rote
Gefahr« Front zu machen. Ein Jahr später, beim Marsch auf die Feldherrnhalle,
baute der entstehende Nationalsozialismus auf die Erinnerung an die bayerische
Räterepublik und die spartakistischen Aufstände. Angesichts von parlamentarischen
Systemen, die als schwach und ungeeignet wahrgenommen wurden, erschien der »national«-revolutionäre
Staatsstreich als logische Antwort auf den bolschewistischen Staatsstreich, wobei
er gleichzeitig in das Zivilleben Handlungsweisen einführte, die auf die
Erfahrungen in den Schützengräben zurückgingen. Nun konnte sich
der Nationalsozialismus als ein Antikommunismus definieren, der dem Gegner seine
Formen und Methoden, allen voran seine Terrormittel, endehnt hatte. Diese bereits
1942 von Sigmund Neumann vertretene These hat Nolte in seiner »historisch-genetischen«
(**)
Deutung des totalitären Phänomens systematisiert. (**).
Sie zwingt dazu, nach den Verhältnissen gegenseitiger Erzeugung und gegenseitiger
Wechselwirkung oder Abhängigkeit zwischen beiden Systemen zu fragen. Auf
die Spitze getrieben, kann sie auch zu einer Vernachlässigung ihrer ideologischen
Wurzeln führen, die vor dem Ersten Weltkrieg liegen; sie enthält dennoch
zweifellos einen Teil der Wahrheit. Diese These kann man anders formulieren mit
der Frage, ob der Nationalsozialismus die ihn kennzeichnenden Formen angenommen
hätte, wenn es den sowjetischen Kommunismus nicht gegeben hätte. Die
Antwort ist höchstwahrscheinlich negativ; »Die Zwangsverschickung in
Arbeitslager«, bemerkt Alain Besançon, »wurde vom sowjetischen
System erfunden und systematisiert. Der Nationalsozialismus hat es nur nachgeahmt.«
(Ebd., 2001, S. 31-32).Ein weiterer Grund, der den Vergleich zwischen
beiden Systemen rechtfertigt, ist die enge dialektische Verflechtung ihrer Geschichte.
Wie das sowjetische System im Namen des »Anrifaschismus«, so hat das
nationalsozialistische System im Namen des Antikommunismus ständig mobil
gemacht. Das zweite sah in den liberalen Demokrarien schwache Regierungsformen,
die zum Kommunismus zu führen drohten, während das erste sie verurteilte,
als könnten sie dem »Faschismus« den Weg ebnen. Der antinazistisch
ausgerichtete Kommunismus versuchte zu zeigen, daß jeder konsequente Antinazismus
zum Kommunismus führe. Der antikommunisrisch eingestellte Narionalsozialismus
versuchte wiederum, den Antikommunismus auf eine ähnliche Weise zu instrumentalisieren,
indem er sich durch den Bezug auf einen vermeintlichen gemeinsamen Feind legitimierte.
Dieser Versuch des Nationalsozialismus bzw. des Kommunismus, aus dem Antikommunismus
bzw. aus dem Antinazismus Kapital zu schlagen, blieb nicht fruchdos. Wie George
Orwell bemerkt hat, sind in den 1930er Jahren viele Narionalsozialisten geworden
aus einer begründeten Abscheu vor dem Kommunismus, während viele aus
einer begründeten Abscheu vor dem Nationalsozialismus Kommunisten wurden.
Die begründete Angst vor dem Kommunismus trieb manch einen, Hitler in seinem
»Kreuzzug gegen den Bolschewismus« zu unterstützen, die begründete
Angst vor dem Nationalsozialismus, in der Sowjetunion die letzte Hoffnung der
Menschheit zu sehen. (Ebd., 2001, S. 32-33).Vergleichen bedeutet
natürlich nicht gleichsetzen: Vergleichbare politische Systeme sind nicht
zwangsläufig gleich, auch wenn manche Autoren es im Falle des Kommunismus
und des Nationalsozialismus behaupteten. (**).
Vergleichen bedeutet, zwei bestimmte Arten ein und derselben Gattung, zwei einzigartige
Phänomene innerhalb derselben Kategorie nebeneinander hinzustellen, um sie
unter bestimmten Gesichtspunkten gemeinsam zu betrachten. Vergleichen heißt
auch nicht verharmlosen oder relativieren. Die Opfer des Kommunismus lassen ebenso
wenig die Opfer des Nationalsozialismus verblassen wie umgekehrt. Man kann sich
also nicht auf die Verbrechen eines Regimes stützen, um die Schwere der von
einem anderen begangenen Verbrechen zu rechtfertigen oder zu verringern: Tote
heben einander nicht auf, sie kommen hinzu. Daß der Kommunismus noch zerstörerischer
war als der Nationalsozialismus, macht diesen nicht besser oder zum geringeren
Übel, denn die Wahl hat sich nie auf eine Alternative zwischen beiden beschränkt.
(Ebd., 2001, S. 33-34). Der
Kommunismus hat noch mehr Menschenleben zerstört als der Nationalsozialismus,
und trotzdem herrscht weiterhin die Meinung vor, daß der Nationalsozialismus
etwas viel schlimmeres als der Kommunismus gewesen sei. Wie ist das möglich?
Wie kann man angesichts zweier gleichermaßen zerstörerischer Systeme
dasjenige für weniger abscheulich halten, das den größten Schaden
angerichtet hat? Wie kann man die Vorstellung, daß sie miteinander verglichen
werden können, weiterhin ablehnen? Um einen solchen Standpunkt zu vertreten,
muß man sich natürlich von der jeweiligen Bilanz beider Systeme abwenden,
da der Vergleich nicht auf der Linie dessen liegt, was man beweisen will.
(Ebd., 2001, S. 35).Das am häufigsten vorgebrachte Argument
beruft sich auf die Unterschiede in den zugrunde liegenden Intentionen. Der Nationalsozialismus
sei eine Lehre des Hasses gewesen, der Kommunismus eine der Befreiung. Der Kommunismus
sei von der Liebe zur Menschheit (von »der vollkommenen Vereinigung«,
sagt Robert Hue) getragen gewesen, der Nationalsozialismus von der Ablehnung des
Menschheitsbegriffs. So beteuert Jean-Jacques Becker, daß »dem Kommunismus
ein Humanismus zugrunde liegt, ganz im Gegensatz zum Nationalsozialismus«.
(**). »Der
Kommunismus«, schreibt seinerseits Roger Martelli, »fügt sich
in eine rationalistische, humanistische Auffassung von einer Gleichheit zwischen
den Menschen ein.« (**).
»Die Wurzel des Nationalsozialismus«, so Roland Leroy, »ist
der Menschenhaß .... Die Grundlage des Kommunismus ist Menschenliebe.«
Guy Konopnicki: »Man wurde Nazi aus Haß auf das Menschengeschlecht.
Kommunist wurde man aus völlig ent gegengesetzten Gründen.« (**).
(Ebd., 2001, S. 35-36).Das Argument heißt letzten Endes nicht,
daß der Zweck die Mittel heiligt, sondern daß die Mittel den Zweck
nicht vergessen machen sollen und vor allem, daß sie ihn nicht diskreditieren.
Die Diskussion um die Frage, ob ein »hehres« Ziel nicht doch bestimmte
Mittel, es zu erreichen, annehmbarer mache, bleibt dann offen. Daraus wird gefolgert,
daß die Verbrechen des Nationalsozialismus vorhersehbar waren, die des Kommunismus
dagegen nicht. Stalins Verbrechen würden aus einer Pervertierung des Kommunismus
resultieren, der »an sich ein Ideal menschlicher Befreiung« (**)
darstellte, wohingegen Hitlers Verbrechen unmittelbar aus seiner offensichtlich
haßerfüllten und zerstörerischen Ideologie hervorgehen würden.
Der Nationalsozialismus sei mit einem Serienmörder vergleichbar, der Kommunismus
mit dem vom Pech verfolgten Altruisten, der diejenigen tötet, denen er zu
Hilfe kommen wollte. Mit der Vernichtung von Menschenleben habe der aus Berufung
verbrecherische Nationalsozialismus seine Versprechungen gehalten und sein Programm
in die Tat umgesetzt. Der aus Versehen verbrecherische Kommunismus habe die seinen
verraten. Die Praktiken des Nationalsozialismus ließen sich unmittelbar
aus seiner Lehre ableiten, während die des sowjetischen Kommunismus »sozusagen
die ungeschickte Anwendung einer heilsamen Ideologie darstellten«. (**).
Der Kommunismus sei also nur durch Zufall, aus Versehen oder aus Ungeschick zerstörerisch
geworden. Da seine Verbrechen auf eine falsche Auslegung oder eine Verirrung zurückzuführen
seien, sei der kommunistische Terror mit einem unglücklichen Mißgeschick,
mit einem »gewissermaßen meteorologischen Unglücksfall«
(Alain Besançon) gleichzusetzen. Kurzum, der Kommunismus könne sich
trotz seiner 100 Millionen Toten als ein Denken der brüderlichen Liebe definieren,
das ungewollt dem Haß verfallen sei - als ein ehrenhaftes Projekt, das schiefgelaufen
sei. (Ebd., 2001, S. 36-38).Die menschlichen Kollateralschäden
des Kommunismus seien nunmehr einer »Abweichung«, einer »Abirrung«
zuzuschreiben, die uns als solche uns nichts über das eigentliche Wesen des
Systems zu lehren habe. Das behauptete Claude Lefort noch im Jahre 1956. Zwanzig
Jahre später, anläßlich der Veröffentlichung des Archipel
Gulag, beschrieb Jean Elleinstein den Stalinismus ebenfalls als bloßen »Unfall«(**).
Der sowjetische Terror, erklärt heute Jean-Jacques Becker, resultiere vor
allem aus dem »Unvermögen seiner Führer, ein weiterhin auf sozialer
Gerechtigkeit und Lebensglück gründendes Ideal mit anderen Mitteln durchzusetzen«
(**). Die kommunistischen
Kämpfer, setzt Gilles Perrault noch eins drauf, »hingen einem Projekt
an, das universell und befreiend sein wollte. Daß dieses Ideal vom rechten
Weg abgebracht wurde, schmälert überhaupt nicht deren Beweggründe«.
»Zu behaupten, daß Kommunismus = Nazismus ist«, fügt Madeleine
Reberioux, Ehrenvorsitzende der Liga für Menschenrechte, hinzu, »heißt
vergessen ..., daß die UdSSR niemals den Ausschluß einer Menschengruppe
vom Staatsgrundgesetz organisiert hat« (**).
Die kommunistischen Verbrechen führten alles in allem zum Fortschritt.
(Ebd., 2001, S. 38).Diese Argumentation verdient es, näher
untersucht zu werden. (Ebd., 2001, S. 38). »Man
kann sich mit Recht fragen«, schreibt Stéphane Courtois, »inwiefern
das Töten aus der Hoffnung auf »eine bessere Zukunft« entschuldbarer
sei als das Morden im Namen einer Rassenlehre; inwiefern die Illusion - oder Heuchelei
- mildernde Umstände für Massenmorde bildet.« (**).
Es leuchtet nämlich nicht ein, weshalb es weniger schlimm oder zumindest
weniger verwerflich wäre, diejenigen umzubringen, denen man das Glück
versprochen hat, als diejenigen zu töten, denen man solches nicht verheißen
hat. Es leuchtet nicht ein, warum eine Ideologie weniger verwerflich wäre,
nur weil sie die verlogenste ist. Böses zu tun im Namen des Guten ist nicht
besser, als Böses zu tun im Namen des Bösen. Die Zerstörung der
Freiheit im Namen der Freiheit ist nicht besser als ihre Zerstörung im Namen
der Notwendigkeit, sie zu beseitigen. In mancher Hinsicht ist es sogar schlimmer.
Ein Laster ist noch weniger entschuldbar, wenn es von Tugendlehrern ausgeübt
wird, denn diese sind noch mehr als andere gehalten, ihre Grundsätze zu befolgen.
Man kann auch die Meinung vertreten, daß Verbrecher um so gefährlicher
sind, desto mehr sie sich als Wohltäter der Menschheit darstellen. »Der
Kommunismus ist perverser als der Nationalsozialismus«, schreibt zum Beispiel
Alain Besançon, »da er sich des Geistes der Gerechtigkeit und der
Güte bedient, um das Böse zu verbreiten« (**).
Es entbehrt also nicht einer gewissen Logik, ein System strenger zu beurteilen,
dessen Absichten gut gewesen sein mögen, das aber »in Wirklichkeit
überall, wo es sich mit Gewalt durchgesetzt hat, eine gigantische Opferzahl
verursachte, als eine Partei, deren Absichten von vornherein als schlecht zu bezeichnen
sind« (**).
Mit anderen Worten, die erschwerenden Umstände sind nicht auf der Seite,
auf der man sie vermutet. (Ebd., 2001, S. 39-40).Es stellt
sich sodann die Frage, ob die politischen Regime über ihre Absichten oder
über ihre Handlungen zu beurteilen sind. Es sei bemerkt, daß Marx als
erster die Moral der Intention nicht anerkannte und daß der Kommunismus
immer behauptet hat, vor allem eine neue Praxis verwirklichen zu wollen. Die Reinheit
der ursprünglichen Absichten anzuführen ist für einen Kommunisten
daher nichts anderes, als in »so etwas wie jenes von Marx so sehr verunglimpfte
bürgerliche Pharisäertum« (**)
zurückzufallen. Chantal Delsol bemerkt: »Wenn ein Idealist seit achtzig
Jahren Verbrechen verübt und sich aufgrund seiner ursprünglichen Absicht
dagegen verwahrt, ein Krimineller genannt zu werden, dann hat die Absicht einen
breiten Rücken.« (**).
Daß sich die letzten Marxisten dieses Landes in die Moral der Absicht flüchten«,
fügt Jacques Julliard hinzu, »wird für den, der gern lacht, einer
der besten Witze dieser Jahrhundertwende bleiben.« (**).
(Ebd., 2001, S. 40-41).Zu behaupten, daß das Ideal unversehrt
bleibt, wenn die Absicht gut ist, heißt außerdem behaupten, daß
die Richtigkeit einer Lehre sich mit der Aufrichtigkeit desjenigen deckt, der
sich auf sie beruft. (»Wichtig ist nicht, daß meine Rede wahr ist,
sondern daß sie aufrichtig ist«, schreibt wortwörtlich Albert
Jacquard [Petite philosophie a l'usage des non-philosophes, 1997, S. 205].)
Diese Haltung ist heute weitverbreitet. Sie geht mit einer zugleich subjektiven
und moralischen Betrachtung der Ideengeschichte einher. Statt zwischen den richtigen
und den falschen Ideen zu unterscheiden, unterscheidet man lieber zwischen »guten«
und »schlechten«, ohne übrigens näher anzugeben, im Vergleich,
zu was sie als solche angesehen werden sollten. (Das ist einer der Gründe,
weshalb man sich nicht mehr die Mühe macht, falsche Ideen zu widerlegen.)
Wenn man das kommunistische Ideal als »edles« Ideal bezeichnet, hat
man aber in Wirklichkeit noch nichts gesagt. Zwei Fragen tauchen nämlich
sofort auf. Die erste lautet: nach welchen Kriterien »edel«? Und die
zweite: Ist eine »edle« Idee zwangsläufig richtig? Kommunismus
und Nationalsozialismus sind zwei politische Systeme, die auf falschen Ideen beruhten.
Gegenüber dieser Feststellung hat ihr jeweiliger, tatsächlicher oder
vermuteter) Edelmut« keinerlei Bedeutung. Und wir möchten hinzufügen:
Wenn man im Namen einer »edlen« Idee zehnmal soviel Menschen umbringen
kann als im Namen einer Haßdoktrin, dann ist es vielleicht höchste
Zeit, Edelmut zu mißtrauen. (Ebd., 2001, S. 41).Schließlich
bleibt anzumerken, daß man sich bei dieser Spiegelfechterei des menschlichen
Unglücks bewußt auf die Seite der Henker stellt, und nicht auf die
der Opfer. Wenn man nun auch Opfer einer schönen, obgleich auf Abwege geratenen
Idee ist, so bleibt man nichtsdestotrotz Opfer: Wenn einer eine Kugel ins Genick
bekommt, wo liegt für ihn der Unterschied? Als die Inquisition Menschen zu
ihrem Wohl auf den Scheiterhaufen schickte, fühlten sie sich dadurch nicht
getröstet. Wenn die angewandten Mittel die gleichen sind, verwischt sich
der Unterschied zwischen den angestrebten Zielen. (Ebd., 2001, S. 41-42). Es
genügt nicht zu sagen, der Kommunismus sei eine schöne Idee, die sich
schlecht entwickelt hat. Man muß auch noch erklären, wie sie sich schlecht
entwickeln konnte, das heißt, sich fragen, wie eine schöne Idee - weit
davon entfernt, gegen das Grauen immun zu machen - dessen Entfaltung ebenso wenig
verhindert wie eine schlechte Idee. Wenn man behauptet, die beiden Systeme seien
ursprünglich von völlig entgegengesetzten Inspirationen ausgegangen,
dann wird es um so schwieriger zu erklären, daß sie sich am Zielpunkt
wieder treffen konnten. Wie war es möglich, im Namen des Guten zu verfolgen,
zur Befreiung des Menschen Konzentrationslager einzurichten und im Namen des Fortschritts
den Terror einzuführen? Wie konnte die Hoffnung zum Alptraum werden? Das
ist eine wahrhaft philosophische Frage. (Ebd., 2001, S. 43).Die
vorgelegte Antwort hat leider nichts Philosophisches an sich. Sie begnügt
sich damit, die Umstände vorzuschieben. Die leninistische Gewalt sei die
Erbin der zaristischen Gewalt gewesen. .... Sie habe sich aus der Notwendigkeit
für die Bolschewiken ergeben, gegen die gewaltige Opposition der weißen
Armeen während des Bürgerkrieges Front zu machen. Die Bolschewiken,
die in einem Land ohne demokratische Tradition an die Macht kamen, seien gegen
ihren Willen in einen »Kreislauf der Gewalt hineingetrieben worden, den
sie nicht aufualten konnten« (Michel Dreyfus). Diese Gewalt sei jedoch in
gewissen Grenzen gehalten worden. Dagegen stelle der stalinistische Terror eine
Abweichung vom russischen Kommunismus bzw; dessen radikale Entartung dar: Die
Gewalt habe an dieser Stelle nicht ihr Ausmaß verändert, sondern ihr
Wesen. (Ebd., 2001, S. 43-44).Aber gerade diese Erklärung
ist seit der Veröffentlichung des Schwarzbuchs nicht mehr haltbar.
Die Fabel vom »guten« Lenin und vom »bösen« Stalin
widerlegend, zeigt das Schwarzbuch nämlich, daß sich das Terrorsystem
in der Sowjetunion gleich nach Lenins Machtübernahme etablierte. Dieser hatte
bereits 1914 geschrieben: »Das ganze Wesen unserer Arbeit zielt auf die
Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg«, der selber nur »die
Fortsetzung, die Entwicklung und die natürliche Verstärkung des Klassenkampfes«
sei. Die Tscheka wurde am 20. Dezember 1917 gegründet. (Sie wurde im März
1922 in GPU umbenannt, bevor sie nacheinander den NKWD, den NKGB, den MGB und
den KGB ins Leben rief.) Trotzki erklärte sofort: »In weniger als einem
Monat wird der Terror extrem gewaltsame Formen annehmen, so wie es auch bei der
französischen Revolution gekommen ist.« Während das zaristische
Regime zwischen 1825 und 1917 insgesamt 6321 Todesurteile hatte fallen lassen,
wobei ein Gutteil von denen in Zwangsarbeitsstrafen umgewandelt worden war, hatte
die erst fünf Monate amtierende Lenin-Regierung im März 1918 bereits
18000 Menschen töten lassen. (**).
Am 26. Juni 1918 schrieb Lenin an Sinovjew: »Man soll keine Bedenken tragen,
die Sowjetabgeordneten mit Massenterror zu treffen, wenn es zu handeln gilt.«
Am 31. August ordnete Dserschinski, der Chef der Tscheka, die Deportation von
jedem Individuum an, »das auch nur die geringste Propaganda gegen das sowjetische
Regime zu betreiben wagt«. Die Verordnung über die Errichtung von Konzentrationslagern
wurde am 10. September in den Iswestija veröffentlicht. Trotzki stellte
klar, daß »die Frage, wem die Macht gehört, nicht durch die Bezugnahme
auf Verfassungsartikel zu lösen sein wird, sondern durch die Anwendung von
sämtlichen Formen von Gewalt«. Im Jahre 1921 zählte man schon
sieben Konzentrationslager, in denen überwiegend Frauen und Greise untergebracht
waren. Im Jahre 1923 waren es fünfundsiebzig, und bis zu diesem Datum waren
bereits 1,8 Millionen Oppositionelle hingerichtet worden. (Ebd., 2001, S.
44-45).Als bloße Verlängerung der vorrevolutionären
politischen Kultur läßt sich der kommunistische Terror also nicht deuten.
.... Und schließlich kann er auch nicht als bloßer Gegenschlag gegen
den »weißen Terror« betrachtet werden: Ihr ganzes Ausmaß
erreichte die Repression vielmehr erst, als der Bürgerkrieg zu Ende war.
(Ebd., 2001, S. 45).Das Argument der »Umstände«
regt dazu an, die kommunistischen Verbrechen im Zusammenhang zu betrachten, das
heißt, die historische Verkettung der Ursachen und Wirkungen zu berücksichtigen,
etwa die Notwendigkeit, sich gegen den Feind zu wehren. Hinsichtlich der NS-Verbrechen
wird dieser Weg selten beschritten. Dennoch: Wenn der kommunistische Terror nichts
Kommunistisches an sich hatte, könnte man ebensogut behaupten, der NS-Terror
habe nichts spezifisch Nationalsozialistisches an sich gehabt. Bei allem Anspruch
auf Allgemeingültigkeit sei der Kommunismus gewissermaßen »geographielöslich«.
Die Tatsache aber, daß er überall dort, wo er an die Macht kam, zerstörerisch
war, läßt einen skeptisch gegenüber dem entscheidenden Einfluß
des Kontextes werden. Werden die Umstände vorgeschoben, muß man sich
fragen, wie sich diese Umstände überall wiederholen konnten. Es ist
ebenso schwierig, im Terror das Ergebnis einer »Abweichung« zu sehen,
wenn diese bereits in der Anfangszeit des Systems in Erscheinung tritt. Wenn Stalin
das von Lenin gegründete Terrorsystem lediglich systematisiert hat, kann
das kommunistische Ideal schwerlich seinen praktischen Anwendungen gegenübergestellt
werden. Natürlich kann man behaupten, daß das sowjetische System nie
etwas mit dem Kommunismus zu tun gehabt habe. Aber wenn Lenin kein Kommunist war,
wer war es dann? (Ebd., 2001, S. 46). »Inwiefern
sind Verbrecher, die sich auf das Gute berufen, weniger verdammenswert als Verbrecher,
die sich auf das Böse berufen?« fragt Jacques Julliard (**).
Die Frage ist zutreffend, sie ist aber schlecht formuliert. Ebenso wie der Kommunismus
hat sich der Nationalsozialismus nämlich niemals auf »das Böse
berufen«. Er hat sich auf Ansichten berufen, die man zu Recht für falsch
und damit für schlecht halten kann - und das ist etwas ganz anderes. Wir
können aber nicht so tun, als würde das Urteil, das wir über ihn
fallen, dem entsprechen, das er über sich selbst fällte. Sonst könnten
wir ebensogut behaupten, der Kommunismus habe sich nicht auf das Gute berufen,
sondern auf das Böse, gemessen an dem Abscheu, den seine Ideen uns einflößen
können. (Ebd., 2001, S. 47).Die Argumentation, die darin
besteht, die »Haßdoktrin« des Nationalsozialismus und das »Ideal
menschlicher Emanzipation« des Kommunismus gegenüberzustellen, ist
in diesem Sinne völlig schief. Sie läuft darauf hinaus, eine Definition
des Kommunismus durch seine Anhänger einer Definition des Nationalsozialismus
durch seine Gegner gegenüberzustellen. Unter diesen Voraussetzungen ist es
nicht schwierig, den ersteren als das geringere Übel erscheinen zu lassen.
Aus einer künstlichen Asymmetrie wird ein nicht weniger künstlicher
Schluß gezogen: non sequitur. (Ebd., 2001, S. 47-48).In
Wirklichkeit gedachte der Nationalsozialismus nicht weniger als der Kommunismus,
diejenigen zu »beglücken«, an die er sich wandte. Seinen Anhängern
bot er nicht weniger »glänzende« Zukunftsaussichten. Das Gegenteil
zu behaupten - wie etwa Daniel Lindenberg, dem zufolge die Nazis »manche
Zustimmung auf Grund ihrer Lobpreisung des Mordes erzielten« - macht die
Unterstützung durch die Massen unerklärlich. Zu behaupten, daß
ein politisches System Begeisterung hervorrufen kann, indem es sich offen als
Träger einer »Haßdoktrin« darstellt, heißt, seine
Anhänger als Verrückte, Kranke, Verbrecher oder Perverse anzusehen.
Man muß dann aber erklären, wie ein ganzes Volk verrückt werden
kann. Ist das Volk es von Natur aus - welche Vorstellung hat man dann von der
Natur des Menschen? Wird es dagegen zufällig verrückt, wie fängt
es dann an und wie hört es auf, verrückt zu werden? (Ebd.,
2001, S. 48).Nationalsozialismus und Kommunismus haben die Massen
verführt mit unterschiedlichen Idealvorstellungen, die aber gleichermaßen
anziehend erscheinen mochten. Das ganze Problem rührt daher, daß die
Verwirklichung dieser idealen Vorstellungen in beiden Fällen die Vernichtung
des einen Teils der Menschheit einschloß. Die Unterscheidung zwischen der
Vernichtung als Mittel zur Verwirklichung eines politischen Ziels und der Vernichtung
als Selbstzweck ist so gesehen fragwürdig: Kein einziges Regime hat die von
ihm verübten Massenmorde jemals als »Selbstzweck« angesehen.
Stephane Courtois bezeichnet den »Rassengenozid« und den »Klassengenozid«
als zwei Subkategorien des »Verbrechens gegen die Menschlichkeit«.
Die Vorgehensweise ist jedenfalls die gleiche. Die Utopie
der klassenlosen Gesellschaft und die Utopie der reinen Rasse verlangten beide
die Ausschaltung derjenigen Menschen, die der Verwirklichung eines »großartigen«
Entwurfs, nämlich der Entstehung einer von Grund auf besseren Gesellschaft,
im Wege standen. In beiden Fällen führte die Ideologie (Rassenkampf
oder Klassenkampf) zum Ausschluß eines »schlechten« Prinzips,
vertreten durch Kategorien (»untere« Rassen oder »schädliche«
Klassen) von Menschen, deren einziges Verbrechen es war, ihnen anzugehören,
das heißt, zu existieren. In beiden Fällen wurde ein absoluter Feind
bestimmt, mit dem einen Kompromiß zu schließen undenkbar war. Daraus
entwickelte sich in beiden Fällen eine gleichermaßen geplante Schreckensherrschaft.
Klassenhaß oder Rassenhaß, soziale oder rassische Prophylaxe ist ein
und dasselbe. (Ebd., 2001, S. 48-49).In dieser Hinsicht stellt
die »Klasse« keine Kategorie dar, die weniger starr und unauslöschlich
als die »Rasse« wäre. Die eine wie die andere wurden gleichermaßen
verabsolutiert. Am 1. November 1918 erklärte Martyn Latsis, einer der ersten
Leiter der Tscheka: »Wir führen keinen Krieg gegen einzelne Personen.
Wir rotten die Bourgeoisie als Klasse aus. Suchen Sie in der Untersuchung nicht
nach Dokumenten und Beweisen bezüglich dessen, was der Angeklagte getan hat
.... Die erste ihm zu stellende Frage ist, welcher Klasse er angehört.«
Am 24. Januar 1919 ordnete das Zentralkomitee der KPdSU an, daß die Kosaken
»bis zum letzten vernichtet und physisch liquidiert« werden sollen.
»Die Kulaken sind keine Menschen«, befand später Stalin. Im Jahre
1932 fügte Maxim Gorki hinzu: »Der Klassenhaß muß gepflegt
werden, mit einem Grundabscheu vor dem Feind als minderem Wesen. Es ist meine
innere Überzeugung, daß der Feind sehr wohl ein minderwertiges Wesen,
ein ebenso physisch wie auch moralisch Entarteter ist.« Im Jahre 1940 ließ
die Rote Armee bei ihrem Einmarsch in die baltischen Länder verkünden,
daß die eroberten Bevölkerungen »aufgrund ihrer Vergangenheit
und der Taten der vorhergehenden Generationen« beurteilt würden. Aus
der Sicht eines Lyssenko, der die Vererbbarkeit erworbener Charakterzüge
behauptete, konnten soziale Makel ebensogut für genetisch vererbbar gehalten
werden. (Ebd., 2001, S. 49-50). François
Furet hat geschrieben, daß Nationalsozialismus und Kommunismus »einander
gegenüberstehen wie das Besondere und das Allgemeine«. (Er hätte
anmerken können, daß dieser Gegensatz einen gewissen dialektischen
Charakter aufgewiesen hat: vom Internationalismus zum »Sozialismus in einem
emzigen Land« im Falle Stilins, vom deutschen Nationalismus zum universalen
Rassismus im Falle Hitlers.) Andere haben dem Kommunismus zugute gehalten, wenigstens
von einer universalistischen Bestrebung angetrieben worden zu sein. Aber auch
diese Argumentation ist schief. Daß der Nationalsozialismus nur einen Teil
der Menschheit, nämlich das deutsche Volk, glücklich machen wollte,
während der Kommunismus das Glück der gesamten Menschheit anstrebte,
spricht nicht für den zweiten. Wenn man im Namen einer Nation kämpft,
kann man nur von dieser Nation ausschließen. »Die Säuberung einer
Rasse« beschränkt wenigstens die Schäden auf diese Rasse. Aber
eine Säuberung der Menschheit? (Ebd., 2001, S. 51).Aufgrund
seiner Vorannahmen konnte der Nationalsozialismus manche seiner Gegner als »Untermenschen«
beschreiben. Aufgrund der seinen konnte der Kommunismus alle seine Feinde nur
von der Menschheit ausschließen. Das Bemühen um die Regenerierung der
gesamten Menschheit führt nämlich - wenn es vorgibt, mit ihren objektiven
Interessen eins zu sein - zwangsläufig dazu, diejenigen, die dieser Erneuerung
angeblich im Wege stehen, aus dem Kreis der Menschheit auszuschließen. »Wer
für die Menschheit kämpft«, schreibt Claude Polin, »kämpft
gegen die Feinde der Menschheit, das heißt gegen diejenigen, die nicht zu
ihr gehören.« (**).
Im Jahre 1927 schrieb der sowjetische Propagandist A. Arosev sogar: »Feind
ist jeder, der durch körperliche, psychische, soziale, moralische oder sonstige
Anzeichen den Eindruck erweckt, mit der Idealvorstellung menschlichen Glücks
nicht übereinzustimmen« (Sic). (**).
Aufgrund solcher Definitionen kann jeder mit gutem Recht geächtet werden.
Der Universalismus verschärft den Totalitarismus, nicht
nur, weil er die ganze Welt zu seinem Schlachtfeld macht, sondern auch, weil er
gleichzeitig den »Kampf aller gegen alle« universell ausweitet. »Noch
deutlicher als der Nationalsozialismus«, bemerkt Claude Polin, »benutzt
der kommunistische Despotismus den kleinen Tyrannen, der in jedem Menschen steckt,
und bringt dadurch jeden gegen jeden auf: Der Feind ist nicht mehr der Andere,
sondern der Mitmensch, eben, weil er ein Mitmensch ist.« (**).
Gerade, weil der Kommunismus von vornherein im Namen der Menschheit kämpfen
wollte, erstreckte sich sein zerstörerisches Wesen auf die gesamte Menschheit.
Seine universalistischen Bestrebungen können ihm keineswegs als mildernde
Umstände dienen, sie sind es vielmehr, die sein universell mörderisches
Wesen erklären. (Ebd., 2001, S. 51-52).Das Bestreben,
die ganze Erde zu emanzipieren, verhindert also nicht den Terror, sondern verleiht
ihm vielmehr im größeren Maßstab eine bessere Legitimation. Der
Einsatz für ein absolutes Ideal rechtfertigt im gleichen Maße den Einsatz
von absoluten Mitteln. Im Krasny Metch (»Rotes Schwert«), dem
Organ der Kiewer Tscheka, war im August 1919 zu lesen: »Unsere Moralität
ist beispiellos, unsere Humanität ist bedingungslos, denn sie beruht auf
einem neuen Ideal: jede Form von Unterdrückung und Gewalt zu zerstören.
Für uns ist alles erlaubt, weil wir die ersten in der Welt sind, die das
Schwert schwingen, nicht etwa, um zu unterdrücken und zu versklaven, sondern
um die Menschheit von ihren Fesseln zu befreien .... Blut? Möge das Blut
in Strömen fließen!« (Ebd., 2001, S. 52-53). Manche
Autoren, die grundsätzlich gegen jeglichen Vergleich zwischen Kommunismus
und Nationalsozialismus sind, wollen - außer den mutmaßlich unterschiedlichen
Inspirationen - einen Unterschied in den Beweggründen oder den Verhaltensweisen
erkannt haben. »Ein junger Mensch, der auf den Kommunismus zugeht«,
schreibt Jean Daniel, »ist zumindest von dem Wunsch nach Übereinstimmung
beseelt. Dagegen ist ein junger Faschist nur von der Herrschaft fasziniert. Das
macht einen wesentlichen Unterschied aus.« Jean-Marie Colombani fügt
hinzu: »Es wird immer einen Unterschied geben zwischen demjenigen, der sich
engagiert im Glauben an ein Ideal, das sichtlich mit der demokratischen (sic)
Hoffnung verbunden ist, und demjenigen, der von einem System angezogen wird, das
auf dem Ausschluß beruht und an die gefährlichsten Triebe des Menschen
appelliert.« In ähnlichem Sinne konnte JeanJacques Becker über
die »helle Seite« des sowjetischen Systems schwärmen: »Die
helle Seite des Kommunismus hat es gegeben, und zwar in Abermillionen einfachen
kommunistischen Militanten, die aller Opfer fähig waren für eine Sache,
an die sie glaubten .... Unter anderem wegen dieser hellen Seite kann der Kommunismus
keinesfalls mit dem Nationalsozialismus vermengt werden.« (Ebd., 2001,
S. 55-56).Diese Einschätzungen sind völlig subjektiv.
Wie Alain Besançon richtig bemerkt hat, haben Kommunismus und Nationalsozialismus
in Wirklichkeit beide »hohe Ideale« geboten, die geeignet waren, »begeisterte
Hingabe und heroische Handlungen hervorzurufen«. Der eine wie der andere
hat gleicherweise große Namen und Intellektuelle von hohem Rang für
sich eingenommen. Der eine wie der andere haben selbstlose Taten hervorgerufen
und zur Selbstaufopferung in selten gesehenem Ausmaß bewegt. Größere
Teile des deutschen Volkes haben ihrem Führer, trotz der Trümmer und
der Toten, bis zum Ende beigestanden, wohingegen die sowjetische Macht zum Zeitpunkt
ihres Zusammenbruchs jeglichen Kredit im Volk verloren hatte. Trotzdem hat auch
der Kommunismus für Millionen von Männern und Frauen eine ungemein große
Hoffnung dargestellt. Er hat Auseinandersetzungen und Kämpfe angestoßen,
die oft gerecht und notwendig waren. Wer wie Jean-Jacques
Becker behauptet, daß »der Nationalsozialismus oder der Faschismus
nie den gleichen Elan hervorgerufen hätten« wie der Kommunismus, vergißt,
daß 368000 ausländische Freiwillige in der Waffen-SS waren gegenüber
nur 35 000 in den Internationalen Brigaden. (Ebd., 2001, S. 56).Wenn
die totalitären Systeme die Mobilisierung der Massen selbst organisiert haben,
haben sie nichtsdestotrotz - eine Zeitlang zumindest - auch von einer massiven
spontanen Zustimmung profitiert, die sich in Bewunderung erregenden Verhaltensweisen
ausdrücken konnte. Statt diese zu leugnen oder zu ignorieren, müßte
man sich vielmehr fragen, wie politische Systeme, die sich als die zerstörerischsten
in der Geschichte erwiesen haben, so viel Selbstlosigkeit, Heroismus, Opfersinn
und Hingabe hervorrufen konnten. In einer ersten Annäherung könnte die
Antwort darin liegen, daß diese Systeme, sofern sie nach dem Absoluten strebten,
auch zu absoluten Verhaltensweisen anspornen, im Schlimmsten wie im Besten. Daß
ein und dasselbe System sowohl kriminell sein als auch zu bewundernswertem Verhalten
anregen kann, kann nur Naivlinge oder Voreingenommene vor den Kopf stoßen:
Entweder sie schließen daraus (zu Unrecht), daß ein solches System
gar nicht so kriminell war, oder sie schlußfolgern (ebenfalls zu Unrecht),
daß diese Verhaltensweisen doch nicht so bewunderswert waren. Daß
Anhänger eines totalitären Systems sich heroisch verhalten konnten,
macht die Sache, für die sie sich einsetzten, deshalb nicht besser; umgekehrt
aber schmälert das Wesen dieser Sache keineswegs ihren Heldenmut. Die Tugend
der Menschen macht nicht die Lehren tugendhaft, auf die sie sich berufen. Blaise
Pascal sagt zu Unrecht, daß man nur den Zeugen glauben solle, die sich töten
lassen: Das zeugt zwar von der Kraft ihrer Überzeugungen, jedoch nicht von
deren Richtigkeit. (Ebd., 2001, S. 56-57). Robespierre
wurde Opfer der Schreckensherrschaft. Das befreit ihn nicht von der Schuld, sie
errichtet zu haben. (Ebd., 2001, S. 59).Die Auffassung, daß
es nie »antihitlerische Nationalsozialisten« gegeben habe, stimmt
ganz und gar nicht. Neben all denjenigen, die 1933 eine »nationale Revolution«
in Deutschland anstrebten und vom Dritten Reich nicht nur enttäuscht, sondern
häufig verfolgt wurden, könnte man die Brüder Otto und Gregor Straßer
sowie die Opfer der Säuberung im Januar 1934 als Beispiele anführen.
Man könnte auch Hermann Rauschning nennen (**)
.... Man könnte schließlich an jene Oppositionskreise erinnern, die
sich während des Krieges innerhalb der SS oder des SD bildeten. Hätte
das Dritte Reich länger bestanden als die zwölf Jahre, in denen es an
der Macht war, dann hätten sich solche Dissidenzen wahrscheinlich verstärkt
und vermehrt, natürlich ohne daß wir wissen können, in welche
Richtung. (Ebd., 2001, S. 60).Eine der Besonderheiten des
sowjetischen Systems war es, daß - im Gegensatz zum NS-System - die Anhänger
des Regimes nicht weniger verdächtigt und gefährdet waren als seine
Widersacher. Im sowjetischen System war die Vorstellung des Komplotts verinnerlicht,
die Anhänger wurden als lauter potentielle Verräter angesehen. Die Säuberungen
wurden also nicht nur vom Apparat gegen die Gesellschaft durchgeführt, sondern
gleichermaßen gegen die Gesellschaft wie gegen den Apparat. Deshalb war
die Überwachung der Bevölkerung noch systematischer und die Ermunterung
zum Denunzieren noch stärker: Im Jahre 1939 beschäftigte die Gestapo
6900 Personen, der NKWD dagegen 350000. Im selben Jahr waren anläßlich
des 18. Kongresses der KPdSU nur noch 35 Volksdeputierte vom vorhergehenden Kongreß
(Gesamtzahl: 1966) anwesend, 1108 von ihnen waren inzwischen wegen »konterrevolutionärer
Verbrechen« verhaftet worden. Zwei Jahre zuvor, zum Zeitpunkt der Tuchatschewski-Affäre,
endete die Säuberung der Roten Armee mit der Hinrichtung von 30000 Offizieren,
darunter 90 Prozent der Generale und 80 Prozent der Obersten, während in
Paris die kommunistische Zeitung L'Humanité zu dieser Säuberung
von »Verrätern im Dienst der Hitler-Spionage« gratulierte!
(Ebd., 2001, S. 60-61).Ein weiteres Wesensmerkmal des kommunistischen
Terrors, das die Moskauer Prozesse deutlich hervortreten ließen, war der
Wille, die Dissidenten Verbrechen eingestehen zu lassen, die sie nicht begangen
hatten, das heißt, sie zur Selbstverleugnung zu bringen. Die klassischen
Gewaltherrschaften beschränken sich darauf, der Opposition einen Maulkorb
anzulegen. Die totalitären Regime wollen ebenso die Zustimmung hervorrufen
und nicht nur die Handlungen, sondern auch die Gedanken kontrollieren. Der sowjetische
Kommunismus wollte obendrein die Hintergedanken kontrollieren. Lenin und Stalin
haben also ihre eigenen Waffenbrüder in großer Zahl töten lassen,
was Hitler, mit Ausnahme der Säuberung im Januar 1934, nicht getan hat. (**).
Verständlich, daß dies ein schwerer Schock für die Überlebenden
war. Seltsam hingegen ist es, sich auf dieses Mehr an Unmenschlichkeit zu stützen,
um daraus zu folgern, daß der Kommunismus menschlicher war. (Ebd.,
2001, S. 61-62).Wir stellen außerdem fest, daß der
Nationalsozialismus die Deutschen insgesamt ganz anders behandelt hat als die
Bevölkerung der besetzten Länder, während Stalin die russische
Gesellschaft nicht weniger brutal behandelte als die von ihm eroberten Länder.
In den NS-Konzentrationslagern waren nur eine kleine Minderheit Deutsche; dagegen
wurden zwischen 1934 und 1947 fünfzehn Millionen Russen in den Gulag geschickt.
Daß sich das NS-Regime vorwiegend an fremdländischen Bevölkerungen
vergriff, während die kommunistischen Regime vorrangig ihre eigenen Bevölkerungen
ermordeten, spricht auch hier nicht für die zweiten. Daß man Verbrechen
eher in der eigenen Familie als bei den anderen verübt, wird im Strafrecht
meist als erschwerender Umstand angesehen. (Ebd., 2001, S. 62). In
einem Editorial, das in einer Anthologie der ideologisch beeinflußten Literatur
einen würdigen Platz hätte, greift Jean-Marie Colombani auf ein Argument
der strategischen Art zurück. Er behauptet darin, der Inhalt des Schwazbuchs
könne »der extremen Rechten in die Hände spielen«. Von »ideologischer
Parteinahme« ist darin die Rede, von »Simplifizierung« und von
»Gemenge«. Die eigentliche Gefahr bestehe also darin, »denjenigen
als Alibi zu dienen, die den Beweis erbringen wollen, daß, sofern ein Verbrechen
einem anderen gleich ist, die letzten Barrieren, die uns vor der Legitimierung
der äußersten Rechten schützen, hinfallig sind«. Das einzige
Mittel, die extreme Rechte zu »entlegitimieren«, bestehe folglich
darin, zu behaupten, daß nicht Verbrechen alle gleich sind, das heißt,
daß manche weniger verwerflich sind als andere. Aber nach welchen Kriterien?
(Ebd., 2001, S. 63-64).Das Argument, dem zufolge die Verurteilung
der Verbrechen des Kommunismus den Interessen der äußersten Rechten
diene, ist die vollständige Übernahme der stalinistischen Rhetorik der
Mobilisierung gegen einen als gemeinsamen Feind dargestellten Dritten. Diese Rhetorik
gründet auf einem einfachen Syllogismus: Da manche Antikommunisten zu ächten
sind, sollte man sich vor einer Kritik am Kommunismus hüten, um ihnen nicht
Argumente zu liefern, die sie verwerten könnten. Man befindet sich mitten
in teleologischem Utilitarismus: Es gibt unerwünschte, da nicht zweckmäßige
Wahrheiten und notwendige Lügen. Es fragt sich nun, wovon der Wert der Wahrheit
herrührt: davon, daß sie das Wahre offenbart, oder davon, daß
man sich unter bestimmten Umständen einen Vorteil von ihr erhoffen kann?
Wenn die Wahrheit nicht aus sich selbst heraus ihren Wert hat, sondern nur, damit
man sie in den Dienst einer Sache oder eines bestimmten Glaubens stellen kann,
dann gibt es überhaupt keine Wahrheit mehr. Überdies: Wenn die Antwort
auf die Frage, ob es angebracht ist, das Wahre zu sagen, davon abhängt, welchen
Gebrauch man davon machen kann, dann gibt es nichts mehr, was die Behauptung zuließe,
eine Doktrin sei wahrer als eine andere. Eben deshalb spielt heute der Wahrheitsgehalt
von Ideen keine Rolle mehr. Man urteilt nicht mehr über das Wahre und das
Falsche, sondern über das »Gute« und das »Schlechte«
- über ein rein instrumentales »Gutes«, das überhaupt keinen
Bezug mehr zum Wahren hat. (Ebd., 2001, S. 64).Folgt man
Jean-Marie Colombani, dann muß man sich jede historische Forschung verbieten,
die schlechte Gedanken nähren könnte. Auf diese Weise tritt man in die
Fußstapfen Jean-Paul Sartres, der behauptet hatte, man müsse über
die sowjetischen Lager Stillschweigen bewahren, »um Billancourt (**)
nicht zu entmutigen«. »Diese Leute«, bemerkt Stephane Courtois,
»haben immer noch nicht mit der Kultur des politischen Kommissars gebrochen,
der das verlegerische Milieu verpestet.« (**).
(Ebd., 2001, S. 64). Das
nationalsozialistische Phänomen für »einzigartig« zu erklären
ermöglicht nicht seine Verständlichkeit, sondern verbietet sogar seine
Analyse, da sie von vornherein einer »Banalisierung« gleichgesetzt
wird. Ein Ereignis, das nicht mit anderen in Beziehung gebracht wird, wird nämlich
unverständlich. Es hört auf, ein historisches Ereignis zu sein, das
zwangsläufig in einem bestimmten Zusammenhang steht, und wird zu einer reinen
Idee. Wenn man es für »einzigartig« erklärt, dann geschieht
das außerdem um den Preis eines widersprüchlichen Erkenntnisweges:
Den Vergleich zwischen zwei Systemen kann man nämlich nur ablehnen, wenn
man nach »absoluten« Unterschieden zwischen ihnen sucht, die eben
erst bei deren Vergleichung gefunden werden können. »Wie soll man wissen,
daß sich eine Sache von allen anderen unterscheidet, wenn sie noch nie mit
etwas verglichen wurde?« bemerkt in diesem Zusammenhang Tzvetan Todorov.
Ian Kershaw schreibt seinerseits: »Denjenigen, die dem Vergleich jeglichen
Wert absprechen mit der Begründung, daß sich die Geschichte nur für
das Einzigartige interessiere, sei einfach geantwortet, daß sich die Einzigartigkeit
eines Ereignisses nur durch den Vergleich feststellen läßt.«
(Ebd., 2001, S. 65-66).Die Vorstellung, daß man die NS-Verbrechen
»verharmlose« bzw. »banalisiere«, wenn man sich weigert,
in ihnen ein »einzigartiges« Ereignis zu sehen, ist gleichfalls unhaltbar.
Sie geht davon aus, daß sich Verbrechen gegenseitig aufheben oder daß
in den Zusammenhang ihrer Zeit eingebettete Morde weniger mörderisch werden.
In Wahrheit entschuldigt kein Verbrechen ein anderes. Diese Vorstellung trägt
außerdem einen unerwünschten Effekt in sich, der in der Möglichkeit
ihrer Umkehrung liegt: Ein einziges System zum »absoluten Bösen«
zu erheben heißt, die Machenschaften aller anderen Systeme zu relativieren.
Wenn die Erinnerung an die kommunistischen Verbrechen einer Banalisierung der
NS-Verbrechen gleichkomme, dann banalisiert die Erinnerung an die NS-Verbrechen
zwangsläufig alle anderen Verbrechen. Um einen Einzelfall nicht zu banalisieren,
erreicht man eine allgemeine Banalisierung. Es ist aber auch zu fragen, ob das
Wort »Banalisierung« angemessen ist. Heute wissen wir ja, daß
es eine »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) gibt, da das
Böse ebenso zur Natur des Menschen gehört wie das Gute. (Ebd.,
2001, S. 66-67).Die absolute Einzigartigkeit eines Ereignisses
dogmatisch zu behaupten heißt übrigens letzten Endes, ihm jegliche
Kraft des Exemplarischen zu entziehen. Die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen
bedingt definitionsgemäß, daß diese Vergangenheit wenigstens
zum Teil reproduzierbar ist, andernfalls nützt es nichts, Lehren aus ihr
ziehen zu wollen. »Was einzigartig ist, lehrt uns überhaupt nichts
für die Zukunft«, so Todorov weiter. Dieselben, die sich darüber
entrüsten, wie man den Kommunismus mit dem Nationalsozialismus vergleichen
kann, bringen jedoch selber alle möglichen Ansichten, die ihnen mißfallen,
mit dem Nationalsozialismus in Verbindung. Das ist inkonsequent. Dieselben, die
im Nationalsozialismus eine »einmalige« Erscheinung erkennen wollen,
versichern, ihn jeden Tag wieder aufleben zu sehen. Auch das ist inkonsequent.
Man kann nicht gleichzeitig behaupten, daß der Nationalsozialismus »einmalig«
sei und daß er potentiell überall gegenwärtig sei. Definitionsgemäß
kann sich ein »einmaliges« Ereignis nicht wiederholen. Ist man hingegen
der Ansicht, daß es sich wiederholen könne, dann ist es nicht »einmalig«.
(Ebd., 2001, S. 67).Die These von der »Einmaligkeit«
bzw; der »Einzigartigkeit« ist eigentlich ein metaphysisches Argument.
Und sie ist es um so mehr, als - wenn die Henker mit keinen anderen vergleichbar
sind - dies notwendigerweise auch für die Opfer gilt. Da das absolute Böse
auf das absolute Gute verweist, verweist die absolute Einzigartigkeit der einen
auf die absolute Einzjgartigkeit der anderen. Die Verfolgung wird dann durch die
Auserwähltheit erklärt. Hitler war übrigens der Ansicht, daß
es zwei auserwählte Völker nicht geben könne. An der Grenze würde
das jüdische Leiden »nicht von der Geschichte bedingt sein, sondern
von einer Vorsehung, deren Christ-Volk die Juden wären«. Jean Daniel,
Edgar Morin und Henry Rousso haben von »Judäozentrismus« gesprochen,
um diese Anschauung zu bezeichnen. (»Ich habe für mein Teil keine Schwierigkeit
damit«, schreibt Jean Daniel, »die Ansicht zu vertreten, daß
diese nahezu mystische Hingabe an eine judäozentrische Anschauung alle Gefahren
in sich birgt.«) Es ergibt aber ebenso wenig Sinn, einen Henker als Vertreter
des absoluten Bösen hinzustellen, wie ein Opfer als Vertreter des absoluten
Guten zu schildern. Andernfalls müßte man behaupten, daß es unverzeihlicher
ist, bestimmte Leben (die das absolute Gute verkörpern) auszulöschen
als andere. Eben diese Ansicht vertraten die Nationalsozialisten, wenn sie von
»lebensunwertem Leben« sprachen. Sie ist unannehmbar. Kein Volk, keine
Menschengruppe besitzt von Natur aus einen höheren existentiellen oder moralischen
Status. Keiner kann aus seinem Glauben, seiner Herkunft, seinem kollektiven Beitrag
oder seiner Geschichte den Anspruch herleiten, sich als ontologisch besser oder
unersetzbarer als ein anderer zu begreifen. (Ebd., 2001, S. 67-68).Das
Verstehen der Vergangenheit kann nicht vor dem Hintergrund des moralischen Urteils
erfolgen. Auf die Geschichte bezogen, verurteilt sich die Moral zur Ohnmacht,
weil sie sich auf die Entrüstung gründet - die Aristoteles als nichtlasterhafte
Form der Mißgunst beschrieb - und weil die diskreditierend verfahrende Entrüstung
die Untersuchung dessen verbietet, was sie diskreditiert. »Die Abwertung
aus moralischen Gründen erlaubt es«, so Clément Rosset, »jegliches
Bemühen zum Verständnis des Abgewerteten zu vermeiden. Ein moralisches
Urteil drückt somit immer eine Weigerung zu analysieren und sogar eine Weigerung
zu denken aus.« Die moralische Verurteilung des Kommunismus oder des Nationalsozialismus
übersieht außerdem die Tatsache, daß sich diese Systeme selber
mit Moral brüsteten. Sie gedachten nicht, die Moral abzuschaffen, sondern
eine andere zu erfinden - oder der Moral der anderen ihre eigene entgegenzusetzen.
(**). (Ebd., 2001, S. 68-69).»Die
Verfechter der ethischen Ideologie«, bemerkt Alain Badiou, »legen
so viel Wert darauf, die Einzigartigkeit der Vernichtung unmittelbar im Bereich
des Bösen als solchem anzusiedeln, daß sie meistens entschieden leugnen,
daß der Nationalsozialismus politisch gewesen ist. Das ist aber eine zugleich
schwache und unmutige Einstellung .... Die Anhänger der »Demokratie
der Menschenrechte« definieren gern mit Hannah Arendt die Politik als die
Bühne des »Zusammenseins« .... Nun wünschte aber keiner
mehr als Hitler das Zusammensein der Deutschen.« (**).
Die totalitären Systeme sind politische Systeme. Um sie zu verurteilen, braucht
man nur zu erkennen, daß sie politisch schlecht sind: Das genügt, um
sie unannehmbar zu machen. (Ebd., 2001, S. 69).Der auf die
menschlichen Angelegenheiten bezogene Begriff des »absoluten Bösen«
ist eigentlich sinnlos, da das Absolute nicht von dieser Welt ist. Im Bereich
des positiven Wissens gibt es ebenso wenig »unermeßliche« Leiden
wie Verbrechen, die mit nichts verglichen werden können. Die zum Verüben
eines Verbrechens angewandten Mittel können zwar noch nie dagewesen sein,
sie machen aber dieses Verbrechen deshalb nicht »einzigartig«. Der
kriminelle Charakter einer Tat ergibt sich aus dem Wesen dieser Tat, und nicht
aus den Mitteln, die zu ihrer Ausführung benutzt werden. Jedes Ereignis fügt
sich in einen Zusammenhang ein und kann daher mit einem anderen in Beziehung gebracht
werden. Jedes Ereignis ist zugleich einmalig und universal, überaus einzigartig
und überaus vergleichbar. Ein totalitäres System isoliert zu betrachten,
um es zum absoluten Bösen zu erheben, heißt schließlich vergessen,
daß die totalitären Systeme selber ihre Gegner als das absolute Böse
bezeichneten. In ihnen das absolute Böse zu sehen heißt diesen Spiegeleffekt
akzeptieren. Wer sie aus dem Kreis der Menschheit ausschließt, ahmt sie
nach. (Ebd., 2001, S. 70). Die
vom Schwarzbuch des Kommunismus (**)
beleuchtete engstirnige Ablehnung, Kommunismus und Nationalsozialismus miteinander
zu vergleichen, hat eine unmittelbare Folge: die unterschiedliche Behandlung der
beiden Totalitarismen und all dessen, was ihnen verwandt scheinen mag. Während
der Nationalsozialismus als verbrecherischstes Regime des 20. Jahrhunderts angesehen
wird, gilt der Kommunismus, obwohl er den Tod einer viel größeren Zahl
von Menschen verursacht hat, weiterhin als ein zwar umstrittenes, jedoch durchaus
vertretbares System, sowohl in politischer als auch in geistiger oder moralischer
Hinsicht. (Ebd., 2001, S. 71).Für diese unterschiedliche
Behandlung ließen sich zahlreiche Beispiele anführen. Sie betrifft
sowohl die Menschen als auch die Ideen. Sie lastet auch auf der politischen Landschaft.
Der Nationalismus wird landläufig mit dem Faschismus gleichgesetzt, der wiederum
mit dem Nationalsozialismus in eins gesetzt wird, wohingegen der Sozialismus nie
als potentiell stalinistisch angesehen wird. Die Rechte wird immer des »Faschismus«
verdächtigt; während der Kommunismus bei allen Verfehlungen angeblich
zu den »Kräften des Fortschritts« gehört. Der Verkauf eines
Buches mit nationalsozialistischem Gedankengut ruft heftige Proteste hervor (und
ist strafbar), der eines kommunistischen Buches gibt dagegen keinen Anlaß
zu irgendeinem Kommentar. Einem ehemaligen Nationalsozialisten geht man für
immer aus dem Weg; daß man Kommunist gewesen ist, verursacht keine Einbuße
an Prestige und gesellschaftlichem Status, selbst für den, der nie Reue gezeigt
hat. Die kleinste tatsächliche oder vermutete -Verbindung mit einer Ideologie,
die mit dem Nationalsozialismus irgendwie - nah oder entfernt - verwandt sein
soll, ist ein Zeichen von unauslöschlicher Schande, die zu Anprangerung und
Ins-Abseits-Stellen führt. Ein Schriftsteller der Kollaboration gehört
auf immer zu den »verfemten«; einem stalinistischen Schriftsteller
oder Künstler wird rückblickend keine Würdigung verwehrt wegen
seines Stalinismus. Pablo Neruda, Bertolt Brecht oder Eisenstein werden nicht
ohne Grund wegen ihres Talents gefeiert. Pierre Drieu la Rochelle, Louis-Ferdinand
Céline oder Leni Riefenstahl bleiben, wenn ihr Talent nicht abgestritten
wird, mit einer anrüchigen Aura umgeben, die zu der Mahnung führt, daß
»Talent keine Entschuldigung« ist. Man würde einem faschistischen
Schriftsteller nie verzeihen, einen Lobgesang zu Ehren der Gestapo geschrieben
zu haben (der Fall ist übrigens nie eingetreten); daß aber Louis Aragon
die Tugenden des GPU besungen hat (**),
hat seinem Ruf nie geschadet. Man zieht über den »primären Antikommunismus«
her und hält den Kommunisten zugute, wenigstens Hitler bekämpft zu haben;
es würde aber niemandem einfallen, über den »primären Antinazismus«
zu spötteln oder den Nationalsozialisten zugute zu halten, wenigstens Stalin
bekämpft zu haben. Der Stalinismus wird als »Abweichung« vom
kommunistischen Ideal bezeichnet; keiner denkt daran, im Nationalsozialismus eine
»Abweichung« vom faschistischen Ideal zu sehen. Man durfte den Kommunismus
falsch einschätzen, aber nicht den Nationalsozialismus. (**).
Kurzum, jegliche Berührung mit dem Nationalsozialismus bringt einen in völligen
Mißkredit, während Berührungen mit dem Kommunismus weiterhin als
gewöhnliche, bedeutungslose Fehler angesehen werden. (Ebd., 2001, S.
71-73).Die Anprangerung des Nationalsozialismus übersteigt
nicht nur die des Kommunismus, sie wird paradoxerweise auch stärker, je mehr
Zeit vergeht. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Fall des Dritten Reichs sind
die NS-Verbrechen, und nicht die kommunistischen, Gegenstand einer nicht enden
wollenden Flut von Büchern, Filmen, Radio- und Fernsehsendungen. »Weit
davon entfernt, die geringste Verjährung zu erfahren, verschärft sich
die damnatio memoria des Nationalsozialismus offenbar von Tag zu Tag«,
bemerkt Alain Besançon (**).
Über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod setzt Hitler seine Karriere in
den Medien fort, während Stalin bereits so gut wie vergessen ist. (Ebd.,
2001, S. 73).Im Jahre 1989 stürzte das kommunistische System
von selbst zusammen, zum großen Erstaunen derjenigen, die noch einige Monate
zuvor versicherten, daß der sowjetische Block mächtiger denn je sei
und daß die Rote Armee sich anschicke, in Westeuropa einzufallen (**).
Diese Implosion, deren genaue Umstände bislang nicht ernsthaft untersucht
wurden, erei~ete sich, ohne größere Infragestellung in der öffentlichen
Meinung nach sich zu ziehen. Nicht nur, daß die ehemaligen KP-Führer
nirgendwo in großer Zahl vor Gericht gestellt wurden, sie durften auch fast
überall ihre politische Laufbahn, unter welcher Etikettierung auch immer,
fortsetzen und schafften es in einigen Fällen sogar, wieder an die Macht
zu kommen (**). In Österreich dagegen
war der Staatspräsident und frühere UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim
zum Gegenstand eines allgemeinen Ostrazismus (»Scherbengerichts«)
geworden, als seine »NS- Vergangenheit« entdeckt wurde. Diese de
facto Amnestie hat im Westen weder Proteste noch besonderes Erstaunen hervorgerufen.
Niemand erwägt heute, die ehemaligen sowjetischen Lager in Museen zu verwandeln
oder den Opfern des stalinistischen Terrors Ehrenmäler zu errichten.
(Ebd., 2001, S. 73-75).In Frankreich, wo eine nationalsozialistisch
ausgerichtete Partei sofort verboten würde, streitet niemand die Legitimität,
wenn nicht gar Ehrenhaftigkeit der einst von Stalin finanzierten Kommunistischen
Partei (PCF) ab, die fast ein halbes Jahrhundert lang Moskau zu Gebote stand -
trotz allem, was man inzwischen über ihre Komintern-Vergangenheit weiß.
Von der Rechten wegen seines Bündnisses mit dieser Partei kritisiert, erklärte
sich Premierminister Lionel Jospin «stolz, kommunistische Minister zu meiner
Regierung zu zählen« (**).
Während sich kein einziger französischer Faschist jemals als »Hitlerist«
bezeichnete, haben sich die Führer der PCF lange Zeit gerühmt, »Stalinisten«
zu sein (**). Jean-François Forges
bemerkt in diesem Zusammenhang, daß »auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise,
in der Nähe der Mauer der Föderierten, die Ehrenmale für die Opfer
der NS-Lager bezeichnenderweise neben den Gräbern der Würdenträger
der Kommunistischen Partei Frankreichs stehen, also neben Männern, die seinerzeit
das eigentliche Prinzip der stalinistischen Lager nicht verurteilt haben«.
(Ebd., 2001, S. 75-76).In der Vergangenheit glaubte man den Antifaschisten
übrigens immer von vornherein, während die, die den Kommunismus anprangerten,
oft als Märchenerzähler oder als parteiisch angesehen wurden. Am 13.
November 1947 nannte die kommunistische Zeitung »Les Lettres françaises«
Viktor Krawtschenko einen »Fälscher« und »Trunkenbold«:
Er hatte in »Ich wählte die Freiheit« die Wirklichkeit des sowjetischen
Straflagersystems enthüllt. Es folgt ein Verleumdungsprozeß, der vom
24. Januar bis 4. April 1949 in Paris stattfand. Margarete Buber-Neumann trat
am 23. Februar als Zeugin auf. Als sie aufgrund ihrer Erlebnisse erklärte,
daß zwischen den sowjetischen und den NS- Lagern ihrer Ansicht nach kein
gradueller Unterschied bestehe, wurde sie als Nazi-Komplizin beschimpft. Der ehemalige
Widerstandskämpfer und Deportierte David Rousset, der Krawtschenko ebenfalls
unterstützte, wurde von Pierre Daix gleichermaßen beschuldigt, «die
sowjetischen Lager erfunden zu haben«. Bei dem Prozeß, den er 1950
gegen die »Lettres françaises« anstrengte, erklärte Marie-Claude
Vaillant-Couturier: »Ich weiß, daß es keine Konzentrationslager
in der Sowjetunion gibt, und betrachte das sowjetische Strafsystem als das unbestreitbar
wünschenswerteste der ganzen Welt.« (**).
Als Solschenizyn im Jahre 1973 den Archipel Gulag veröffentlicht, wirft ihm
die Zeitung Le Monde vor, bedauert zu haben, «daß der Westen die UdSSR
gegen das Nazi-Deutschland unterstützt hat« -der Verfasser des Artikels,
Bernard Chapuis, vergleicht ihn unmißverständlich mit Pierre Laval,
Marcel Déat und Jacques Doriot - und er zögert nicht, die Falschmeldung
von seinem Wohnsitz in Chile des General Pinochet zu verbreiten. (**).
Ein Jahr später weigert sich ein deutscher Verleger, der die Urheberrechte
an dem Buch von Pierre Chaunu, Le refus de fa vie, gekauft hatte, nach
fertiger Übersetzung, es zu veröffentlichen, weil der Verfasser darin
die Verbrechen des Kommunismus erwähnt hat. Das von der deutschen Wehrmacht
entdeckte Massaker von Katyn wurde endgültig als sowjetisches Verbrechen
erst anerkannt, als sich der Kreml entschloß, es zuzugeben. (Ebd.,
2001, S. 76-77).Ein weiteres aufschlußreiches Zeichen: Der
antikommunistische Diskurs wurde erst als glaubwürdig angesehen, als ihn
enttäuschte ehemalige Kommunisten führten (**).
Ihre Irrtümer in der Vergangenheit wurden gewissermaßen als Beweis
für ihr neues klares Bewußtsein aufgefaßt; von Anfang an scharfsinnig
gewesen zu sein galt dagegen stets als verdächtig. Als glaubwürdig wurden
sie übrigens auf der Grundlage eines Rufes angesehen, den sie zur Zeit ihrer
früheren Irrungen erlangt hatten. (Ebd., 2001, S. 77-78).Die
Lage hat sich heute nur wenig verändert. Zwei Jahre nach dem Fall der Berliner
Mauer durfte ein Guy Sitbon noch schreiben: »Ist man im Endergebnis da so
sicher, daß sich der Kommunismus über seine Bilanz in Rußland,
im sowjetischen Reich oder in China zu schämen haben wird?« Die
Art und Weise, wie die Medien von dem Film berichtet haben, den Jean-François
Delassus und Thibaut d'Oiron über den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt
und die Teilung Polens gedreht haben, ist ebenfalls bezeichnend: Trotz seiner
offensichtlichen Qualitäten, so war in »L'Histoire« zu lesen,
habe der Film »die Schwäche, um jeden Preis beweisen zu wollen, daß
das sowjetische System die größte Geißel unseres Jahrhunderts
gewesen ist«, und einen Vergleich zwischen dem kommunistischen und dem nationalsozialistischen
System anzustellen, »der zuungunsten Stalins ausfällt« [sic].
Was die kommunistischen Verbrechen betrifft, ist es noch oft üblich, sie
nicht als solche zu bezeichnen. Jean Daniel schreibt zum Beispiel, daß sich
der stalinistische Kommunismus »nazistischer Mittel« bedient habe;
es hätte der historischen Wahrheit bestimmt eher entsprochen zu schreiben,
daß der Nationalsozialismus vielmehr »kommunistische Mittel«
anwandte, da der Kommunismus sich bereits zur Zeit Lenins und auf dessen ausdrücklichen
Befehl hin bewußt auf den Weg des Verbrechens gegen die Menschlichkeit als
Methode des Regierens begab. (**).
(Ebd., 2001, S. 78-79).»Mag das Ungeheuer als politisches
Phänomen tot sein«, schreibt Jean-François Revel, »als
kulturelles Phänomen bleibt es sehr lebendig. Die Mauer ist in Berlin gefallen,
aber nicht in den Köpfen. Den Kommunismus in seiner Wirklichkeit zu beschreiben
bleibt ein Gesinnungsdelikt. .... Auf den Nationalsozialismus bezogen, wird der
Negationismus zur Straftat erklärt; warum ist er keine, wenn er die kommunistischen
Verbrechen wegzaubert? Das liegt daran, daß es in den Augen der Linken weiterhin
gute und schlechte Henker gibt.« (**).
»Die Beharrlichkeit, mit der wir an die Verbrechen des Kommunismus erinnern«,
bemerkt seinerseits Jacques Julliard, »steht in umgekehrtem Verhältnis
zu unseren progressistischen Überzeugungen.« (Ebd., 2001, S.
79-80).»Heute noch«, fügt Stephane Courtois hinzu,
findet »eine legitime und normale Bewertung der Verbrechen des Kommunismus
nicht statt, weder aus historischer noch aus moralischer Sicht«. (S. 15).
(Ebd., 2001, S. 80).Alle diese Tatsachen, die man seitenlang durchdeklinieren
könnte, bestätigen, daß der Nationalsozialismus heute noch einen
Abscheu erregt, den der Kommunismus trotz seiner Verbrechen nicht erregt. Es
stellt sich nun die Frage nach dem Warum. Diese Frage hat sich Alain Besançon
auch gestellt. Anknüpfend an die Festellung, daß «die Amnesie
des Kommunismus zur starken Erinnerung an den Nationalsozialismus treibt und umgekehrt,
wenn die einfache und gerechte Erinnerung zur Verurteilung der beiden führt«,
schreibt er: »Wie kommt es, daß die historische Erinnerung heute beide
Systeme derart ungleich behandelt, daß sie den Kommunismus zu vergessen
scheint?« (**). Wie erklären
sich das gewollte Stillschweigen und die sträfliche Verblendung, die den
kommunistischen Verbrechen so lange zugute kamen? Warum beginnen altbekannte Fakten
erst heute anerkannt zu werden? Warum trifft man auf der einen Seite die »Erinnerung«
und sogar die Hypermnesie und auf der anderen soviel Gleichgültigkeit und
Vergessen? (Ebd., 2001, S. 80). Zur
Beantwortung dieser vorangehenden Frage (**)
wurden verschiedene Ursachen angeführt. Man hat unterstrichen, daß
die wesdiche Intelligenzia der kommunistischen Illusion massiv erlag und heute
keineswegs gewillt ist, sich an die Brust zu schlagen, geschweige denn die von
ihr besetzten Positionen aufzugeben, zumal sie weiterhin direkt oder indirekt
ihre Definitionshoheit auf die öffentliche Meinung ausübt. Man hat auch
die Angst erwähnt, der Sowjetmacht zu mißfallen, die lange Zeit den
Zynismus der Geschäftsleute und der Politiker bestärkt hat. FrançoisFuret
wiederum hat das positive Vorurteil betont, auf das eine bolschewistische Revolution
zwangsläufig stoßen mußte, da sie sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis
in einer Reihe mit der französischen Revolution von 1793 befand. Doch
diese Überlegungen betreffen nur Teilursachen. Sie allein können die
von Stéphane Courtois erwähnte »außergewöhnliche
Verblendung« nicht erklären. (Ebd., 2001, S. 81).Ein
bedeutenderer Grund liegt in dem während des Zweiten Weltkrieges geschlossenen
Bündnis zwischen dem Stalinismus und seinen westlichen Alliierten; dieses
Bündnis bildete die Grundlage der Weltordnung, die aus der deutschen Niederlage
1945 hervorging. (Ebd., 2001, S. 81).Ab 1941 hat die UdSSR
an der Seite seiner Alliierten am Sturz des Nationalsozialismus mitgewirkt. Sie
hat daraus einen moralischen Kredit gezogen, den sie später immer wieder
ausnutzte. Nach 1945 hat der Sieg über den Nationalsozialismus jegliches
Fragen bezüglich des siegenden Totalitarismus, jegliche Infragestellung seiner
politischen und moralischen Rechtmäßigkeit untersagt. Er hat dem kommunistischen
Gedächtnis ermöglicht, seinen eigenen Mythos aufzubauen, ohne daß
Widerspruch laut geworden wäre. Im Jahre 1939 hatten die westlichen Demokratien
Deutschland den Krieg erklärt, um einen Einfall Hitlers in Ostmittel- und
Osteuropa zu verhindern. 1945 konnte Stalin über dasselbe Ostmittel- und
Osteuropa einen Eisernen Vorhang herunterfallen lassen, ohne daß
es jemandem in den Sinn kam, ihn daran zu hindern. In der Folge bekam die gesamte
kommunistische Bewegung einen Bonus in der öffentlichen Meinung des Westens.
»Durch die Knüpfung eines Militärbündnisses zwischen den
Demokratien und der Sowjetunion«, bemerkt Alain Besançon, »hat
der Krieg die Abwehrkräfte des Westens gegen die kommunistische Idee geschwächt.«
Tony Judt erklärt auf dieselbe Weise das Schweigen, das die kommunistischen
Verbrechen so lange umgab: »Das liegt zum Teil daran, daß wir immer
noch die Erben des siegreichen Bündnisses mit den Kommunisten gegen Hitler
sind.« 1945 hat dem Kommunismus wahrscheinlich zu einem fünfzigjährigen
Pachtvertrag verholfen«, behauptet seinerseits François Furet. Damit
haben wir tatsächlich einen wichtigen Erklärungsschlüssel in der
Hand: Eben weil die Sowjetunion und die westlichen Demokratien während des
Zweiten Weltkrieges Seite an Seite gekämpft haben, muß notwendigerweise
Hitler schlimmer als Stalin und folglich Stalin besser als Hitler gewesen sein.
Umgekehrt: Wenn der Nationalsozialismus wirklich das absolute Übel verkörperte
und als solches nur über ein Bündnis mit Stalin zu bekämpfen war,
dann war das stalinistische System objektiv nützlich, was die Vorwürfe,
die man ihm machen kann, dementsprechend einschränkt. 1949 erklärt Jean
Cassou beim Krawtschenko-Prozeß beispielsweise, daß »der Krieg
gegen Hitler einen Block bildet«: Stalin zu kritisieren heißt letzten
Endes, Stalingrad zu schmälern und damit die Widerstandskämpfe im Vercors
geringzuschätzen. Auch als Solschenizyn seinen Archipel Gulag veröffentlichte,
versuchte man, ihn mit dem »Stalingrad-Beweis« (Daniel Lindenberg)
mundtot zu machen. (Ebd., 2001, S. 81-83).Jean-Marie Domenach
schrieb 1945: »Die kommunistische Partei, die sich ab Juni 1941 am Widerstand
beteiligte, und die Rote Armee, die die Nationalsozialisten besiegt hat, genießen
ein so hohes Ansehen, daß jede Verurteilung der UdSSR als Nachsicht gegenüber
der »faschistischen Barbarei« erscheint, die beinahe ganz Europa bedeckt
hat.« Die Realität des sowjetischen Straflagersystems einzugestehen
wurde unter diesen Umständen fast unvorstellbar. Domenach fügte hinzu,
daß er nach seiner Begegnung mit Margarete Buber-Neumann im Jahre 1947 »ihre
Ausführungen über den Gulag nicht in Zweifel gezogen« habe. »Es
handelte sich aber für mich um eine im Verschwinden begriffene Erscheinung,
um eine Anomalie, die der Fortgang der Revolution korrigieren würde. Menschen,
die sich mit Leib und Seele in den antinazistischen Kampf hineinbegeben hatten,
fiel die Vorstellung wahrlich schwer, daß ähnliche Greuel im Lager
ihrer Verbündeten stattfanden.« (Ebd., 2001, S. 83).Das
Paradox ist, daß die Sowjetunion ihren stärksten moralischen Kredit
gerade dann genießen konnte, als der stalinistische Terror auf seinem Höhepunkt
war. 1942, im Jahr der Schlacht von Stalingrad, brach die Sterblichkeitsrate im
Gulag alle Rekorde: Jeder fünfte Gefangene verhungerte. Im Jahre 1945 verzeichneten
die Lager die höchste Zahl an Strafgefangenen (unter ihnen fast zwei Millionen
von den Alliierten ausgelieferte Russen, die Stalin sofort deportieren ließ).
Die andere Seite dieses Paradoxons ist, daß sich die Wahrheit über
den Gulag in der Öffentlichkeit erst wirklich durchsetzte, als das sowjetische
Straflagersystem zum Teil zerschlagen wurde: Die ersten Massenentlassungen von
Gefangenen gehen auf den Zeitraum 1954-'58 zurück. Wie René Girard
bemerkt, begann also »das Ansehen des Stalinismus, unter anderem bei den
westlichen Intellektuelien, von dem Zeitpunkt an zu schwinden, als seine Gewalttätigkeit
nachließ«. (Ebd., 2001, S. 84).Der Sieg von 1945,
der Westeuropa befreite und im gleichen Augenblick die Unterdrückung Osteuropas
besiegelte, hat also gleichzeitig die Vernichtung eines totalitären Systems
und die Anerkennung eines anderen ermöglicht. Dadurch fand sich der Begriff
des Totalitarismus insoweit diskreditiert, als er zugleich den Sieger und den
Besiegten umfaßte. Gleichzeitig machte die Vernichtung des Nationalsozialismus
den »Antifaschismus« - eine diskursive Kategorie, die dem Bündnis
zwischen der Sowjetunion und den westlichen Demokratien einen ideologischen Minimal-Inhalt
zu geben vermocht hatte - zu einer unbestrittenen Legitimationsbasis. »Durch
die Beteiligung der Kommunisten am Krieg und am Sieg über den Nationalsozialismus«,
schreibt Stéphane Courtois, »triumphierte der Begriff des Antifaschismus
bei den Linken endgültig als Wahrheitskriterium, und natürlich traten
die Kommunisten als die besten Vertreter und Verteidiger dieses Antifaschismus
auf. Der Antifaschismus wurde zur deftnitiven Etikettierung des Kommunismus. Das
machte es den Kommunisten leicht, Aufmuckende im Namen des Antifaschismus zum
Schweigen zu bringen.« (S. 34). (Ebd., 2001, S. 84-85).Dieses
Instrumentarium begann allerdings erst spät zu greifen. In einer ersten Phase
wollten die Kommunisten im Faschismus zunächst nur eine »diktatoriale«
Variante des Kapitalismus sehen und deuteten ihn als die politische Form, mit
der der Kapitalismus gewissermaßen sein eigentliches Wesen verrate (umgekehrt
könne sich der Kapitalismus selbst als nichtdiktatoriale Form des Faschismus
definieren). Auf der XI. Vollversammlung der Internationale im Jahre 1931
behauptete Dimitri Manuilski noch, daß »zwischen Faschismus und bürgerlicher
Demokratie nur ein gradueller Unterschied« bestehe. Im Februar 1934 erklärte
Maurice Thorez: »Die internationale Erfahrung zeigt, daß sich bürgerliche
Demokratie und Faschismus in ihrem Wesen nicht unterscheiden. Es sind zwei Formen
der Diktatur des Kapitals. Der Faschismus geht aus der bürgerlichen Demokratie
hervor. Zwischen Pest und Cholera gibt es keine Wahl.« (Ebd., 2001,
S. 85).Der Faschismus wird nun beschrieben, als werde er von einem
in Bedrängnis befindlichen Großkapital finanziert, das keinen anderen
Ausweg mehr habe, als eine Diktatur hervorzurufen, um sich dem unwiderstehlichen
Vormarsch des Proletariats zu widersetzen. Es war dies die Zeit, da Bertolt Brecht
schrieb: »Bekämpft werden kann der Nationalsozialismus nur durch die
Bekämpfung des kapitalistischen Wirtschaftsystems. Bundesgenosse im Kampf
gegen den Nationalsozialismus kann nur die Arbeiterklasse sein.« (**).
Da die UdSSR angeblich die proletarischen Kämpfe leite und damit die strikteste
Opposition gegen den Kapitalismus darstelle, folgt daraus, daß jede Kritik
am sowjetischen System den Interessen des Faschismus diene und daß die beste
Form des Kampfes gegen den Faschismus demnach darin bestehe, Kommunist zu werden.
(Ebd., 2001, S. 85-86).Diese Deutung des Faschismus als Auswuchs
des Kapitalismus brachte die Internationale paradoxerweise dazu, den Sieg
der Faschismen, zumindest indirekt, zu begünstigen. Wenn der Faschismus nur
eine Form von Kapitalismus ist, dann gibt es nämlich keinen Grund, diesem
zu Hilfe zu kommen, wenn er anscheinend von jenem bedroht ist. Die Verantwortlichkeit
der Kommunisten für die Machtübernahme des Faschismus 1922 und des Nationalsozialismus
1933 ist in dieser Hinsicht offenkundig. (Ebd., 2001, S. 86).In
beiden Fällen hatten es die kommunistischen Parteien aufgrund ihres Sektierertums
abgelehnt, eine gemeinsame Front mit den bürgerlichen Parteien zu bilden.
Radikalisiert hatte sich diese Haltung 1928, anläßlich des VI. Kongresses
des Komintern, der den Kurs »Klasse gegen Klasse« verstärkt
und die sozialdemokratie als Alter ego des Faschismus angrangert hatte.
(Ebd., 2001, S. 86).Erst ab 1934/35 wich dieser Kurs plötzlich
den Volksfront-Strategien. Da Stalin es zur Vermeidung eines antisowjetischen
Blocks nunmehr für notwendig hält, sich die Unterstützung der liberalen
Demokratien und der progressiven bürgerlichen Parteien zu erwerben, wird
der als gemeinsame Front aufgefaßte »Antifaschismus« zum besten
Mittel, sowohl die ideologischen als auch die materiellen und territorialen Interessen
der Sowjetunion zu verteidigen. (Ebd., 2001, S. 86).Die Unterzeichnung
des deutsch-sowjetischen Pakts am 23. August 1939 sollte zeigen, daß diese
antifaschistische Strategie, zu der der Kreml zwei Jahre später zurückkehren
sollte, für die UdSSR in Wirklichkeit nur ein Werkzeug ihrer außenpolitischen
Macht war. (Die Sowjetunion, das wird oft vergessen, hatte immerhin bereits am
29. November 1932 einen Nichtangriffspakt mit Frankreich unterzeichnet; hinzu
kam am 2. Mai 1935 ein »Beistandspakt«, der im Falle eines provozierten
Angriffs gegen Frankreich oder die UdSSR vorsah, daß beide Länder einander
helfen und unterstützen würden.) »Der Antifaschismus«, schreibt
Pierre-Jean Martineau, »war für die kommunistische Internationale weniger
eine unabdingbare Doktrin denn ein politisches und diplomatisches Instrument im
Dienst einer einzigen Sache: der Verteidigung der UdSSR.« (Ebd., 2001,
S. 86-87).François Furet hat sehr gut aufgezeigt, wie der
Kommunismus vor dem Krieg den Antifaschismus instrumentalisierte, um eine Vorstellung
von den politischen Kräfteverhältnissen zu schaffen, in der die Realität
des sowjetischen Terrors wie durch ein Wunder verschwand, während das System,
das ihn in Gang gesetzt hatte, legitimiert wurde wegen des überaus hohen
Anteils, den es am Kampf gegen den »Faschismus« hatte. (Ebd.,
2001, S. 87).Ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre geht der
Antifaschismus, so wie der Kreml ihn definiert, nämlich weit über den
Kampf gegen den tatsächlichen Faschismus hinaus. Er bezweckt hauptsächlich,
die totalitäre Erscheinung verschwinden zu lassen. Zum einen verwischt der
Antifaschismus die spezifische Besonderheit des Nationalsozialismus, der nunmehr
unter dem Oberbegriff »Faschismus« mit unterschiedlichen Systemen
wie denen von Franco oder Mussolini in einen Topf geworfen wird. Zum anderen verwischt
er auch die spezifische Besonderheit des sowjetischen Regimes, indem er dieses
demselben Lager wie die westlichen Demokratien zuordnet. Die Verwandtschaft zwischen
Nationalsozialismus und Kommunismus verschwand damit völlig. Die Welt wird
geteilt in »Faschisten«, mit Deutschland als Anführer, und in
»Antifaschisten«, mit der Sowjetunion als bedeutendstem Vertreter.
Das während des Zweiten Weltkrieges geschlossene Bündnis sollte diese
künstliche Dichotomie besiegeln, die schließlich ihre eigene Historiographie
hervorrief. (Ebd., 2001, S. 87-88).Eine solche Strategie
war natürlich besonders vorteilhaft. Die spezifische Besonderheit des Nationalsozialismus
zu verschleiern ermöglichte es, entweder ihn als Variante der autoritären
Rechten hinzustellen oder irgendeiner beliebigen rechten Gruppierung ein insgeheimes
Einverständnis bzw. inhaltliche übereinstimmungen mit dem Faschismus
zu unterstellen. Später fand das Verfahren wegen seiner Bequemlichkeit eine
ständig erweiterte Anwendung: In aufeinanderfolgenden, konzentrischen Wellen
konnte schließlich die Anschuldigung des »Faschismus« gegen
jeden vorgebracht werden. »Die Kommunisten behaupten immer von ihren Feinden,
sie seien Faschisten«, beobachtete bereits Andre Malraux. So wie der Antikommunismus
als oberster Maßstab ermöglicht, alles, was man verabscheut, als »kommunistisch«
zu verurteilen, so ermöglicht der Antifaschismus, alles, was man bekämpfen
will, »faschistisch« zu nennen. Der Faschismus definiert sich dann
nicht mehr als bestimmte gesellschaftliche und politische Struktur. So wurden
Krawtschenko und Solschenizyn automatisch »Faschisten« gescholten,
weil sie den Gulag angeprangert hatten. Heute noch gilt: »Wer die Übereinstimmung
von Faschismus und Sozialismus unterstreicht, ist rechts, und wer rechts ist,
gehört im Grunde genommen der äußersten Rechten an, ist also selber
ein Faschist.« Die angewandte Methode hat Joseph Gabel »den Syllogismus
der falschen Übereinstimmung« genannt. Dieses pseudo-logische Verfahren
besteht darin, die konkreten Elemente im Wortlaut eines Vergleichs zu trennen,
diesem ein übereinstimmendes Element künstlich zu entnehmen und diese
teilweise Übereinstimmung zur totalen Übereinstimmung zu erheben: »De
Gaulle ist gegen den Kommunismus, Hitler war es auch, also ist de Gaulle = Hitler«
(a.a.O., S. 84). Eine unverwüstliche Methode, die ständig mißbraucht
wurde. (Ebd., 2001, S. 88-89).Der Mythos der UdSSR als »Bastion
des Antifaschismus« ermöglichte außerdem, den Kommunismus sowohl
national als auch international mit der Verteidigung der demokratischen Werte
gleichzusetzen. Man pflegte die Vorstellung, der Kommunismus sei nichts anderes
als eine höhere oder weiterentwickelte Form der Demokratie. Und der Antifaschismus
ermöglichte es schließlich, den Antikommunismus zu diskreditieren.
Wenn die Kommunisten dem Faschismus entgegenwirken und sich ihm sogar mit noch
mehr Kraft als die anderen widersetzen, dann arbeitet jeder Antikommunismus objektiv
betrachtet dem Faschismus in die Hände (Syllogismus bei alternativer Schlußfolgerung).
Und da der Nationalsozialismus antikommunistisch ist, läßt sich daraus
leicht die Ansicht ableiten, daß jeder Antikommunismus der Sache des Nationalsozialismus
diene und daß demzufolge der Antikommunismus ein größeres Übel
als der Kommunismus sei. So konnte der Kreml den Antifaschismus »zu einer
Art Schaufenster des Kommunismus machen, und zwar ausgehend von der Vorstellung,
daß ein guter Antifaschist sowjetophil sein müsse und daß man
nicht gleichzeitig antisowjetisch und antifaschistisch sein könne. Diese
Form von politischer Erpressung hat die Anziehungskraft des Stalinismus ungemein
verstärkt« (François Furet, a.a.O., S. 9). (Ebd., 2001,
S. 89).Da jeder Gegner des Kommunismus als potentieller Nazi angesehen
wurde, wurden die auch vom Antifaschismus geheiligten sowjetischen Terrormethoden
gleichzeitig entschuldbarer und verständlicher. Auf Antrag ihres Vorsitzenden
Viktor Basch bildete die Liga für Menschenrechte 1936 eine Kommission
zur Untersuchung der Moskauer Prozesse. Nach dessen Rückkehr aus der UdSSR
befand die Kommission die Angeklagten für schuldig. Bertolt Brecht schrieb
zum selben Zeitpunkt: »Was die Prozesse (von Moskau) betrifft, so wäre
es ganz und gar unrichtig, bei ihrer Besprechung eine Haltung gegen die sie veranstaltende
Regierung der (Sowjet-)Union einzunehmen, schon da diese ganz automatisch in kürzester
Zeit sich in eine Haltung gegen das heute vom Weltfaschismus mit Krieg bedrohte
russische Proletariat und seinen im Aufbau begriffenen Sozialismus verwandeln
müßte.« (**).
(Ebd., 2001, S. 90).So wie er von Stalin aufgefaßt und umgesetzt
wurde, hat der Antifaschismus also vor allem dazu gedient, den Sowjetismus zu
legitimieren. Indem er dem »Faschismus« eine hinlänglich große
Spannweite verlieh, so daß dieser jede Form von Antikommunismus in sich
einschloß (zur Zeit des Kalten Krieges werden Eisenhower, Foster
Dulles, de Gaulle und Adenauer selbstverständlich die Nachfolge Hitlers und
Mussolinis als Verkörperung des »Faschismus« antreten), erzeugte
er die Illusion von einem gemeinsamen Hauptnenner zwischen der Sowjetunion und
den westlichen Demokratien und rief dabei eine neue künstliche Kategorie
hervor. (**). Im übrigen hatte die
»antifaschistische »Mobilmachung Mussolini dazu gebracht, ein Bündnis
mit Hitler zu schließen, das er ursprünglich nicht wollte. . .... »Einer
der großen Erfolge des sowjetischen Regimes besteht darin«, so Alain
Besançon, »seine eigene ideologische Klassifizierung der neuzeitlichen
politischen Systeme verbreitet und durchgesetzt zu haben. (Ebd., 2001, S.
90-91). Die
faschistischen Bewegungen wurden von Nolte
als Antworten auf die bolschewistische Gefahr gedeutet. .... Die Frage, ob der
Faschismus eine »soldatische« und voluntaristische Wende einer konterrevolutionären,
hierarchisierenden und antimodernen Ideologie (Nolte) darstellt, ob er vielmehr
eine modernistische und revolutionäre Lehre bildet, die der Idee einer neuen
Gesellschaft offensteht und eine überholte Vergangenheit nicht braucht (Furet),
oder ob er grundsätzlich das Ergebnis einer Revision des Sozialismus in einem
antimaterialistischen und antiinternationalistischen Sinn ist (Sternhell), bleibt
... weiterhin umstritten. (Ebd., 2001, S. 93-94).Wie
von Hannah Arendt unterstrichen, teilen sich die politischen Systeme nicht in
faschistische und antifaschistische Systeme auf, sondern vielmehr in liberale,
demokratische, autoritäre und totalitäre. (Vgl.
hierzu: Staatsformen;
HB).
(Ebd., 2001, S. 96).Mussolini ... in seiner berühmten Rede
vom 22. Juni 1925 im Theater Augusteo anläßlich des 4. Kongresses der
nationalfaschistischen Partei (PNF): »Alles im Staat, nichts außerhalb
des Staats, das ist unser unerbittlicher und totalitärer Wille!«
.... Der Zusammenhang zeigt eindeutig, daß Mussolini unter »Totalitarismus«
lediglich das Mittel versteht, um die demokratische Trennung zwischen Staat und
Gesellschaft zu überwinden. In einem Land, dessen erst spät erfolgte
Einheit durch die Folgen der Wirtschaftskrise und durch die ungleiche Entwicklung
im Norden und im Süden weiterhin gefährdet bleibt, war er der Ansicht,
daß nur ein starker Staat die Vereinigung und Modernisierung einer echten
nationalen Gemeinschaft erfolgreich durchführen könne. »Für
den Faschismus«, erklärte er, »ist alles im Staat, und Menschliches
oder Geistiges besteht nicht, geschweige denn hat Wert außerhalb des Staats.«
Diese Mystik des Staats hat mit »Staatolatrie« (Staatsverherrlichung),
und nicht mit Totalitarismus zu tun. Sie ist mit den Theorien des »totalen
Staates« in Verbindung zu bringen, die von Carl Schmitt (»Der totale
Staat«, in: Der Hüter der Verfassung, 1931; »Die
Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland«, in: Positionen
und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923-1939, 1940, S. 185 ff.)
und vor allem von Ernst Forsthoff (Der totale Staat, 1933) entwickelt wurden.
Diese Theorien sollten bald von den Nationalsozialisten verworfen werden, die
ihren Verfassern vorwarfen, der »lateinischen Staatsverherrlichung«
zu erliegen. (Ebd., 2001, S. 96-97). Arendt
weist die liberalen Theorien, die in den totalitären Systemen bloß
ein Wiederaufleben »archaischer« Verhaltensmuster völlig irrationalen
Charakters zu sehen neigten, entschieden zurück und zeigt vielmehr auf, daß
das Wesen dieser Systeme, die sich durch den Antisemitismus, den Sozialismus oder
den Imperialismus des 19. Jahrhunderts nur sehr unvollkommen erklären lassen,
erst durch eine kritische Analyse der Genealogie der Moderne erfaßt werden
kann. (Ebd., 2001, S. 102-103).Eines kann man den Theorien
des Totalitarismus hingegen vorhalten: Sie neigen zu oft dazu, die untersuchten
politischen Systeme viel mehr aufgrund ihrer formalen Merkmale zu definieren (Kult
eines aus dem Volk stammenden obersten Chefs; Einheitspartei, die das gesamte
gesellschaftliche Leben unter ihre Kontrolle bringt; eine Ideologie, die der Diskussion
entzogen und zur Staatswahrheit erhoben wird; Mobilisierung der Massen, die das
Privatleben nicht ausspart; allgemeiner Terror gegen die) Volksfeinde«;
uneingeschränktes Informationsmonopol; Absorption sämtlicher Einrichtungen
und des Rechts u.s.w.) als aufgrund ihrer tiefen Inspiration, weshalb sie über
die umstände ihrer Entstehung und Entwicklung meistens nichts sagen. Sie
sind dann im Grunde mehr beschreibend als erklärend. Doch dieser Fehler,
der vor allem bei us-amerikanischen Autoren wie Carl J. Friedrich und Zbigniew
Brzezinski anzutreffen ist, ist kein gemeinsames Merkmal aller dieser Theorien:
Hannah Arendt zum Beispiel beschränkt sich keineswegs auf eine strukturelle
und statische Beschreibung der totalitären Regime, sie sucht vielmehr deren
Ursprung und Entstehung zu erklären, weshalb sie nicht ein einfaches Modell
bietet, sondern eine echte Theorie. (Ebd., 2001, S. 107-108).Der
Totalitarismus beschränkt sich nämlich nicht auf Ähnlichkeiten
in den Strukturen und den Funktionsweisen. Über ihre gemeinsamen Formen hinaus,
die übrigens gewisse Abweichungen (**)
aufweisen können, liegt die Verwandtschaft zwischen den totalitären
Regimen zunächst in ihrer Inspiration und ihrer Zielsetzung, deren Formen
lediglich Mittel darstellen. Diese Inspiration und diese Zielsetzung hängen
nicht so sehr von einer gemeinsamen Idee im doktrinalen Sinne des Wortes ab (sie
können vielmehr von völlig unterschiedlichen Ideen übertragen werden)
wie von einer geistigen Haltung, die erst in einer bestimmten Zeit entstehen und
sich entwickeln konnte. Diese geistige Haltung beruht auf der Verschmelzung zweier
unterschiedlicher Elemente: zum einen eine manichäische und messianische
Vision »religiöser« Art, zum anderen ein extremer Voluntarismus,
der mit einer uneingeschränkten Zustimmung zu den Werten der Moderne einhergeht.
(Ebd., 2001, S. 108-109). Die
modernen Ideologien sind profane Religionen. Sie stützen sich auf verweltlichte
theologische Begriffe. Diese Feststellung gilt ganz besonders für die totalitären
Systeme, deren tausendjährigen Anspruch und messianische Komponente in der
Vergangenheit vor allem die christlichen Häresien vermittelt haben. Wie einige
andere Autoren (Waldemar Gurian, Eric Voegelin, Jean-Pierre Sironneau) beschrieb
Raymond Aron die modernen Totalitarismen als »politische Religionen«
oder »weltliche Religionen«, das heißt, als »Lehren, die
in den Seelen unserer Zeitgenossen die Stelle des Glaubens einnehmen und das Heil
der Menschheit hier auf Erden sehen, in einer fernen Zukunft, in Form einer noch
zu schaffenden Sozialordnung«. (Ebd., 2001, S. 111).Die
Ideologie spielt hier natürlich eine vorrangige Rolle. Mehrere Beobachter
der totalitären Systeme, wie Alain Besançon, Michel Heller oder François
Furet, haben sie übrigens als »ideokratische« Systeme beschrieben.
Diese Bezeichnung paßt vor allem auf das sowjetische System (**):
Der Totalitarismus ist jedoch nicht allein schon deswegen totalitär, weil
er sich auf eine Ideologie bezieht - entgegen der Ansicht der liberalen Autoren,
die sich einbilden, von einem nicht-ideologischen Ort aus zu sprechen. Alle Menschengesellschaften,
sofern sie eine bestimmte Weltanschauung konkretisieren, besitzen nämlich
eine ideologische Legitimationsbasis, mag diese offen ausgesprochen oder verinnerlicht
sein. Eigentlich spielt auch nicht der Inhalt der Ideologie die Hauptrolle in
den totalitären Systemen (**)! Es
ist vielmehr die Art, wie dieser Inhalt bewußt als Wahrheitssystem aufgestellt,
offiziell vertreten und jeglicher Form von Diskussion entzogen wird. Montesquieu
sagte, daß jedes politische System ein Wesen (»was es als solches
macht«) und ein Prinzip (»was es zum Handeln bringt«) besitzt.
Eines der Merkmale des Totalitarismus ist, daß sein Wesen und sein Prinzip
eins sind, eben weil sie einer »totalen« Ideologie untergeordnet sind,
die »aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit
... alles Weitere deduziert« (**)!
Ähnlich wie die religiösen Lehren stellt sich diese Ideologie als eine
im wesentlichen dogmatische Struktur dar, die absolute Gewißheiten trägt,
den anderen Lehrmeinungen die Rolle des falschen Bewußtseins oder der Mystifizierung
(Täuschung) zuweist, mit dem Ziel, die Realität dessen, was eigentlich
auf dem Spiel steht, zu verschleiern. Als solche spielt sie sich als oberste Wissenschaft
der Geschichte oder des Lebens auf, und ihre Grundbegriffe und Grundprinzipien
werden zu alleinigen Wahrheiten. (Ebd., 2001, S. 111-112).Zu
den eindeutigsten »religiösen« Merkmalen der totalitären
Systeme gehören die dualistische Weltanschauung, das messianische Warten
auf eine neue Epoche und der grenzenlose Wille, eine noch nie dagewesene Gesellschaft
zu errichten. »Was ist unter »messianischem
Gefühl« zu verstehen?« fragt D. C. Rapoport. »Es
ist das Gefühl, daß eines Tages die Geschichte und das Leben auf dieser
Erde völlig und unumkehrbar verändert sein werden - vom Stadium des
ständigen Kampfes, den wir alle erfahren haben, übergehend zu dem der
vollkommenen, von vielen erträumten Harmonie, in dem es weder Krankheiten
noch Tränen geben wird, in dem wir von jeglicher Regel völlig befreit
sein werden, die Voraussetzung für eine vollkommene Freiheit.«
(Ebd., 2001, S. 113).Die dualistische Auffassung besteht darin,
die Welt in Form einer radikalen Teilung zu denken: wir und die anderen, die Kräfte
des Guten und die Kräfte des Bösen. Die Welt wird nun ausschließlich
in Freunde und Feinde eingeteilt, ohne daß irgendein dritter Standpunkt
möglich ist. »Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich«, ist
bereits im Evangelium des Matthäus (12, 30) zu lesen. Bei Lenin wird aus
die im Grundsatz: »Entweder die bürgerliche oder die sozialistische
Ideologie. Es gibt keinen Mittelweg.« Im Zusammenhang mit dem Stalinismus
sprach Kolakowski deshalb vom »Schema der einzigen Alternative«, Alain
Finkielkraut von einer »radikalen Simplifizierung, die einen unerbittlichen
Determinismus mit einem entfesselten Moralismus verbindet«. (Ebd.,
2001, S. 113).Diese Auffassung von einer zweigeteilten Welt entspricht
im Kommunismus der Konfrontation zwischen Proletariat und Ausbeuterklassen, im
Nationalsozialismus der zwischen den Deutschen (bzw. den Ariern) und den Juden,
wobei dieser Gegensatz offenbar dem zwischen Christen und satanischem Antichrist
nachgebildet ist. (»Die Bourgeois sind
für Lenin, was die Juden für Hitler sind«, stellt Helene Carrère
d'Encausse fest.) In beiden Fällen stellt die Partei die Quintessenz des
guten Prinzips dar, weil sie sich mit dem (sozial oder rassenmäßig)
gesündesten Teil des Volkes identifiziert (dem »auserwählten«
Teil, der eine historische und metaphysische Mission zu erfüllen hat, sofern
er ein höheres Rassenbewußtsein hat oder die Avantgarde des Proletariats
darstellt) und weil sie als solche vorwegnimmt, wie das Volk der gesamten Zukunft
sein wird. Ihm fällt es also zu, mit allen Mitteln den Kampf gegen das schlechte
Prinzip zu führen. Die Politik wird auf diese Weise zu einem Religionskrieg
apokalyptischen Charakters gegen die Kräfte des Bösen. In beiden Fällen
stehen wir einer Theorie gegenüber, die »eine Heilslehre zugunsten
einer auserwählten Gemeinschaft - der deutschen Rasse oder dem Weltproletariat«
(Philippe Burin) - formuliert. (Ebd., 2001, S. 113-114).Auch
in beiden Fällen wird dieser universale Kampf von einer Weltanschauung legitimiert,
die auf einer Metaphysik der Subjektivität gründet, die wiederum als
objektive historische Notwendigkeit verkleidet ist. Hitler versichert, daß
der Kampf, den der Arier, dieser »Prometheus der Menschheit«, führt,
mit »den ewigen Naturgesetzen« übereinstimmt, die aus der Sicht
des Sozialdarwinismus als Kampf aller gegen alle gedeutet werden. Der universale
Kampf führt die Auslese der Besten herbei und erfüllt somit den »Willen
der Natur, die das Niveau der Lebewesen zu heben neigt«. Die Umkehr-Behauptung
folgt auf dem Fuße: Wenn die Besten zwangsläufig obsiegen, dann ist
die Herrschaft der Stärkeren folgerichtig, das heißt, sie erfolgt im
Sinne der Geschichte. So behauptet Lenin auch, daß das Aufkommen des Kommunismus
mit der historischen Notwendigkeit übereinstimme, die als ständiger
Fortschritt gedeutet wird. In beiden Fällen bildet die Geschichte das oberste
Gericht, das die Richtigkeit der Theorie zu überprüfen ermöglicht.
Der Kampf hat den Wert eines auslesenden Prinzips, das denjenigen siegen hilft,
die sich im Wahren befinden: Wer gewinnt, beweist auf diesem Weg, daß er
recht hatte. Hier klingt der moderne Historizismus
an, eine weltliche Version des Glaubens an eine linear verlaufende, auf das Reich
Gottes hin ausgerichtete Geschichte. Die Klasse ebenso wie die Rasse wird zu einem
singularen Subjekt, zu einem Singularetantum substantiviert, das den Sinn der
Geschichte in sich trägt und rechtlich ebenso wenig geteilt werden kann,
wie seine Identität Probleme hervorrufen soll. Paradoxerweise ist der Voluntarismus
also verbunden mit dem Glauben an ein absolutes Gesetz, das nicht Ergebnis der
Deutung der Menschen, sondern sich ihnen vielmehr aufzwingt - das Gesetz der Geschichte
oder das des Lebens. Dieses Gesetz grenzt die »Willensfreiheit« (**)
einschneidend ab und unterwirft alle Fragen bezüglich der Freiheit den gleichen
Aporien wie die klassischen Formen des Determinismus oder der Prädestination.
Über allen und allem errichtet, hat dieses »Gesetz der Bewegung einer
übermenschlichen Kraft, der Natur oder der Geschichte« (**)
zur Folge, daß die positiven Gesetze (die nur akzeptiert werden, wenn sie
mit ihm übereinstimmen) jegliche Gültigkeit verlieren und daß
die Kriterien des Erlaubten und des Verbotenen gesprengt werden. Dieses Gesetz
ist die wesentliche Quelle jener Wahnvorstellung von Transparenz und totaler Beherrschung,
die die Totalitarismen kennzeichnet. (Ebd., 2001, S. 114-115).Sofern
sie einen quasi-ontologischen Einschnitt in der Geschichte der Menschheit anstreben,
treiben die Totalitarismen auch die Leidenschaft für das Neue auf die Spitze.
Sie behaupten, noch nie dagewesene Gesellschaften entstehen zu lassen: »neues
Reich«, »neuer Mensch«, »neue Ära« sind solche
Formeln, die eine absolute Grenze zwischen dem Vorher und dem Nachher ziehen;
das Novum liegt in dem Vorhaben, ein oberstes Kollektivziel zweckgerichtet zu
planen. Nach Giovanni Gentile, der bereits 1898 das »westlich-metaphysische«
Wesen des Marxismus beleuchtet hatte, hat auch Ernst Bloch die Rolle des Strebens
nach dem »Ganz Anderen« im Kommunismus als profaner Form des Paradieses
auf Erden aufgezeigt: Der Wille, mit der Vergangenheit tablula rasa zu
machen, zeugt von einem Willen zum totalen Bruch, der allein eine ganz neue, von
einem neuen Menschen regierte Welt hervorzubringen vermag. »Im Nationalsozialismus
und im Kommunismus«, unterstreicht Alain Besançon, »geht es
darum, durch Ausrottung des Bösen eine vollkommene Gesellschaft und einen
neuen Menschen zu schaffen.« Es herrscht eine zweifache Versessenheit: auf
das Abschließen eines endgültig abgelaufenen Zeitalters und gleichzeitig
auf das Eröffnen einer völlig neuen Ära. (Ebd., 2001, S.
115-116).Hierin ist der Totalitarismus der unmittelbare Erbe der
Moderne, die von Anfang an als tablula rasa auftrat, das heißt als
grundsätzliche Ablehnung und Wegwerfen all dessen, was zuvor als erhaltens-
und vermittelnswert angesehen wurde. Die implizite Parole der Moderne lautet,
daß man die »Grenzen des Möglichen« (Arendt) unaufhörlich
erforschen müsse, in der Meinung, daß alles, was möglich ist,
auch wünschenswert sei. Diese Parole entspricht jener »unbegrenzten
Expansion«, die Hannah Arendt eben zum Telos der Moderne erhebt (**),
oder der profanen Anwendung dessen, was Heidegger den »Begriff der Unendlichkeit«
nennt. Sie bedingt eine Infragestellung des Begriffs »Grenze« selbst,
die unendlich zu verschieben der menschliche Wille oder der »Fortschritt«
aufgerufen ist. (Diese Infrafestellung
der »Grenze« gehört laut Spengler zum Kennzeichen der»
faustischen« Kultur des Abendlandes mit dem »Ursymbol«: »Unendlicher
Raum« [**|**];
sie gab es also auch bereits in der vormodernen Zeit! HB.)
Definitionsgemäß ist der Totalitarismus das System, das keine Grenzen
kennt und nach der totalen Mobilisierung der Menschen und der Welt trachtet; das
System, das die Ausforschung und Zur-Vernunft-Bringung der gesamten Welt anstrebt;
diese Totalität der Welt entfaltet er als solche in einer »massiven
Macht der Requisition« (Jean-Luc Nancy und Jean-Christophe Bailly). Er ist
das System, das nicht nur glaubt, daß alles möglich ist (weil sein
Wille grenzenlos ist), sondern auch, daß alles erlaubt ist (weil es die
absolute Wahrheit verkörpert). (Ebd., 2001, S. 116-117).Diese
totale Mobilisierung ist von einem Streben nach Vereinheitlichung nicht zu trennen.
Der Totalitarismus versucht vor allen Dingen, die menschliche Vielfalt zugunsten
eines Einheitsmodells zu verringern. Er bringt damit eine Pervertierung des Einheitsprinzips
zum Ausdruck, die in der Beseitigung seines Gegenparts, der Vielfalt, auf der
Grundlage eines politischen Bezugs auf die Universalität besteht. In diesem
Sinne offenbart er wohl eine Ablehnung »der Ambivalenz der Welt« (Peter
Fidelius), einen ungeheueren Versuch, alle menschlichen Bedeutungen zu vereinheitlichen,
die Distanz zwischen der Mannigfaltigkeit des Wirklichen und der Einheit des Begriffs
abzuschaffen, diese Einheit um jeden Preis hier und jetzt zu errichten. Deshalb
muß in den totalitären Regimen alles, was die Menschen voneinander
unterscheidet, alles, was zwischen den Menschen und der Macht im Wege steht, beseitigt
werden - und das ist um so leichter möglich, als »bei vorhandener Homogenität
die Einheit als solche ganz und gar vernachlässigbar ist: Die Subtrahierung
einer Einheit oder irgendeiner Zahl von Einheiten von der Gesamtheit beeinträchtigt
in keiner Weise die Gesamtheit als solche.« (**).
(Ebd., 2001, S. 117-118).Diese Sicht geht
natürlich mit der Vorstellung von einem Ende der Geschichte (**)
einher, das heißt von einem Endstadium der Geschichte der Menschheit, das
eventuell - zu rhetorischen Zwecken - mit einer »neuen Geschichte«
gleichgesetzt wird, der aber sämtliche Merkmale der historischen Existenz
(**)
entzogen sind. Doch diese Vorstellung wird aus einer zugleich voluntaristischen
und dialektischen Sicht betrachtet. Zum einen wird dieser Prozeß nicht als
selbsterfolgend angesehen: Der Mensch muß sich vielmehr aktiv an ihm beteiligen,
um dessen Abschluß zu beschleunigen. Zum anderen kann man den durch das
Ausbleiben von Spannungen und Kriegen gekennzeichneten Endzustand nur durch die
Verstärkung der Spannungen und die Entfachung eines absoluten Krieges erreichen.
Die Phase der Antagonismen und Gegensätze zu überwinden setzt also zunächst
deren Aufreizung voraus. Das ist das Thema des »Endkampfs«, geführt
von einer entschlossenen Minderheit innerhalb der Einheitspartei, die über
die Beseitigung des Hauptwiderspruchs darauf hinzielt, die Geschichte zu ihrem
Abschluß zu bringen. Die totalitären Regime sind
Regime, die durch eine radikale Beschleunigung der Geschichte der historischen
Existenz ein Ende setzen wollen. (**|**|**|**|**).
(Ebd., 2001, S. 118).Die totalitären Systeme können in
diesem Sinne nie »rechts« sein, da jede Politik von »rechts«
vor allem durch Vorsicht gekennzeichnet ist: Sie setzt die Verfolgung von Zielen
voraus, die nur begrenzt sein können. Sie kann sich wohl auf eine Ideologie
oder eine Lehre stützen, die Ergebnisse werden aber nie als von vornherein
erzielt angesehen. Sie berücksichtigt die menschliche Natur, und dies verbietet
zu denken, alles sei möglich. Bei ihr wird die Zukunft niemals so angesehen,
als bedingte sie einen absoluten Bruch mit der Vergangenheit. Die Achtung vor
der menschlichen Verschiedenartigkeit bildet dort - zusammen mit dem, was sie
unter »Relativität«, unter Bezogenheit auf den jeweiligen Kontext
versteht - eine allgemeine Regel. Dagegen definieren sich die totalitären
Systeme von vornherein im Absoluten. Sie lehnen die Politik als Vorsicht ab und
fassen sie sowohl als Wissenschaft wie auch als Glaubensersatz auf, der bei sämtlichen
menschlichen Angelegenheiten im Besitz der allerletzten Wahrheit sei. (Ebd.,
2001, S. 118-119). Die
klassischen Gewaltherrschaften begnügen sich damit, von den Körpern
Besitz zu ergreifen und die Meinungsäußerungen zu kontrollieren, während
der Totalitarismus auch die Seelen besitzen will - ein weiterer Wesenszug, der
ihn in die Nähe der religiösen Systeme bringt. Deshalb bleiben erstere
mit einem gewissen Maß an sozialem Pluralismus vereinbar, obwohl sie den
politischen Pluralismus abschaffen. Dagegen versucht der Totalitarismus, die gesamte
soziale Wirklichkeit zu vereinheitlichen. Er versucht, die wuchernden Zufilligkeiten
des Sozialen zu beseitigen, mit anderen Worten den freien Ausdruck der sich aus
der Menschenvielfalt entwickelnden Gegensätze und die Möglichkeit ihrer
Lösung in Form einer demokratischen Auseinandersetzung. Die Wahnvorstellung
von der sozialen Transparenz wird hier bis zum Äußersten getrieben:
Es gilt wohl, das Zufillige, das Unvorhergesehene, das spontane Irrationale verschwinden
zu lassen, da sie verhindern, daß die Verwaltung der Gesellschaft ausschließlich
der Berechenbarkeit unterliegt. (Ebd., 2001, S. 121).Hannah
Arendt sah eine klare Verbindung zwischen der Atomisierung der Menschen, verursacht
durch den zunehmenden Einfluß des egalitären Individualismus, und der
totalitären Erscheinung. Für sie war der Totalitarismus eine Antwort
auf die »Entzauberung der Welt«, auf die Auflösung der Zwischenkörperschaften,
auf den kulturellen und sozialen Zerfall der modernen Industriegesellschaften,
in denen die Beschleunigung der Entwicklung jene Lebensweisen zerstörte,
die mit den organischen Primär-Gruppen (Familien, Dorfgemeinschaften usw:)
zusammenhingen. Ihrer Ansicht nach stand sein plötzliches Auftauchen in Zusammenhang
mit dem Erstarken entwurzelter »Massen«, die der Untergang der traditionellen
Gemeinschaften, Vereinigungen und Stände formbarer und verwundbarer denn
je gemacht hat. Das anonyme Individuum, schreibt einer ihrer Schüler, Domenico
Fisichella, »erinnert an ein Gefäß, das darauf wartet, gefüllt
zu werden«. (Dieser Analyse wurden die Ergebnisse einiger empirischer Forschungen
gegenübergestellt. In der Weimarer Republik gleicht die deutsche Gesellschaft
bekanntlich keineswegs dem von Arendt beschriebenen unorganisierten und atomisierten
Sozialaggregat. Man weiß auch, daß der aufkommende Nationalsozialismus
seine Heerscharen nicht an der Peripherie der Großstädte rekrutiert
hat, sondern in ländlichen Ortschaften, in denen noch starke assoziative
Realitäten herrschten. Diesem Einwand kann man entgegnen, daß die noch
nicht atomisierten Gesellschaftskreise auch diejenigen waren, die am meisten fürchteten,
es zu werden. Man müßte hier die Krise des deutschen Mittelstands in
der Weimarer Zeit ansprechen, seine Angst vor der «Proletarisierung»
und seine mangelnde politische Integration in die Gesellschaft.) »An der
Grenze«, fügt Claude Polin hinzu, »behauptet sich die totalitäre
Gruppe nur durch die Kraft ihrer Homogenität: Das Sandkorn ist außerhalb
seines Haufens nichts mehr.« (Claude Polin, a.a.O., S. 109). (Ebd.,
2001, S. 121-122).Bei der Begriffsbestimmung des Totalitarismus
war auch die Rede von vollständiger Auslöschung bzw. Überlagerung
der bürgerlichen Gesellschaft durch die öffentliche und institutionelle
Sphäre, durch den Staat oder durch einen zentralisierten hierarchischen Apparat,
der sich nicht unbedingt mit der staatlichen Verwaltung deckt. In den totalitären
Regimen gibt es nämlich außer der Macht keinen anderen Legitimitätsherd;
das bedeutet, daß sich die Gesamtgesellschaft mit der Macht deckt, die sie
verkörpern soll. Groß ist aber die Gefahr - wenn man es bei dieser
Bemerkung bewenden läßt -, in jene Interpretationen zurückzufallen,
die im Totalitarismus das Ergebnis eines bloßen »Aufstiegs ins Extreme«
in der Ausübung der politischen Macht sehen wollen. In dieser von den liberalen
Autoren geteilten Sicht »stellt der Totalitarismus die nackte Macht dar«.
Nun läuft aber der Totalitarismus nicht wie die klassischen Gewaltherrschaften
auf einen, wenn auch verstärkten, Gegensatz zwi-schen einer herrschenden
Minderheit und einer beherrschten Mehrheit hinaus. Es ist nicht so sehr ein allmächtiger
Staat als vielmehr ein sämtliche gesellschaftlichen Funktionen strukturell
umfassendes System, das für den Zusammenbruch der traditionellen Formen sozialer
Tätigkeit verantwortlich ist. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es richtiger,
die totalitären Regime als politische Systeme zu beschreiben, die nicht so
sehr die Gewaltherrschaft einer kleinen Gruppe über eine größere
sichern als vielmehr - im Hobbesschen Sinne - die Herrschaft aller über jeden.
Claude Polin, der sich unter anderem auf die Beobachtungen Alexander Sinovjews
stützt, schreibt in diesem Zusammenhang: »Die totalitäre Macht
ist in erster Linie die Tyrannei aller gegen alle; das tatsächliche Fundament
der Macht derjenigen, die sich an der Spitze der Hierarchie befinden, ist die
Macht derjenigen, die deren Grundlage bilden.« (Claude Polin, a.a.O., S.
117. Alexander Sinovjew stellt seinerseits fest, daß vor allem das sowjetische
Regime die soziale Grundlage des Landes zerstört hat. »Man kann den
deutschen Totalitarismus ablehnen und trotzdem das Sozialsystem des Landes erhalten«,
schreibt er. »Mit dem sowjetischen Totalitarismus läßt sich unmöglich
auf die gleiche Weise verfahren, ohne Gefahr zu laufen, die eigentlichen Grundlagen
des Sozialsystems des Landes zu zerstören.« [in: Der Kommunismus
als Realität, 1981, S. 55f.]). (Ebd., 2001, S. 122-123).Nun
läßt sich der Totalitarismus definieren als »eine Tyranei neueren
Stils, die seltsamerweise den Zwang auf alle und die Beteiligung aller miteinander
verbindet« (Claude Polin, a.a.O., S. 100). (Ebd., 2001, S. 124).
Die Herrschaft des Politischen über das Soziale darf auch nicht zur Verwirrung
Anlaß geben. Wenn alles politisch wird, verschwindet die Politik in dem
Augenblick, da sie zu obsiegen scheint, weil sie eben nur existieren kann, wenn
sie sich nicht mit dem Sozialen identifiziert. Die Politik breitet sich aus parallel
zur Einrichtung des Sozialen - sie entsteht aus der symbolischen Arbeit der Gesellschaft
an sich selbst -, sie deckt sich aber nicht mit dem Sozialen. »Politik«,
bemerkt Claude Lefort, »gibt es nur dort, wo sich ein Unterschied offenbart
zwischen einem Raum, in dem die Menschen einander als Staatsbürger erkennen
und sich zusammen innerhalb der Horizonte einer gemeinsamen Welt einordnen, und
dem eigentlichen Sozialleben, in dem sie lediglich die Erfahrung ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit machen, und zwar infolge der Arbeitsteilung und der Notwendigkeit,
ihre Bedürfnisse zu befriedigen.« (Claude Lefort, a.a.O., S. 26). So,
wie der Totalitarismus der Geschichte ein Ende setzt mit der Behauptung, ihren
tiefen Sinn erkannt zu haben, so schafft der Totalitarismus auch das Politische
ab, indem er es überall ausbreitet. (Ebd., 2001, S. 124). Das
mobilisierende Wesen der dichotomischen (zweigeteilten) Denkweise, die die totalitären
Systeme kennzeichnet, ist offensichtlich. In einer solchen Denkweise muß
die Welt zwangsläufig von denen gesäubert werden, die man von vornherein
nicht etwa als bloße Gegner bezeichnet hat, sondern als ontologische Feinde,
die zu beseitigen sind. D. C. Rapoport bemerkt hierzu: »Der heilige Terror,
in welcher Zeit er auch erscheint, steht meistens mit dem Messianismus in Verbindung.«
(D. C. Rapaport, a.a.O., S. 66). Der Messianismus hat nämlich nur Sinn, wenn
die Guten und die Bösen völlig entgegengesetzte Schicksale erfahren.
(Ebd., 2001, S. 125).Daß ein Gegensatz sich am besten überwinden
läßt, wenn man eines der Elemente beseitigt, versteht sich nun von
selbst. Für Lenin wie für Hitler ist die Voraussetzung für die
Beseitigung des schlechten Prinzips die Erlangung des kollektiven Heils, das heißt
der Zugang zu einem künftigen Leben, das nicht im Jenseitigen, sondern in
einer mehr oder weniger fernen Zukunft verwirklicht wird. Dieser Kampf ist ein
unerbittlicher Kampf ohne Unterlaß und mögliche Versöhnung und
kann nur mit der vollständigen Beseitigung des einen Lagers enden. »Der
Feind stellt das totale, stets gefährliche Übel oder, kurzum, etwas
anderes als Menschliches dar. Vereinbarungen sind unmöglich, denn die Beschränkungen,
die der Feind annimmt oder vorschlägt, zielen ausschließlich darauf
hin, uns zu täuschen. Stark wird dann die Versuchung zu behaupten, daß
angesichts eines solchen Feindes alles erlaubt sei.« (D. C. Rapaport, a.a.O.,
S. 86). Ein absolutes Ziel rechtfertigt in der Tat den Rückgriff auf alle
Mittel. Diese Mittel, so schrecklich sie auch sein mögen, werden annehmbar
angesichts des erhabenen Charakters, des unermeßlichen Ideals des angestrebten
Zieles. Die Größe des Zieles rechtfertigt, daß man sich gegen
jeden unerbittlich zeigt, der diesem Ziel im Wege steht, daß man ihm einen
totalen, undifferenzierten, unaufuörlichen Haß entgegenbringt. Die
Behauptung, im Namen der »Menschheit« zu kämpfen, verstärkt,
wie bereits gesehen, diese Einstellung: Wer sich der Menschheit widersetzt, ist
zwangsläufig Nicht-Mensch. Das gilt ebenso für die Überzeugung,
daß das Übel nicht im Menschen, sondern in der Gesellschaft liege:
So, wie jede Ungleichheit in einem egalitären Klima unerträglich wird,
so wird, wenn der Mensch von Grund auf gut ist, »der kleinste Schuldige
zum unglaublichen Monster« (Maurice Clavel, a.a.O., 1975, S. 100). Die staatliche
Gewalt kann dann als ethische Notwendigkeit erfahren werden, weil ihr Wirken unter
der Bürgschaft des Transzendenten steht, dem die künftige Gesellschaft
entspricht. Wird ein solches Ziel als eine von der Bewegung der Geschichte selbst
bedingte Notwendigkeit aufgestellt, dann wird der Henker zum Werkzeug dieser Geschichte
und die Beseitigung des Gegners zur Bedingung ihrer Vollendung. (Ebd., 2001,
S. 125-126).In dieser manichäischen Sicht, in der »die
Vielfalt innerhalb einer einzigen Welt durch den unversöhnlichen Gegensatz
zweier Welten ersetzt wird, verlangt die Totalitarisierung des Guten die Totalitarisierung
des Bösen, das heißt eine nicht weniger willkürliche Vereinigung
all dessen, was sich aus den verschiedensten Gründen dem vereinheitlichten
Guten widersetzt« (Peter Fidelius, a.a.O., S. 473). Der Gegner wird also
von vornherein auf die Seite des Nichtseins gestellt. Er ist der Fremdkörper,
der das Gleiche zwangsläufig stört, der den logisch denkenden Menschen
am Siegen hindert und der Verwirklichung des großen vereinheitlichenden
Ziels im Wege steht, und deshalb muß er restlos vernichtet werden, ins Nichts
gestoßen werden, dessen immer wieder aufflackende Gefahr er verkörpert.
Seine Beseitigung wird nicht nur durch die dem Kampf innewohnenden Bedingungen
notwendig, sie ist es auch in Anbetracht der Prinzipien: Der Beste kann nur obsiegen;
wird der Gegner nicht vernichtet, dann wird die Theorie falsch. (Ebd., 2001,
S. 126-127).Hannah Arendt zeigte als erste, daß die totalitären
Systeme die Menschen nicht nur für das morden, was sie tun, sondern auch
für das, was sie sind. Klassen- und Rassenfeinde werden gleichermaßen
»als »objektive Feinde« der Geschichte oder der Natur«
(Arendt) bezeichnet, das heißt als Menschen, die deportiert oder beseitigt
zu werden verdienen, weil ihre Existenz selbst einer oppositionellen Handlung
gleichkommt. Definitionsgemäß sind es »überflüssige
Menschen«. Da sie dem schlechten, störenden und damit völlig überflüssigen
Teil der Menschheit entsprechen, dessen Anwesenheit in der Welt schon immer der
Grund allen Übels ist, müssen sie nicht so sehr bestraft als vielmehr
ausgerottet werden, so wie man mit einer Krankheit, einer Umweltverschmutzung
oder einem Virus verfährt, daher die unzähligen biomedizinischen, hygienistischen
oder zoologischen Metaphern, mit denen sie belegt werden: »faschistischer
Virus«, »jüdischer Bazillus«, »widerwärtige
Bestie«. Lenin redet davon, Rußland von »seinen Parasiten«
und sonstigen »schädlichen Insekten« zu säubern. Jean-Paul
Sartre behauptete später, daß »jeder Antikommunist ein Hund ist«.
Der schlechte Teil der Menschheit muß ausgerottet werden, weil er angesichts
des objektiven Gesetzes der Weltentwicklung, das die absolute Wahrheit verkörpern
soll, nur die absolute Lüge darstellen kann. Die exterminationistische Logik
und der geplante Terror werden dann unvermeidlich. (Ebd., 2001, S. 127-128).Deshalb
geht die Repression in den totalitären Systemen immer weit über den
tatsächlichen Widerstand hinaus, auf den die Macht innerhalb der Gesellschaft
stößt. Ein Merkmal des totalitären Terrors ist, daß er seinen
Höhepunkt erreicht, wenn das Regime keine Gegner mehr hat, daß er weiter
zunimmt, wenn es für seine Existenz keinen Grund mehr gibt. Diesen Systemen
reicht es nämlich nicht, jegliche Opposition verschwinden zu lassen. Paradoxerweise
müssen sie gleichzeitig die Opposition verschwinden lassen und eine neue,
sogar eine künstliche schaffen, damit ihre Existenz noch einen Sinn hat,
das heißt, damit sie weiterhin als berechtigt erscheinen, ihre Mission fortzusetzen.
Deshalb »öffnen« sie keineswegs die »Deckung«, wenn
es keine Oppositionellen mehr gibt, sondern schaffen selber wieder welche, indem
sie die Rolle des Gegners denjenigen unter ihren Anhängern zuweisen, die
sie nicht für zuverlässig genug halten oder nicht »rein«
genug finden. Die Vorstellungswelt des Komplotts (»Verschwörung des
Kapitals gegen die Arbeiter« oder »jüdisch-freimaurerische Verschwörung«)
ist eine starke Triebfeder dieses Prozesses allgemeinen Argwohns: Die List des
Teufels besteht darin, glauben zu machen, daß es ihn nicht gibt; die gefährlichsten
Feinde sind immer »maskiert«. Dieses Anhalten des Terrors, obwohl
er jeglichen allgemein nachvollziehbaren »Nutzen« «verloren
hat, erklärt, weshalb die totalitären Regime es nicht schaffen, sich
zu stabilisieren, sondern immer zur Flucht nach vorn gezwungen sind. »Im
ersten Stadium«, bemerkt Maurice Weyembergh, »begnügt sie (die
politische Polizei) sich damit, die Regimegegner zu liquidieren; im zweiten nimmt
sie sich die »objektiven Feinde« vor und ersetzt das »vermutete
Vergehen« durch das »mögliche Verbrechen«. Im dritten Stadium,
in dem der Terror gipfelt, ... wird der objektive Feind durch irgend jemanden
ersetzt.« (Maurice Weyembergh, a.a.O., 1990, S. 68). Der Totalitarismus
institutionalisiert somit den Bürgerkrieg. Und da die Feinde sehr bald zu
metaphysischen Feinden werden, sind die Säuberungsmöglichkeiten unerschöpflich.
»Der eigentliche Terror setzt hingegen dann ein, wenn alle zu jeder Zeit
für schuldig befunden werden können, ohne überhaupt ein Gesetz
überschritten zu haben«, schreibt Claude Polin (a.a.O., 1976, S. 75).
Das eigentliche Prinzip des Totalitarismus ist die Säuberung als Modus der
Verwaltung des Sozialen. Der Totalitarismus, so Polin weiter, ist eine Form sozialer
Organisation, »die den Terror nicht benutzt, sondern deren Wesen der Terror
ist« (ebd., 1976, S. 44). (Ebd., 2001, S. 128-130).Das
beherrschende Merkmal bei Lenin und seinen Nachfolgern ist eben die Auffassung
der Politik als Bürgerkrieg. Hinsichtlich dieses Merkmals überbieten
sie die dem Nationalsozialismus eigene Logik, sofern letztere vor allem äußere
Feinde bekämpft. Im kommunistischen System ist der Feind vor allem ein innerer
Feind, und deshalb ist dieses System zu andauernder Säuberung verurteilt.
Im Juni 1919 erklärte Lenin: »Welche Schande wäre es, sich unentschlossen
zu zeigen und aus Mangel an Angeklagten keine Erschießungen vorzunehmen.«
(Notiz vom 08. Juni 1919, adressiert an E. Slansky, Tscheka-Agent). Die Äußerung
ist bezeichnend. Sie bestätigt, daß das Fehlen von Feinden das System
bestimmt mehr gefährdet als ihre Präsenz und daß es immer wieder
welche produzieren muß, um durch die ständige Bedrohung sich selbst
zu legitimieren. In den Jahren 1937 und 1938 brachte die sowjetische Regierung
es fertig, blind bestimmte Quoten von zu Deportierenden festzusetzen. Zwischen
1934 und 1953 wurde insgesamt jeder fünfte Mann in eine Strafkolonie oder
in ein Lager zwangsverschleppt. Die kommunistische Politik erscheint von daher
als eine Politik der Feindseligkeit gegenüber einer ganzen Gesellschaft,
während sie gleichzeitig ebendiese Gesellschaft durch Beteiligung an der
staatlichen Gewalttätigkeit zum Kampf gegen sich selbst einlädt. In
einem solchen Klima haben nur die Repressionsorgane die Möglichkeit, nach
Belieben zu handeln, und einer totalen Freiheit erfreuen sich nur diejenigen,
die mit der Abschaffung der Freiheit beauftragt sind. (Ebd., 2001, S. 130). Der
totalitäre Fanatismus setzt nicht nur eine Intoleranz rein religiösen
Typs fort, er ist offenbar auch von der Moderne stark geprägt. (Ebd.,
2001, S. 131).Im Dritten Reich ... Massenkonsum, ... Technik eine
Vorrangstellung, ... Massentouriosmus .... (Ebd., 2001, S. 133).Das
Hiler-Regime berief sich auf eine »Blut-und-Boden«-Mystik, trug aber
weitgehend dazu bei, den deutschen Bauernstand zu beseitigen. Er besang die Tugenden
der Hausfrau, schickte sie aber in hoher Zahl zur Arbeit. (Ebd., 2001, S.
133).Auch das Hitler-Regime hat »sein Ideal verraten«.
François Furet konnte zu Recht behaupten, daß »die NS-Diktatur
Deutschland tatsächlich aus seiner Tradition entwurzelt hat, indem
sie bestimmte Elemente dieser Tradition für ihre Zwecke instrumentalisierte.«
(**).
(Ebd., 2001, S. 133).In dieser Hinsicht vertrat die Frankurter
Schule nicht zu Unrecht den Standpunkt, daß der Nationalsozialismus ohne
den Rationalismus der Aufklärung, den er jedoch zu bekämpfen behauptete,
nicht möglich gewesen wäre. Die Vorrangstellung der Technik, die immer
größere Beherrschung der Welt durch den Menschen und die Herrschaft
der bürgerlichen Subjektivität bilden nach der Einschätzung Theodor
Adornos und Max Horkheimers eine Einheit, die vom Begreifen des Straflagersystems
nicht zu trennen ist. Der Totalitarismus kann nämlich erst dann aufkommen,
wenn das Wissen mit der »Berechenbarkeit der Welt« gleichgesetzt wird
und sämtliche »undurchsichtigen» Strukturen beseitigt sind, die
bislang dem unaufhaltsamen Marsch zur totalen Beherrschung im Wege standen. Schon
1939 schrieb Horkheimer, daß die 1789 als Weg zum Fortschritt entstandene
Ordnung die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich getragen habe. Er fügte
hinzu, daß der Nationalsozialismus die Wahrheit der modernen Gesellschaft
sei und daß seine Bekämpfung mit Bezug auf das liberale Denken darauf
hinauslaufe, sich auf das zu stützen, was ihm zum Sieg verholfen habe. Augusto
Del Noce hat die Moderne in ähnlicher Weise beschrieben als eine »eigentlich
totalitäre« Zivilisation, während Michel Foucault im Zusammenhang
mit dem Nationalsozialismus von »Rationalität des Abscheulichen«
sprach. Zygmunt Baumann behauptet ebenfalls, daß es »die rationale
Welt der modernen Zivilisation« sei, die antisemitische Verfolgungen möglich
und vorstellbar gemacht habe. Diese stellten »nicht nur die technologische
Vollendung der industriellen Gesellschaft dar, sondern auch die organisatorische
Vollendung der bürokratischen Gesellschaften.« Die von den totalitären
Regimen verübten Massenmorde stellten extreme Formen instrumenteller Rationalität
dar, die sich unmittelbar aus der modernen Verwandlung des Menschen in
ein Objekt ableiten lassen. Hierin unterscheiden sie sich grundsätzlich von
sämtlichen früheren Massenmorden. (Ebd., 2001, S. 133-135). Die
französische Revolution, die offizielle Geburt der Moderne,
machte als erste aus dem Massenmord die rationale Folge der Aussage eines politischen
Prinzips. Der erste Völkermord in der Geschichte der Neuzeit hatte die Vendée
als Schauplatz: 180000 Männer, Frauen und Kinder wurden getötet einzig
aus dem Grund, daß sie geboren waren. Über die Vendéer erklärte
Couthon am 10. Juni 1794: »Es geht weniger darum, sie zu bestrafen, als
darum, sie zu vernichten.« Gegenüber ihren jeweiligen - tatsächlichen
oder vermeintlichen - Feinden haben die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wie
die französischen Revolutionäre reagiert: mit dem Willen zur Ausrottung,
mit immer wieder derselben Vorstellung, daß die Vernichtung des Feindes
die Voraussetzung für die Rettung der Welt sei. Die französische
Revolution war aber auch die erste, die die Massen mobilisierte und ihren
politischen Anhängern den Bruch mit allen anderen Bindungen auferlegte. Die
erste auch, die den Prozeß der Zerstörung der Zwischenkörperschaften
vervollkommnete in der Absicht, alles zu beseitigen, was zwischen der Zentralmacht
und den atomisierten Individuen im Wege stehen konnte. Die erste schließlich,
die einen Universalismus vertrat, der sich plötzlich in Fremdenhaß
verkehrte, nachdem die Begriffe »Franzose« und »universell«
gleichbedeutend geworden waren; wer nicht Franzose war, konnte logischerweise
von der Menschheit ausgeschlossen werden. (Ebd., 2001, S. 137).Die
Parallele zwischen der französischen und der sowjetischen Revolution,
zwischen dem jakobinischen und dem bolschewischen Terror wurde zuvorderst
von den russischen Kommunisten selber gezogen. Lenin war der erste, der die Kosaken
mit den Vendéern gleichsetzte; er behauptete, 1917 vollende 1789, und deutete
damit an, daß die Oktober-Revolution gewissermaßen Robespierres
Revanche darstelle. In den Ländem des Westens benutzten auch die KP-Führer
und ihre Weggefährten diese Parallele, um den Sowjetismus zu rechtfertigen
- wie François Furet klar erkannt hat, der die Rolle der »jakobinischen
Vorstellungswelt« bei der französischen Billigung des Kommunismus sowie
bei der Nachsicht der Intellektuellen gegenüber den mörderischsten Taten
der sowjetischen Regierung unterstreicht. (**).
Erklärte nicht Marcel Cachin nach seiner Rückkehr aus der UdSSR: »In
der russischen Revolution, die in ihren Methoden, in ihrem Ablauf die französische
Revolution II neu beginnt, ist nichts, was ein Franzose abschwören könnte«?
Ernst Nolte
konnte beobachten, daß »sich die französische Unke nicht nur
dadurch auszeichnet, daß sie die französische Revolution nach
wie vor als entscheidendste Phase in der Geschichte der menschlichen Emanzipation
wahrnimmt, sondern auch dadurch, daß sie eine positive Beziehung zwischen
der Französischen und der russischen Revolution herstellt«
(**). Heute noch,
fügt Krzystof Pomian hinzu, »sind die französischen intellektuellen
Kreise nicht wirklich entstalinisiert worden. Sie bleiben der Mythologie
der Volksfront tief verbunden, und noch tiefer der Vorstellung, daß die
französische Revolution ein in sich geschlossener Block
gewesen sei, was den Terror rechtfertige.« (**).
(Ebd., 2001, S. 138-139).Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatten
einige Autoren es verstanden, die nationalsozialistische Revolution als deutsche
Entsprechung des »jakobinischen Moments« (Bewegung) zu deuten, das
in Frankreich von der Revolution von 1789 verkörpert worden war. In seinem
Journal d'Allemagne, das er zwischen Oktober 1935 und Juni 1936 als Lektor
an der Frankfurter Universität führte, hatte Denis de Rougemont zwischen
Nationalsozialismus und jakobinischem Geist eine starke Übereinstimmung erkannt.
Indem er den Nationalsozialismus als »braunen Jakobinismus« und seine
Anhänger als »Sansculottes im braunen Hemd« beschrieb, zeigte
er, wie viel das Dritte Reich in seinen Bestrebungen wie auch in seinen Methoden
jenem 89ger Geist verdankte, auch wenn er ihn in seinen Reden verurteilte.
»Der gleiche zentralisierende Geist; die gleiche Versessenheit auf die Blockeinheit;
die gleiche Verherrlichung der Nation, die als Missionarin einer Idee angesehen
wird; der gleiche Sinn für symbolische Feste zur Erziehung der Menschen.«
(**).
(Ebd., 2001, S. 139-140).So wie die französischen Revolutionäre
die früheren Provinzen abgeschafft hatten, so löste Hitler das ehemalige
Preußen auf, zentralisierte das Reich und führte in sämtlichen
Bereichen eine Zwangseinigung durch: Schon im Februar 1934 wurden alle Landesparlamente
aufgelöst und die Regionen gleichgeschaltet. (**).
Alexandre Kojève hatte bereits darauf hingewiesen, daß »Hitlers
Wahlspruch: Ein Volk, ein Reich, ein Führer nur eine schlechte-Übersetzung
der Losung der französischen Revolution von der einen und unteilbaren
Republik ist«. »Lenin hat kein Hehl daraus gemacht, was er den Jakobinern
verdankte, und Hitler, was er Lenin verdankte«, bemerkt seinerseits Jules
Monnerot (a.a.O., 1969, S. 603). (Ebd., 2001, S. 140-141).Der
Versuch, den Kommunismus im Namen seiner tiefen, mit den Idealvorstellungen der
Moderne übereinstimmenden Inspiration reinzuwaschen, verschleiert also die
Tatsache, daß diese Inspiration die Wurzel nicht nur seiner Verbrechen,
sondern auch die der Verbrechen des Nationalsozialismus bildet. Letzterer war
keineswegs kriminell durch Übereinstimmung mit einer Ideologie, die, im Gegensatz
zum Kommunismus, nur ihm eigen gewesen wäre; er wurde es vielmehr in bezug
auf den Teil Inspiration, den er mit dem Kommunismus gemeinsam hatte. Das stellt
auch François Rouvillois fest, wenn er über den Nationalsozialismus
schreibt: »Nicht was ihn vom Marxismus unterscheidet, macht ihn kriminell,
sondern eben, was er mit ihm gemein hat.« »Marxismus und Nationalsozialismus«,
fügt er hinzu, »sind gleichermaßen totalitär durch dieses
sie vereinende Element: weil sie beide jener radikalen Moderne entsprungen sind,
die aufgrund ihrer historischen und anthropologischen Voraussetzungen nur in den
Alptraum abgleiten konnte.« (François Rouvillois, a.a.O., 1998, S.
29 ). (Ebd., 2001, S. 141). Über
das mit Stalin während des Zweiten Weltkriegs geschlossene Bündnis hinaus
liegt der eigentliche Grund für das Unvermögen der westlichen Demokratien,
den Kommunismus zu ächten, also offenbar in der uneingestandenen Verwandtschaft
mit ihm, die sich aus der Genealogie der Moderne ergibt. Die mehr oder weniger
deutliche Wahrnehmung dieser Verwandtschaft erklärt, weshalb der Sowjetismus
als verstärkte Fortsetzung des Sozialismus, ja sogar als strengere Anwendung
der Demokratie angesehen werden konnte. Ernst Nolte
bemerkt zu Recht: Die Unterscheidung zwischen einem in seinen Absichten guten
Kommunismus und einem Nationalsozialismus, der bis in seine Vorsätze hinein
übelmeinend gewesen sei, verrät implizit dieAnsicht, daß die liberalen
Demokratien und der Kommunismus letzten Endes dasselbe Ideal teilen und daß
sie sich nur in der Art seiner Verwirklichung unterscheiden. (Vgl. a.a.O., S.
796). Mit anderen Worten: Die liberalen Demokratien können nicht umhin, sich
in den universalistisch-egalitären Bestrebungen des Kommunismus wiederzuerkennen.
Deshalb neigen sie - auch wenn sie die von ihm angewandten Mittel verurteilen
- spontan zu der Meinung, daß wenigstens sein Ideal gut gewesen sei, und
zu der Überzeugung, daß die Verurteilung der Verbrechen des Kommunismus
letzten Endes denjenigen in die Hände spiele, die dieses gemeinsame Ideal
nicht teilen. (Ebd., 2001, S. 143-144).Der ganze Widerspruch
wird offenbar, wenn die liberale Demokratie den sowjetischen Totalitarismus verurteilt
und sich gleichzeitig - genauso wie er - zum Erben der französischen Revolution
erklärt. Das bedeutet, daß die liberale Demokratie und der Kommunismus
zwei unterschiedliche Strömungen aus ein und derselben Ideologie der Aufklärung
darstellen: Jene strebt nach einem »Fortschritt«, der bei Einhaltung
der Menschenrechte sich von selbst einstellen würde; dieser erkennt im revolutionären
Handeln das Mittel, die Erfüllung eines ebenfalls nach dem »Fortschritt«
ausgerichteten Geschichtssinns zu beschleunigen. (Ebd., 2001, S. 144).Gerade
diese These hat Jakob L. Talmon in einem epochemachenden Buch (Die Ursprünge
der Totalitären Demokratie, 1952) vertreten. Indem er den Mythos von
einer grundlegend befreienden französischen Revolution sowie den von
einem scharfen Gegensatz zwischen Totalitarismus und liberaler Demokratie zerstört,
zeigt Talmon, daß der Totalitarismus »von den gleichen Voraussetzungen«
ausgegangen ist wie letztere, daß er »die zweite der beiden möglichen
Variationen über das Thema demokratische Ideologie« darstellt und daß
ein wesentlicher Teil seiner Inspiration größtenteils »in dem
ursprünglichen und allgemeinen Gedankengut des achtzehnten Jahrhunderts enthalten«
ist, das heißt in der Philosophie der Aufklärung. Unter den ideologischen
Elementen, die dem Totalitarismus und den liberalen Demokratien gemeinsam sind,
nennt Talmon zunächst die Vorrangstellung der Vernunft, die, auf das öffentliche
Handeln angewandt, darauf schließen läßt, daß die »wissenschaftlich«
betriebene Politik zwangsläufig zu »technischen« Lösungen
als den einzig möglichen führe: »Die rationalistische Idee ersetzte
Überlieferung durch soziale Nützlichkeit als wichtigstes Kriterium für
soziale Einrichtungen und Werte. Sie setzte außerdem einen gesellschaftlichen
Determinismus voraus; zu dem sich die Menschen unwiderstehlich hingezogen fühlten
und den sie eines Tages zwangsläufig akzeptieren würden. Damit wurde
also ein einzig gültiges System postuliert, das zum Leben erstehen
würde, sobald alles, was nicht durch Vernunft und Nützlichkeit gerechtfertigt
war, beseitigt wäre.« (Ebd., 1952, S. 14). (Ebd., 2001, S. 144-145).Eine
weitere gemeinsame Gemeinsamkeit ist der Historizismus,
das heißt, die Vorstellung, daß die Geschichte einen umfassenden Sinn
besitze und man diesen rational überzeugend darstellen könne. Talmon
spricht hier von einem »ununterbrochenen Fortschreiten bis zur Endlösung
des historischen Dramas«. Das ist der eigentliche Hintergrund der Ideologie
des Fortschritts: Die zielgerichtete Geschichte löst die Eschatologie ab;
der unergründliche Plan göttlichen Heils wird zu einem rational ergründlichen
Plan der Geschichte. Die Ideologie des Fortschritts mindert also den Wert der
früheren Menschengeschlechter, in dem Maße, wie sie die Vergangenheit
herabsetzt und die Zukunft immer besser sieht. Alain Finkielkraut bemerkt in diesem
Zusammenhang: Wer an den Fortschritt glaubt, glaubt zwangsläufig an den nur
relativen Wert der gegenwärtigen Menschheit gegenüber den künftigen
Generationen. Daß es nicht illegitim ist, jene diesen zu opfern, läßt
sich leicht daraus folgern. (Ebd., 2001, S. 145).Auch bei
Claude Lefort werden die totalitären und die liberaldemokratischen Systeme
als die beiden Erscheinungsformen analysiert, die die Vollendung der »demokratischen
Revolution« annehmen kann. »Der Totalitarismus«, schreibt Lefort,
»wird in meinen Augen nur dann verständlich, wenn man sein Verhältnis
zur Demokratie erfaßt. Der totalitäre Staat läßt sich nur
im Vergleich zur Demokratie und vor dem Hintergrund ihrer Ambiguitäten auffassen.
Er ist deren Widerlegung Punkt für Punkt, und trotzdem bringt er zu ihrer
Aktualität Vorstellungen, die er virtuell enthält.« (Claude Lefort,
a.a.O., S. 167 und 42). Für Lefort definiert sich die moderne Demokratie
als eine politische Form, in der die Macht auf keinen transzendenten - göttlichen
oder traditionellen - Ursprung verweist, sondern sich als reines Abbild des menschlichen
Willens darstellt. Die Behauptung vom rein menschlichen Wesen der Gesellschaft
schließt nun aber deren Fähigkeit mit ein, sich selbst entsprechend
dem, was sie sein will, zu modellieren. Die Philosophie der Aufklärung hat
ihr nämlich ein Wissen über sich selbst vermittelt, das ihr angeblich
die Mittel gibt, sich nach Belieben zu produzieren, das heißt, eine eigene
Ordnung zu errichten, die ihre Prinzipien nur aus sich selbst herleiten würde.
Der Totalitarismus übernimmt diese Perspektive von einer endlosen Selbstverwandlung
der sich durch und durch selbst erzeugenden Gesellschaft und steigert sie ins
Äußerste. Indem er die etablierte menschliche Macht und die einsetzende
Macht des Sozialen völlig gleichsetzt (im Gegensatz zur »klassischen«
Demokratie, die immer einen Abstand läßt zwischen dem Wirklichen und
dem Symbolischen, zwischen der spontanen gesellschaftlichen Bewegung und ihrer
bewußten Übernahme durch die Macht), treibt der Totalitarismus den
Begriff der Autonomie ins Extrem und bekundet damit einen unbegrenzten Wunsch
nach Verwandlungskraft. (**). (Ebd.,
2001, S. 145-147).»Den Totalitarismus zu begreifen«,
schreibt Claude Polin, »heißt möglicherweise begreifen, daß
die Industriegesellschaften ebenso wie die demokratischen Systeme zwei Erscheinungsformen
aufweisen, eine liberale und eine totalitäre.« Dieser Ambiguität
hat sich der Kommunismus bedient, als er den Antifaschismus instrumentalisierte,
um sich in dasselbe Lager zu stellen wie die bürgerliche Demokratie, deren
»formellen« Charakter er sonst verurteilte. Auf diese Weise sagte
er die Wahrheit und log zugleich. Er sagte die Wahrheit, denn bürgerliche
Demokratie und sowjetischer Kommunismus stammen wohl aus derselben ideologischen
Matrix (Quelle). Er log, denn es genügt nicht, aus derselben Matrix wie die
bürgerliche Demokratie zu stammen, um selber demokratisch zu sein: Ein und
dieselbe Inspiration kann zu völlig unterschiedlichen Regimen führen.
(Ebd., 2001, S. 147-148). Die
Beleuchtung der Verwandtschaft zwischen Totalitarismus und bürgerlichen Demokratien
hat eine wichtige Folge: Sie zeigt auf, daß die demokratisch-liberalen Systeme
von Natur aus keineswegs immun gegen den Totalitarismus sind. Was ihre Vertreter
auch immer behaupten mögen, auch sie laufen Gefahr, in den Totalitarismus
hineinzurutschen - so wie 1789 zur Schrekkensherrschaft von 1793 geführt
hat. Zum einen können die Demokratien jederzeit antidemokratische Mittel
gebrauchen: Im Zweiten Weltkrieg haben die liberalen Demokratien nicht vor vorsätzlichen
Massakern an Zivilbevölkerungen (u.a. Dresden, Hiroshima, Nagasaki) zurückgeschreckt,
um mit dem nationalsozialistischen Deutschland und dem nationalistischen Japan
fertigzuwerden. (**). Zum anderen: Wenn
auch ihre Erscheinungsformen offensichdich ganz andere sind als diejenigen totalitärer
Regime, so unterscheiden sie sich doch, wie wir gesehen haben, in ihrer ursprünglichen
Inspiration nicht grundlegend. Ist die moderne Dimension des Totalitarismus einmal
anerkannt, so ist es nicht abwegig zu denken, daß es auch eine totalitäre
Dimension der Moderne gibt. (Ebd., 2001, S. 149-150).Wenn
man außerdem anerkennt, daß der Totalitarismus vor allen Dingen durch
seine Zielsetzung gekennzeichnet ist, und nicht durch die Methoden, um dorthin
zu gelangen, dann wird verständlich, daß er auch ganz andere Formen
annehmen könnte als die bereits bekannten. Diese Möglichkeit ist um
so denkbarer, als die totalitären Regime - sofern sie auf das Homogene, d.h.
auf die Reduzierung der Welt auf das Gleiche, abzielen - sich in jene typisch
moderne Auffassung von Freiheit vollkommen einfügen, die darin besteht, immer
das Gleiche vorzuziehen (siehe Adornos und Horkheimers »Freiheit zum Immergleichen«).
Man muß sich dann fragen, in welchem Maße mit deser Zielsetzung äußerste
Repressionsmittel (der »Terror«) untrennbar verbunden sind. Sokrates
sagte, daß niemand absichtlich Böses tut. Die totalitären Regime
wurden nicht unbedingt von Männern geführt, die gern Böses taten
oder aus Vergnügen Massenmorde veranstalteten, sondern von Männern,
die der Ansicht waren, daß dies das einfachste Mittel war, zu ihren Zielen
zu gelangen. Hätten ihnen andere, weniger extreme Mittel zur Verfügung
gestanden, ist es nicht ausgeschlossen, daß sie lieber zu ihnen gegriffen
hätten. Von seinem Wesen her belingt der Totalitarismus nicht automatisch,
eher zu dem einen Mittel als zu einem anderen zu greifen. Nichts schließt
aus, daß nan mit schmerzlosen Mitteln zu den gleichen Zielen gelangen kann.
Der Zusammenbruch der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts bannt nicht
das Gespenst des Totalitarismus. Er regt vielmehr zum Nachdenken über die
neuen Formen an, die er in der Zukunft annehmen könnte. (Ebd., 2001,
S. 150-151).Die nachfolgende Textstelle aus Tocquevilles Buch
Über die Demokratie in Amerika ist bekannt: »Ich denke, daß
die Form der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, nichts
von dem ähnelt, was wir in früheren Zeiten gekannt haben; unsere Zeitgenossen
können sich an kein vergleichbares Bild erinnern. Ich selbst suche vergeblich
nach dem Ausdruck, der meine Vorstellung von ihr genau wiedergeben und enthalten
würde. Die früheren Begriffe des Despotismus und der Tyrannei passen
nicht dazu.« In diesem Text dachte Tocqueville nicht an ein auf Gewalt gegründetes
Unterdrückungssystem, sondern eher an eine neue Form der Unterdrückung,
in der der Mensch sanft oder sogar mit seinem eigenen Einverständnis seines
Menschseins beraubt würde. Das Thema ist nicht neu, und es ist kein Zufall,
wenn der Diskurs über den freiwilligen Zwang von Etienne de la Boetie
die Aufmerksamkeit eines Claude Lefort oder eines Marcel Gauchet auf sich gezogen
har. George Orwells Genie im Roman 1984 bestand darin, eine Gesellschaft
zu entwerfen, in der es Big Brother gelingt, nicht nur Gehorsam, sondern auch
von denen Liebe abzuverlangen, die er in den Sklavenzustand versetzt hat.
(Ebd., 2001, S. 151-152).Zahlreiche Autoren haben festgestellt,
daß die Abschaffung der Vielfalt der Menschen und Ideen, der Meinungen und
Empfindungen sowie ihre Ausrottung zugunsten eines homogenen Einheitsmodells ebensogut
durch Überredung und Konditionierung erzielt werden können wie durch
brutale Gewalt. (**). Immer wieder auf
Tocquevilles Warnungen verweisend, waren sie bestrebt, in bestimmten Charakterzügen
der gegenwärtigen Gesellschaften Keime eines neuen Totalitarismus aufzuspüren:
ein im Grunde prometheisches Wesen wissenschaftlicher Betätigung, Automatisierung
der Technik (»alles, was technisch machbar ist, wird es auch praktisch sein«),
Beschleunigung der industriellen Konzentration und Bildung von Monopolen, Vereinheitlichung
des Lebenswandels und zunehmend konformistische Ausrichtung des Denkens, soziale
Anomie, die sich aus der widersinnigen Verbindung von Individualismus und Massenanonymität
ergibt, Ausbreitung der »kulturellen Willkür«, die die Sozialisierung
der Menschen über die Medien mit sich bringt. (Ebd., 2001, S. 152-153).Die
liberalen Demokratien verfechten zwar die Menschenrechte, doch diese Haltung ist
selber widersprüchlich, denn im Namen der Menschenrechte zu kämpfen
heißt auch, sich mit der Menschheit zu identifizieren auf die Gefahr hin,
all diejenigen auszuschließen, die die Richtigkeit dieses Bezugs oder dieses
Kampfes bestreiten würden. Auf der Basis der Menschenrechte vertreten die
liberalen Gesellschaften in vieler Hinsicht eigentlich nur einen Scheinpluralismus.
Sie glauben nicht ernsthaft an einen »Polytheismus der Werte« als
grundlegenden Bestandteil jedes echten demokratischen Lebens, denn sie meinen,
daß die Vernunft - »eins und ganz in jedem« - eindeutige Antworten
auf die politischen und moralischen Fragen geben könne. Sie berufen sich
auf die Ideologie der Rechte, meinen aber, daß diese begründet werden
könnten, ohne zu berücksichtigen, daß die Interessen, die Zielsetzungen,
die Bestrebungen und die menschlichen Auffassungen vom »guten Leben«
nicht nur verschieden, sondern auch unermeßlich viele sind. Sie glauben,
es sei möglich, auf rationalem Weg zu einem Konsens über die recht-
oder verfassungsmäßigen Normen zu gelangen, weshalb sie alles, was
von diesem Konsens abweicht, auszuschließen gezwungen sind. Ebensowenig
wie die gestrigen Totalitarismen sind sie also bereit zu akzeptieren, daß
ihre Normen nicht zwangsläufig maßgebend sind. Auch sie neigen dazu,
sich als weltweit einzig mögliches System zu behaupten - im Namen einer Ideologie,
die, mag sie auch »humanistisch« sein, jedem Mißbrauch Tür
und Tor öffnet, wenn sie als Selbstverständlichkeit hingestellt wird,
die angeblich jedem einleuchten soll. (Ebd., 2001, S. 153-154).Mit
anderen Methoden behaupten heute der Markt, die Technik und die Kommunikation,
was die Staaten, die Ideologien und die Armeen gestern behaupteten: die Legitimität
der vollständigen Weltherrschaft. Auch die Wahnvorstellung von einer völligen
Transparenz und Beherrschung, die in den totalitären Systemen am Werk ist,
gibt es immer noch. Die liberale Gesellschaft drängt weiterhin den Menschen
in den Zustand des Objekts, indem sie die sozialen Beziehungen verdinglicht, die
Bürger-Verbraucher in Warensklaven verwandelt und jeden Wert auf die Kriterien
des kommerziellen Nutzens bezieht. Heute hat das Ökonomische den Anspruch
des Politischen übernommen, die letzte Wahrheit in menschlichen Angelegenheiten
zu besitzen. Es kommt zu einer allmählichen »Privatisierung«
des öffentlichen Raumes, die zum gleichen Ergebnis führen könnte
wie die allmähliche »Nationalisierung« des privaten Raums durch
die totalitären Systeme. Nach Louis Dumont hat auch Pierre Rosanvallon sehr
gut gezeigt, welche Stellung paradoxerweise gerade das Marxsche Denken in der
Geschichte des Individualismus innehat. »In dieser Hinsicht«, schreibt
er, »fügt sich die Utopie einer kommunistischen Wohlstandsgesellschaft,
die die vollständige Entfaltung des Menschen zu sichern strebt, reibungslos
in die liberale Vision ein.« (Pierre Rosanvallon, a.a.O., 1998). Dann ist
es nicht absurd, den Willen zum wissenschaftlichen oder rationalen Regieren, den
die totalitären Staaten an den Tag legen, mit anderen Formen von Regierungsrationalität
zu vergleichen, »vor allem im industriellen Bereich, etwa der Idee der systematischen,
wissenschaftlichen Arbeitsorganisation oder der planmäßigen Lenkung,
die in Ländern mit liberaler Regierung weitgehend entwickelt wurde«.
Jean-Marie Vincent schreibt in diesem Zusammenhang: »Wenn das durch disziplinierende
Vorrichtungen und Anpassungsformen konditionierte Leben hauptsächlich als
ein Rohmaterial zur Erzeugung von Arbeitskraft erscheint, dann ist es nur so viel
wert, wie es dem Kapital einbringen kann. Es gibt zwar einen qualitativen Sprung
vom Ausrangieren wertlos gewordener Arbeitskräfte zur systematischen Vernichtung
von Millionen Menschen, doch in beiden Fällen dient das menschliche Leben
als Nahrung für gesellschaftliche Maschinerien.« (Jean-Marie Vincent,
a.a.O., S. 70). (Ebd., 2001, S. 154-155).Es ist auch festzustellen,
daß in den liberalen Gesellschaften die Normierung nicht verschwunden ist,
sondern andere Formen angenommen hat. Die Zensur durch den Markt hat die politische
Zensur abgelöst. Die Dissidenten werden nicht mehr deportiert oder erschossen,
sondern ins Abseits geschoben oder zum Schweigen gebracht. Die Werbung hat die
Propaganda abgelöst, und der Konformismus nimmt die Form des Einheitsdenkens
an. Die »Angleichung der Lebensbedingungen«, von der Tocqueville befürchtete,
sie könnte einen neuen Despotismus herautbeschwören, erzeugt automatisch
die Standardisierung der Geschmäcker, der Gefühle und der Sitten. Die
Konsumgewohnheiten gestalten die sozialen Verhaltensweisen immer gleichförmiger.
Die eigenständigen Lebensweisen verschwinden allmählich. Und die Rückbesinnung
der politischen Parteien auf gemeinsame Ziele führt in der Praxis zur Neubildung
eines Einheitspartei-Regimes, dessen weiterhin bestehende politische Gruppen kaum
mehr als Gesinnungstendenzen sind, die nicht über die Finalitäten unterschiedliche
Standpunkte beziehen, sondern nur über die einzusetzenden Mittel, um dieselben
Werte zu verbreiten und zu denselben Zielen zu gelangen. Die Zielsetzung ist dieselbe
geblieben: Es geht immer noch darum, die Vielfalt auf das Gleiche zu reduzieren.
(Ebd., 2001, S. 155-156).»Die totalitäre Welt der technologischen
Rationalität ist die letzte Verkörperung des Vernunftsbegriffs«,
schrieb bereits Herbert Marcuse (Der eindiemnesionale Mensch, 1964). In
seinem letzten Buch (Historische
Existenz, 1998) zögert Ernst Nolte
nicht, einen »totalitären Liberalismus« zu umreißen. Der
Diskurs, dem zufolge der Liberalismus das absolute Gegenteil des Totalitarismus
sei, kann also in Zweifel gezogen werden. (Ebd., 2001, S. 156).Mit
dem Ende des Kommunismus hat der Liberalismus das Gegenstück verloren, das
ihn am besten zur Geltung brachte. Heute versucht er, aus der Erinnerung an die
totalitären Regime Kapital zu schlagen, indem er sich als das einzige ehrbare,
ja sogar als das einzig mögliche System darstellt, um weiterhin einen ihn
ins rechte Licht setzenden Kontrast zu haben, wenn man ihm seine eigenen Makel
entgegenhält. Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems mag unbestreitbar
einen Sieg des Kapitalismus dargestellt haben, es ist allerdings noch zu beweisen,
daß er auch einen Sieg der Demokratie bedeutete. In der Vergangenheit hatte
man sich des Antifaschismus bedient, um den Kommunismus zu legitimieren, und des
Antikommunismus zur Legitimierung des Nationalsozialismus. Heute wird die Kritik
am Totalitarismus oder seine Heraufbeschwörung instrumentalisiert, um den
Liberalismus oder die schädigenden Auswirkungen des Markts akzeptabel zu
machen. Diese Vorgehensweise - Grund für die Verzweiflung zahlreicher Menschen
und Völker, die keine andere Alternative mehr wahrnehmen als diejenige zwischen
Liberalismus und Horror - ist ebensowenig annehmbar. Ebenso wenig, wie die positiven
Errungenschaften eines totalitären Regimes seine Verbrechen bzw. die Verbrechen
eines totalitären Regimes die eines anderen rechtfertigen können, darf
die bloße Erinnerung an die totalitären Systeme nicht zur Akzeptanz
der heutigen Gesellschaft mit ihren zerstörerischen und entmenschlichenden
Erscheinungsformen führen. Man darf nicht ein ungerechtes Schicksal hinnehmen
unter dem Vorwand, daß man ein schlimmeres erleiden könnte. Die politischen
Systeme müssen nach dem beurteilt werden, was sie sind, und nicht im Vergleich
zu anderen, deren Fehler ihre eigenen abschwächen oder verharmlosen würden.
Jeder Vergleich verliert seine Gültigkeit, wenn er zu einer Entschuldigung
wird: Jede soziale Pathologie muß für sich untersucht werden.
(Ebd., 2001, S. 156-157). Selbst
die verbrecherischsten Regime konnten in bestimmten Bereichen Nützliches
tun oder positive Errungenschaften verzeichnen. Der Fehler ist zu glauben, daß
sie deswegen weniger kriminell waren oder daß ihre Verbrechen dadurch entschuldbarer
sind. Umgekehrt: Berücksichtigt man diese positiven Errungenschaften nicht,
dann werden die Nostalgien, deren gegenstand sie manchmal sind, unerklärlich.
Diese Nostalgien beweisen außerdem, daß die Freiheit nicht immer das
Gut ist, das die Menschen jedem anderen vorziehen. (Vgl.
auch die nur »bedingte Freiheit des Willens« **).
Selbst in den schlimmsten Zeiten des Stalinismus stellte der Kommunismus für
eine nicht unbedeutende Zahl von Sowjetrussen eine Möglichkeit sozialen Aufstiegs
dar. Erst unter Breschnew verlangsamte sich diese Aufstiegsmobilität . .... »Das unglaubliche Ausmaß der Verbrechen verwischt nicht die Verdienste«,
schrieb vor nicht langer Zeit Thierry de Montbrial (a.a.o., 1997, S. 2). Wie ist
es zu verstehen, daß im Dezember 1986 noch 40 Prozent der Russen der Kommunistischen
Partei ihre Stimme gaben? »Die Trennungslinie zwischen Gut und
Böse geht durch das Herz jedes Menschen«, schreibt Solschenizyn. Zu
glauben, daß sich das Gute ganz auf der einen und das Böse auf der
anderen Seite befindet, heißt, den Totalitarismus nachzuahemen. (Ebd.,
2001, S. 159-160). Die
Frage des Verhältnisses von Ideologie und Praxis muß noch untersucht
werden. Manche sind der Auffassung, daß die verbrechen des Nationalsozialismus
das eigentlich kriminogene (verbrechenauslösende) Wesen seiner Ideologie
unter Beweis stellten, während die viel zerstörerischeren Verbrechen
des Kommunismus nichts bewiesen. So schreibt Nicolas Werth, daß »der
Nationalsozialismus die völlige Entsprechung von Doktrin und Realitätt«
sei, während »der Kommunismus das Auseinanderfallen von Doktrin und
Realität« darstelle. Diese Behauptung ist natürlich nur eine Petitio
principii. »Wenn die ... Opfer des Nationalsozialismus sein Wesen zum
Ausdruck bringen«, bemerkt Jacques Julliard (a.a.O., S. 132), »warum
sollten die ... (sehr viel größeren) Opfer
des Kommunismus als bloßer ärgerlicher Ausrutscher des letzteren angesehen
werden?« Entweder läßt sich das zerstörerische Wesen
eines Systems ganz aus seinen Taten herleiten, und in diesem Fall ist der Kommunismus
nicht anders zu beurteilen als der Nationalsozialismus; oder es läßt
sich vor allem aus seiner Doktrin herleiten, doch in diesem Fall gibt es keinen
Anlaß, daraus bezüglich des ersten weniger zu folgern als bezüglich
des zweiten. (Ebd., 2001, S. 161).Andere behaupten, daß
ein anderer Kommunismus möglich gewesen wäre, der mit dem tatsächlich
erlebten nichts zu tun gehabt hätte. Dann könnte man ebensogut behaupten,
daß ein anderer Nationalsozialismusmöglich gewesen wäre, der sich
stark von dem unterschieden hätte, was im Dritten Reich bewerkstelligt wurde.
Es ist zwar immer möglich, ein System als Abweichung von oder gar als Verrat
an der ursprünglichen Inspiration zu deuten. Doch ein solcher Weg beweist
keineswegs, daß eine andere Umsetzung in die Praxis besser gewesen wäre,
eben weil die Beweisführung nicht erfolgen kann. Die Frage, inwiefern ein
System eine Idee genau verwirklicht oder sie im Gegenteil verrät, bleibt
weitgehend ungelöst, da die Elemente des Vergleichs definitionsgemäß
fehlen. Historisch gesehen war der Nationalsozialismus nichts anderes als das,
was er war, und der Kommunismus auch nichts anderes als das, was unter seinem
Namen in den Ländern des »real existierenden Sozialismus« verwirklicht
wurde. (Ebd., 2001, S. 162).Besser wäre es, zunächst
zu fragen, inwieweit es überhaupt möglich ist, daß eine
Doktrin genau in die Tat umgesetzt wird. Eine solche Frage zu stellen heißt
letzten Endes, den Abstand zwischen Theorie und Praxis auf ziemlich banale Weise
zu betonen. Diese Kluft ist offensichtlich, und ihre Ursachen zahlreich. Eine
von ihnen ist, daß die Menschen nie ganz genau das tun, was sie wollen,
denn sie können die Folgen ihrer Handlungen nie genau voraussehen: Zwischen
ihre Absichten und die Ergebnisse ihrer Handlungen schieben sich unvermeidlich
unerwünschte Nebenwirkungen, die als »heterotelisch« bezeichnet
werden. Außerdem erfolgt die Machtausübung immer auf systemische Weise:
Die Ideologie, die man in die Tat umzusetzen versucht, ist nicht von der Tat zu
trennen, die man ideologisiert und um die herum man durch Rückkopplung diese
Ideologie aufbaut oder umbaut. Zuletzt versteht es sich von selbst, daß
im Abstrakten jede Idee eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnet, weil
sie immer unterschiedlich interpretiert werden kann. Daß die französische
Revolution im Stammbaum sowohl der liberalen Demokratien als auch der modernen
Totalitarismen aufgeführt werden kann, ist in dieser Hinsicht bereits bezeichnend.
(Ebd., 2001, S. 162-163).Wenn nun aber die Praxis nie die vollständige
Entsprechung der Theorie sein kann, dann wird der Begriff der umgesetzten Ideologie
zwangsläufig zweifelhaft. Die Aussagen, die von einer Idee zu wissen glauben,
»wohin sie führt«, oder die versichern, daß es »Ideen«
gebe, die »töten«, sind in dieser Hinsicht rein polemisch. In
Wirklichkeit weiß man es eben nicht, denn es sind nie Ideen, die töten,
sondern Menschen. Daß sich ein Verbrecher auf eine Idee beruft, um sein
Verbrechen zu rechtfertigen, genügt nicht, um zu beweisen, daß diese
Idee dieses Verbrechen in sich barg. »Es gibt keine im menschlichen Geist
geborene Idee, die kein Blut hat fließen lassen«, schrieb Charles
Maurras. (Ebd., 2001, S. 163).Es gibt nämlich keine,
die von Natur aus gegen den Mißbrauch immun ist. Doch der Mißbrauch,
den man von einer Idee macht, diskreditiert nicht diese Idee, sondern nur diesen
Gebrauch. Die einzige Verbindung, die zwischen einer Idee und einer Tat besteht,
ist nicht diese Idee, sondern diese Tat. Das bedeutet natürlich nicht, daß
die Erzeuger von Ideen keine Verantwottung tragen. Das bedeutet nur, daß
eine Idee keine Handlung ist - genauso, wie eine Einstellung kein Verhalten ist
- und daß eine aufgrund einer Idee gerechtfertigte Handlung noch etwas anderes
ist als eine Handlung, die mit Bezug auf diese Idee sich selbst zu rechtfertigen
sucht. (Ebd., 2001, S. 163).Die Behauptung, daß eine
politische Praxis eine »völlige Entsprechung« von Theorie und
Praxis offenbare oder daß sie im Gegenteil eine »Kluft« zwischen
Theorie und Praxis zeige, gründet unter diesen Voraussetzungen aller Wahrscheinlichkeit
nach auf einer rückblickenden Interpretation oder auf einer Unterstellung.
.... Was die Verbindung zwischen Marxismus und Kommunismus betrifft, zwingt die
Aufrichtigkeit zu sagen, daß diese Verbindung ebensowenig offensichtlich
ist. Marx mag im Kommunistischen Manifest von 1848 »den mehr oder weniger
verborgenen Bürgerkrieg« noch so sehr preisen, der die Gesellschaft
»bearbeitet«, bis dieser Krieg als offene Revolution ausbricht und
das Proletariat die Fundamente seiner Herrschaft durch den gewaltsamen Sturz der
Bourgeoisie errichtet - das sagt aber noch nichts aus über die konkrete Haltung,
die er hundert Jahre später angesichts des Gulags eingenommen hätte.
(**) In diesem Bereich ist also Vorsicht
geboten. Zu behaupten, daß diejenigen, die den Terror in der Sowjetunion
ins Werk setzten, sich auf Karl Marx beriefen, ist eine Sache; zu behaupten, daß
die Ideen von Marx nur zu dieser Schreckensherrschaft führen konnten (oder
daß Marx sie ausdrücklich gewollt oder gebilligt hätte), ist eine
andere. Keine Doktrin kann ausschließlich an den Taten derjenigen gemessen
werden, die sich auf sie berufen haben. Umgekehrt: Kein im Namen einer Idee begangenes
Verbrechen wird jemals genügen können, um diese Idee völlig zu
dikreditieren. Um eine historische Erfahrung zu beurteilen, muß man deshalb
von den Fakten selbst ausgehen, nicht von einer Moral der Absichten. (Ebd.,
2001, S. 163-165). »Der
Antifaschismus war noch nie so verbreitet und so mächtig wie seit der Niederlage
des Faschismus im Jahre 1945«, stellte François Furet fest. (Vgl.
a.a.O., S. 172). .... Zum einen hat er an Umfang gewonnen, auf die Gefahr hin,
infolge seiner eigenen Verdünnung jegliche Bedeutung zu verlieren. Da sich
niemand mehr zum Faschismus bekennt, er jedoch bei jedem vermutet wird (und um
so leichter vermutet, als sich niemand zu ihm bekennt), gründet sich der
Antifaschismus nicht mehr auf eine objektive Feststellung, sondern nur auf eine
bloße Uunterstellung. Er verweist auf keine reale historische Erscheinung,
sondern reduziert sich auf ein Schimpfwort, d.h. auf eine im Unklaren arbeitende
Disqualifizierungsaktion durch Appell an die allgemein herrschende Vorstellungswelt,
als lähmender und abstoßender Mythos: Man versucht, aus seiner abstoßenden
Wirkung Kapital zu schlagen, und kämpft gegen ein Gespenst, das man für
allgegenwärtig erklärt. Zum anderen kennzeichnet der Antifaschismus
nicht mehr ein bestimmtes Segment der öffentlichen Meinung, sondern er ist
Bestandteil eines nahezu allgemeinen Konsens, sofern er einen Gegner bekämpft,
mit dem sich niemand mehr identifizieren will. Schließlich, und gerade aus
dem eben genannten Grund, hat er einen anderen Nutznießer. Er dient nicht
mehr dazu, den Sowjetismus zu legitimieren, sondern vielmehr eine etablierte Gesellschaft
sowie eine bürgerliche Ideologie, die der gestrige Antifaschismus zerstören
oder ablösen wollte. In dieser Eigenschaft gehört er zur politischen
Korrektheit und stellt eine um so einträglichere Investition dar, als sie
völlig risikolos ist. Zur Zeit der realen Faschismen konnte der Antifaschismus
ins Konzentrationslager oder vor das Exekutionskommando führen. Der neue
Antifaschismus ist nur ein Mittel unter anderen, jedoch keines der unbedeutendsten,
sich Zutritt zu den Medien und Fernsehanstalten zu verschaffen. (Ebd., 2001,
S. 167-168).Von Thierry Wolton als »der größte
gemeinsame Versammler einer sich nach dem Marxismus-Leninismus zurücksehnenden
Unken« defmiert (vgl. a.a.O., 1998), ist der heutige Antifaschimus in Wirklichkeit
vor allem ein Produkt der intellektuellen Trägheit. Denn es ist immer leichter,
die Übel und Mißstände der Vergangenheit festzustellen, als die
der Gegenwart zu erkennen. In einer Welt, die gelernt hat, sich vor der Idee des
absoluten Guten in acht zu nehmen, die aber weiterhin die eines absoluten Bösen
mehr denn je braucht, stellt er außerdem eine »praktische« Art
dar, eine Minimal-Moral zu lehren. Nolte
stellt fest, daß der heutige Widerstand gegen den Nationalsozialismus -
ein verspäteter und gefahrloser Widerstand - eine Religionsersatz darstellt
(vgl. a.a.O., 1998 **).
Zu guter letzt besitzt der Antifaschismus einen eindeutig nützlichen Aspekt.
»Die Nachwelt«, schrieb François Furet (a.a.O., S. 176), »wird
sich bestimmt darüber wundern, daß die Demokratien so viele Faschismen
und faschistische Gefahren erfanden, nachdem die Faschismen besiegt worden waren.
Das liegt daran, daß die Demokratie, wenn sie am Antifaschismus festhält,
einen immer wieder auferstehenden Feind besiegen muß.« Aus einem imaginären
Faschismus eine allgegenwärtige Gefahr zu schaffen ermöglicht es, sämtliche
Funktionsstörungen und Pathologien der gegenwärtigen Welt als geringere
Übel angesichts des »absoluten Übels« akzeptieren zu lassen.
»Der Neo-Antifaschismus«, schreibt Taguieff, »ist daran zu erkennen,
daß er grenzenlos den Bereich dessen ausweitet, was er als »faschistisch«
stigmatisiert. .... Der Faschismus ist eine Dämonologie. .... Der Antifaschismus
ähnelt in seinen Methoden ebenso wie in den negativen Leidenschaften, von
denen er getragen wird, mehr und mehr dem Faschismus, den er zu bekämpfen
vorgibt. Diese ideologische Korruption veranschaulicht das tragische Paradoxon
des Antifaschismus.« (Ebd., in: Panoramiques, 4/1998, S. 65-78).
In derselben Nummer vertritt Alain Finkielkraut fast den gleichen Standpunkt:
»Durchdrungen von der Idee, ihre Zusammenkunft mit der Geschichte nicht
zu verpassen, sind die heutigen Antifaschisten dabei, ihre Zusammenkunft mit der
Politik zu verpassen. Und als letzte Form des Lynchens: Einige von ihnen unterliegen
der Versuchung des binären Denkens. »Die Linke«, sagte Orwell
mit großer Tiefe, »ist antifaschistisch, und nicht antitotalitär.«
Man hat in den letzten Jahren des Kommunismus geglaubt, dieser Fehler sei berichtigt
worden. Das war aber eine Illusion, zumindest, was die intellektuelle Linke betrifft.
Das Ende dessen, was die liberalen Gesellschaften erst zur Geltung brachte, nämlich
der Sozialismus und das Erstarken der äußersten Rechten, verhilft der
Schablone des Liberalismus als der einzigen Alternative zu neuern Leben. Die öffentliche
- inländische und weltliche - Bühne ist auf die Konfrontation zweier
Kräfte beschränkt: der Stamm Abel und der Stamm Kain, das Volk im Kampf
und der Rest der Gesellschaft auf dem Weg der Faschisierung. Der Pluralismus sei
ein Schein und die Politik ein unerbittlicher Kampf, der mit der Ausrottung des
Bösen enden müsse. .... Kurzum: Der Orwellsche Satz ist zu ergänzen:
Wenn die Linke aufhört, antitotalitär zu sein, um nur noch antifaschistisch
zu sein, wird sie wieder totalitär.« (Ebd., S. 85 f.). (Ebd.,
2001, S. 168-169).Faschismus und Antifaschismus, Kommunismus und
Antikommunismus unterliegen heute der gleichen Nostalgie und dem gleichen Unvermögen,
die Gegenwart zu analysieren. Die Antriebe, die in den Totalitarismen des 20.
Jahrhunderts am Werk waren, sind natürlich immer noch da. Sie sind aber nur
deswegen noch da, weil sie schon früher da waren, das heißt, weil sie
letzten Endes zur menschlichen Natur gehören. Den Kommunismus und den Nationalsozialismus
in ihre Zeit einzuordnen heißt begreifen, daß der eine wie der andere
»Antworten« auf eine bestimmte Lage dargestellt haben, auf eine politische
und soziale Problematik, die sich von der heutigen völlig unterscheidet.
Die modernen Totalitarismen sind Produkte einer Moderne .... Die 1917 eingeläutete
Ära (des »europäischen Bürger- bzw.
Weltbürgerkriegs«) kam 1989 zu ihrem Abschluß. .... Der
Starrsinn, die Zukunft bloß als eine Wiederholung der Vergangenheit aufzufassen,
die Verbissenheit, rückwärts ins 21. Jahrhundert zu treten, macht es
unmöglich, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie ein künftiger Totalitarismus
aussehen könnte. »Ich sehe«, meint Ernst Nolte
weiter, »eine konkrete Gefahr auftauchen: daß der weltbeherrschende,
völlig entfesselte »Kapitalismus« die von ihm hervorgerufene
Leere von einem »Antifaschismus« auffüllen läßt, der
die Geschichte ebenso vereinfacht und verstümmelt, wie das Wirtschaftssystem
die Welt vereinheitlicht« (**).
Es gibt keinen schlimmeren Fehler für einen Beobachter, als den historischen
Moment falsch einzuschätzen, in dem er sich befindet. (Ebd., 2001,
S. 170-171).
Kritik der Menschenrechte. Warum Universalismus und Globalisierung
die Freiheit bedrohen (2004)
In
Verbindung mit der Expansion der Märkte dient die Rhetorik der Menschenrechte
als ideologische Verkleidung der Globalisierung. Vor allem anderen ist sie ein
Instrument der Herrschaft und muß als solches begriffen werden. (Ebd.,
2004, S. 10).Wenn der Begriff der Menschenrechte ein rein westlicher
ist, kann kein Zweifel bestehen, daß seine globale Verallgemeinerung eine
Einmischung von außen darstellt, eine andere Art der Bekehrung und Beherrschung,
eine Fortsetzung also des kolonialen Syndroms. (Ebd., 2004, S. 73).Zitate:
Hubert Brune, 2001 (zuletzt aktualisiert: 2010). 
Anmerkungen: Der
Begriff »Liberalkapitalismus«
hat mit Toleranz und Freiheit nichts zu tun (vgl. hierzu
das Liberale
System mit Liberalismus
und Liberismus
bei Ernst Nolte).
Der »Liberalismus« bezieht sich vielmehr auf das Hin und Her, auf
den freien Austausch der produzierten Güter zur ausschließlichen Steigerung
des Marktwerts weil der Liberalismus sich bekanntlich auf die Überzeugung
stützt, daß das Glück des Menschen vom Umfang seiner materiellen
Güter begrenzt sei. (Ebd. **).Vgl.
u. a. folgende Werke von Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft, 1955; Über die Revolution, 1965; Macht und Gewalt,
1971; Vom Leben des Geistes, postum [1979]; über sie: Margaret Canovan,
The Political Thought of Hannah Arendt, 1974, und Albert Reif (Hrsg.),
Hannah Arendt - Materialien zu ihrem Werk, 1979. (Ebd.). In
der Ansprache, die er am 22. März 1979 im internationalen Institut für
Menschenrechte hielt, stellte Papst Johannes Paul II. Pius XII. als den modernen
Bahnbrecher der Ideologie der Menschenrechte hin. Am 6. Oktober 1979 beschrieb
er vor der Organisation der us-amerikanischen Staaten die UNO als »die oberste
Tribüne des Friedens und der Gerechtigkeit«. Er beteuerte ebenfalls:
»Wenn gewisse Ideologien bzw. Auslegungen des legitimen Strebens nach nationaler
Sicherheit dazu führten, den Menschen samt seiner Rechte und Würde ins
staatliche Joch zu spannen, so würden sie gleichermaßen aufhören,
menschlich zu sein.« (Sic!). Anläßlich seiner Frankreich-Reise
erklärte Papst Johannes Paul II. vor der UNESCO: »Die Beachtung der
unveräußerlichen Rechte der menschlichen Person ist grundlegend ....
Man muß den Menschen nur um des Menschen willen behaupten, und nicht aus
irgendeinem anderen Grund heraus.« Diese Gedanken werden ebenfalls in der
Enzyklika Redemptor hominis (März 1979), besonders im 2. Teil, entwickelt.
(Ebd.). Wladimir Bukowski, Abrechnung mit
Moskau: das sowjetische Unrechtsregime und die Schuld des Westens, 1996.Stéphane
Courtois (Herausgeber), Das Schwarzbuch des Kommunismis, 1997.Martin
Malia, »The Lesser Evil?«, in: Times Literary Supplement,
27. März 1998, S. 3.Pierre Chaunu, »Les
jumeaux malins du deuxieme millenaire«, in: Commentaire,
Frühjahr 1998, S. 219. Jacques Julliard hatte bereits geschrieben: »Seit
Anbeginn der Welt hatte kein Regime, keine Dynastie, kein Monarch solch eine Leistung
zustande gebracht. Nicht einmal der Nationalsozialismus, dem am Schluß die
Zeit ausgegangen ist.« (»Les pleureuses du communisme«,
in: Le Nouvel Observateur; 19. September 1991, S. S. 58).Tony
Judt, in: International Herald Tribune, 23. Dezember 1997.Philippe
Petit, in: Marianne, 10. November 1997.Waldemar
Gurian, Der Bolschewismus als Weltgefahr, 1935. Waldemar Gurian (1902-1954)
war ehemaliger Schüler von Max Scheler und hatte bei ihm 1923 promoviert.
Als zum Christentum übergetretener Jude wanderte er nach 1933 in die USA
aus. Er war Wegbereiter der Erforschung des Totalitarismus; man verdankt ihm ebenfalls
die erste Betrachtung der Konservativen Revolution als geistiger Bewegung, die
unter dem Pseudonym Walter Gerhart erschien (Um des Reiches Zukunft. Nationale
Wiedergeburt oder politische Reaktion?, 1932). Siehe Heinz Hürten,
WaldemarGurian, 1972.Margarete Buber-Neumann,
Als Gefangene bei Hitler und Stalin, 1958.Allan
Bullock, Hitler und Stalin: parallele Leben, 1991.François
Furet, Das Ende der Illusion, 1995.François
Furet im Brief vom 23. Mai 1993 an Jean Daniel, veröffentlicht in: Commenfaire,
Frühjahr 1998, S. 246. Siehe auch François Furet, »Nazisme
et communisme: la comparaison interdite«, in: L 'Histoire, März
1995, S. 18 ff. 16.Pierre Chaunu, »Les
jumeaux malins du deuxieme millenaire«, in: Commentaire,
Frühjahr 1998, S. 17.Der Text erschien in:
Commenfaire, Winter 1997/'98, S. 790. Auszüge erschienen ebenfalls in: Le
Monde, 22. Oktober 1997, S. 17.»Die
Wahrheit ist, daß es sich um vollkommen gleiche Phänomene handelt«,
schreibt z.B. Renzo De Felice. »Der Totalitarismus kennzeichnet und beschreibt
den Nationalsozialismus ebenso wie den Kommunismus ohne wirklichen Unterschied.«
(Aufzeichnungen vom Kolloquium »Le stalinisme dans la gauche italienne«,
März 1988).Jean-Jacques Becker, »Les
fièvres anticommunistes«, in: L 'Histoire, l. November 1997,
S. 7.Roger Martelli, »Une difference de
nature«, in: Avant-garde, Dezember 1997, S. 28.Guy
Konopnicki, »Un naufrage dans l'archipel du Goulag«, in: L
'Evenementdujeudi, 6. November 1997, S. 22. Raymond Aron hatte selber von diesem
Argument Gebrauch gemacht, als er im Zusammenhang mit dem Kommunismus von »einer
Verbindung zwischen einem hehren Ziel und einer unerbittlichen Technik«
geschrieben hatte (siehe: Demokratie und Totalitarismus, 1970). Diese Unterscheidung
hatte Alain Besançon kritisiert (Present sovietique et passe russe,
1980, S. 147 f.). Aron nahm später von ihr Abstand und gestand kurz vor seinem
Tod, daß die auf »eine Unterscheidung zwischen Klassen- und Rassenmessianismus«
hinzielende These ihn nicht mehr beeindrucke (Memoires, 1983, S. 737).Robert
Hue, »Nazisme, communisme: la comparaison est odieuse et inacceptable«,
in: L Evenement du jeudi, 13. November 1997, S. 59. Simone Korff-Sausse hat zu
Recht bemerkt, daß die Art und Weise, wie Robert Hue den Gulag als »Ungeheuerlichkeit«
verurteilt, eben bezweckt, den Stalinismus als pathologischen Auswuchs ohne Zusammenhang
mit dem »wirklichen« Kommunismus darzustellen. Das »Ungeheuer«
(der Gulag) ist es, was sich naturgemäß von der Normalität (dem
Kommunismus) unterscheide. »Hier ist ein gutes Beispiek«, schreibt
sie, »für ein Manöver stalinistischen Typs im Dienst einer angeblichen
Kritik am Stalinismus. Der Begriff " »Ungeheuer« taucht auf,
um die Diskussion unmöglich zu machen« (»Monstruoslte et manreuvre
staliruenne«, in: Liberatron, 9. Dezember 1997, S. 5).L'Histoire,
Januar 1998, S. 3.Claude Lefort, in: Le Monde,
15. Februar 1975.Jean-Jacques Becker, Interview
in: La Vie, 27. November 1997, S. 11.Madeleine
Reberioux, in: Le Journal du dimanche, 2. November 1997.Stéphane
Courtois, »Comprendre la tragedie communiste«, in: Le Monde,
20. Dezember 1997.Alain Besançon, Le
malheur du siecle, 1998. Ernst Nolte,
Brief an François Furet, in: Commentaire, Winter 1997/'98, S. 806. Der
Briefwechsel Furet-Nolte wurde ebenfalls in Buchform veröffentlicht, zunächst
in Deutschland, dann in Frankreich (Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus
im 20 Jahrhundert, 1998 **).
François Furet, »Sur l'illusion
communiste«, in: Le Débat, März-Apri1 1996, S. 164.Chantal
Delsol, »Criminels par erreur«, in: Valeurs actuelles, 22.
November 1997, S. 31.Jacques Julliard, »Ne
dites plus jamais«, in: Le Nouvel Observateur, 20. November
1997, S. 49.Aufgrund der Rechenschaftsberichte
der russischen Strafverwaltung schätzte Leroy-Baulieu 1883, daß die
Verbannung aus politischen Gründen im Zeitraum 1871-78 nur achtunddreißig
Personen im jährlichen Durchschnitt betroffen hatte. Im Jahre 1889 wies einer
der erbittertsten Gegner des zaristischen Regimes, Steniak, darauf hin, daß
im größten Zuchthaus Sibiriens lediglich 150 Häftlinge untergebracht
waren (siehe Jocelyne Penner, Le Go1llag des tsars, 1986). (Ebd.,
2001, S. 45).Jacques Julliard, L'Année
des fantômes, 1998, S. 342.Claude Polin,
L 'esprit totalitaire, 1977, S. 132.Zitiert
bei: Michel Heller, La machine et fes rouages, 1985, S. 21.Claude
Polin, L 'esprit totalitaire, 1977, S. 121.Hermann
Rauschning, Die Revolution des Nihilismus, 1938.»Im
Gegensatz zu Stalin«, schreibt Ian Kershaw, »machte Hitler nicht die
Säuberungen zum kennzeichnenden Merkmal seines Regimes; ebensowenig erzeugte
er in den NS-Eliten eine Unsicherheit, die annähernd mit der vergleichbar
ist, die in den sowjetischen Führungskreisen unter Stalin herrschte. Die
Röhm-Affäre im Jahre 1934 und die brutalen Repressalien gegen die Verschwörer
von 1944 sind nicht zu vergleichen mit der stalinistischen Technik der Herrschaft
durch Säuberung, Terror und Angst.« (Ian Kershaw, a.a.O., S. 116).
Das ist einer der Gründe, weshalb es dem Nationalsozialismus nie gelang,
die deutsche Gesellschaft vollständig zu beherrschen. Besonders die konservativen
Eliten blieben dort bis zum Schluß stark genug, um den Anschlag am 20. Juli
1944 auf Hitler zu organisieren. (Ebd., 2001, S. 61-62).Billancourt
ist der Hauptstandort der Renault-Werke und eine Hochburg der kommunistischen
Gewerkschaft CGT. (Ebd., 2001, S. 64).Stephane
Courtais, »Le communisme reel a produit un cauchemar«, in:
La Une, Januar-Februar 1998, S. 18.Clément
Rosset schreibt ferner: »Die moralische Ordnung zu verurteilen, die das
NS-Deutschland während seiner schweren Herrschaft aufzwang, war und ist immer
noch dann - und nur dann eine heilsame Reaktion, wenn diese Verurteilung nicht
mit einer ihrerseits moralischen Verurteilung einhergeht, die dazu führt,
daß die seitherige Rollenverteilung aufgehoben wird.« (Ebd., a.a.O.,
1997, S. 68f.). (Ebd., 2001, S. 69).Alain
Badiou, L'ethique, 1993, S. 58.»Ich
besinge den GPU, den Frankreich unbedingt braucht. Verlangt einen GPU. Ihr braucht
einen GPU. Es lebe der GPU, die dialektische Figur des Heroismus!«
(Sic). (Ebd., 2001, S. 72).Wenn Maurice
Papon die Realität von Auschwitz während des Zweiten Weltkrieges hätte
kennen sollen, wie soll man sich dann vorstellen, daß Marchais (war Generalsekretär
der KPF) in Friedenszeiten vom Gulag nichts wissen konnte?« fragt Jacques
Julliard (a.a.O., S. 434). (Ebd., 2001, S. 73).Alain
Besançon, Mitteilung anläßlich der öffentlichen Jahressitzung
des Institut de France nach der Sommerpause 1998, a.a.O., S.790.Noch
fünf Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer bezeichnete Raymond Aron die Hypothese,
der Sowjetunion drohe der Zusammenbruch, als «abwegig« (vgl. J. Julliard,
Die letzten Jahre des Jahrhunderts, 1984, S. 119). »Wenn die Sowjets«,
fügte er hinzu, »Westeuropa zu erobern gedenken, ohne es zu zerstören
trotz Anwendung von Nuklearwaffen, dann werden die kommenden Jahre, die achtziger
und, auch die neunziger Jahre, offenbar wohl die besten sein.« (ebenda,
S. 139). Die sowjetische Macht ist auch nicht infolge der »Revolte der Nationen«
auseinandergebrochen, die Helene Carrere d'Encausse zu Unrecht vorausgesagt hatte.
François Furet, der sich seit 1956 keine Illusionen mehr über die
UdSSR machte, hat selber 1995 zugegeben, daß er sich ein so schnelles Ende
der Sowjetunion nie vorgestellt habe. (Ebd., 2001, S. 73-74).In
Polen wurde Alexander Kwasniewski, ehemaliges Mitglied der Jaruzelski-Regierung,
zuletzt gegen Lech Walesa zum Staatspräsidenten gewählt. Der ungarische
Premierminister Gyula Horn gehörte der letzten kommunistischen Regierung
des Landes an. Die Kommunisten Rußlands, die 1917 nicht einmal 20 Prozent
der Stimmen erreichten, bildeten 1998 die größte Fraktion im Parlament.
Zur ausbleibenden gerichtlichen Verfolgung der früheren kommunistischen Führer
siehe: Timothy Garton Ash, a.a.O., Oktober 1998, S. 45-66. (Ebd., 2001,
S. 74).Dieselbe Partei, die im November 1949
diejenige.n, die die Existenz von Konzentrationslagern in der UdSSR erwähnten,
der »Fälschung« bezichtigte, hat vor einigen Jahren das Gayssot-Gesetz
mit verabschiedet. Es sei außerdem bemerkt, daß den Deutschen nicht
in den Sinn gekommen ist, in Frankreich eine Heinrich-HimmlerAvenue zu gründen;
dagegen hat sich ein kommunistischer Stadtrat bereitgefunden, in Pantin bei Paris
eine Straße Dserschinski zu nennen, als Hommage an den Gründer der
Tscheka. (Ebd., 2001, S. 75).Am 28.
Apri1 1951 bezeichnete die kommunistische Tageszeitung France nouvelle Maurice
Thorez, Generalsekretär der KPF in den 1930er und 1940er Jahren, als «besten
Stalinisten Frankreichs«. (Ebd., 2001, S. 75-76).Alfred
Grosser, Ermordung der Menschheit: der Genozid im Gedächttnis der Völker,
1990, S. 166-173.Pierre Grémion, a.a.O.,
Frühjahr 1998, S. 1-29. Über «die politische und intellektuelle
Schlacht um den Archipel Gulag« schreibt der Verfasser: »Von Anfang
an schlossen sich Le Monde und sein Direktor den Gegnern des russischen Schriftstellers
an. Über Jahre hinweg legte die Zeitung bei jeder sich bietenden Gelegenheit,
Alexander Solschenizyn und seine Bücher zu erwähnen, eine bemerkenswerte
Beständigkeit in der tendenziösen Mittelmäßigkeit an den
Tag.« (S. 5). (Ebd., 2001, S. 77).Das
trifft unter anderen auf Annie Kriegel, François Furet, Emmanuel Leroy-Ladurie,
Claude LeEart, Stephane Courtois zu. Möglicherweise hätten sich die
Verfasser des Schwarzbuch des Kommunismus (**)
noch vor fünfzehn Jahren geweigert zu glauben, was sie heute behaupten.
(Ebd., 2001, S. 77-78).In ähnlichem
Sinne durfte ein Jean d'Ormesson schreiben, daß »unter den Linkspolitikern,
die über einen mehr oder weniger langen Zeitraum eine rechte oder rechtsextreme
Politik erfolgreich betrieben, bedauerlicherweise (sic) Mussolini und Stalin genannt
werden könnten« (»Le Figaro«, 14. April 1998). (Ebd.,
2001, S. 79).Jean-François Revel, »85
millions de morts!« , in: Le Point, 15. November 1997, S.
65. Derselbe Autor stellte ein Jahr später fest: »Es gibt einen
prokommunistischen Negationismus [Revisionismus], der viel heuchlerischer, wirksamer
und diffuser ist als der pronazistische, der oberflächlich und gesplittet
bleibt. .... Die Organisation der Nicht-Reue gegenüber dem Kommunismus wird
die politische Hauptaktivität im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts gewesen
sein, so wie die Organisationseiner Nicht-Kenntnis die der sieben Jahrzehnte davor
gewesen ist« (»Nazisme-communisme. L'eternel retour des tabous«,
in: Le Point, 10. Oktober 1998, S. 118). (Ebd., 2001, S. 79).Alain
Besançon, a.a.O., S. 793 und 790. »Courtois und Besançon haben
sich zu Recht darüber beklagt, daß die Erinnerung den Kommunismus und
den Nationalsozialismus nicht gleich behandelt hat«, meint Valerie
Monchi, in: »Jewish Chronicle«, 11. September 1998. (Ebd.,
2001, S. 80).Bertolt Brecht, »Plattform
für die linken Intellektuellen«, in: Gesammelte Werke, Band
20 (Schriften zur Politik und Gesellschaft), S. 239.Bertolt
Brecht, »Über die Moskauer Prozesse«, in: Gesammelte
Werke, Band 20 (Schriften zur Politik und Gesellschaft), S. 111.»Die
Vorsilbe anti-«, bemerkte Annie Kriegel, »vermittelt die
Sicherheit, daß man das Notwendigste und Kostbarste besitzt, um zu sein,
zu existieren, seine Existenz zu rechtfertigen: Sie vermittelt die Sicherheit,
einen Feind zu haben« (Mitteilung auf einem Kolloquium im April 1989 zum
Thema »Der Mythos der UdSSR in der westlichen Kultur« veranstaltete.
(Ebd., 2001, S. 91).Struktur und Wesen der
Einheitspartei (KPdSU und NSDAP) waren zum Beispiel in der Sowjetunion und in
NS- Deutschland nicht dieselben. In der UdSSR gab es auch keine gesellschaftspolitische
Struktur, die der SS im Dritten Reich entsprechen würde. Die Beziehungen
zwischen Partei und Staat waren ebenfalls anders. »Die NS-Partei«,
bemerkt Ian Kershaw, »hat niemals auf den Staatsapparat eine vergleichbare
Macht ausgeübt wie die kommunistische Partei in der UdSSR.« (a.a.O,
S. 184) Schließlich kontrastiert das hauptsächlich bürokratische
Wesen der stalinistischen Diktatur mit der so wenig wie möglich bürokratischen
Macht, wie sie von Hitler ausgeübt wurde. Aufgrund solcher Beobachtungen
war Raymond Aron in seinen letzten Lebensjahren zu der Ansicht gelangt, daß
sich das Adjektiv »totalitär« allenfalls nur auf das sowjetische
Regime anwenden lassen könne. Leszek Kolakowski hat die gleiche Ansicht geäußert
(a.a.O., S. 34). Ian Kershaw hebt außerdem hervor, daß im Nationalsozialismus
die charismatische Macht des obersten Führers ein wesentliches Element bildete,
das in der UdSSR fehlte: Hier hatten die meisten politischen Führer überhaupt
keinen Charisma (der Persönlichkeitskult, dessen Gegenstand Stalin war, übertrug
sich nicht auf seine Nachfolger). Hitler nahm daher eine ganz andere »Zentralität«
als Stalin ein: »Hitler war nicht das Produkt des Systems, er war das System.«
(a.a.O., 1995) Kershaw schließt daraus etwas übereilt, daß Hitler
für den Nationalsozialismus unersetzbar war, während das Überleben
des sowjetischen Systems Stalins Ablösung erforderte. Das Argument ist rein
spekulativ, da der Sieg der Alliierten 1945 den Fortbestand des sowjetischen Systems
nach Stalin ermöglichte, während er gleichzeitig einen Fortbestand des
Nationalsozialismus nach Hitler verhinderte. (Ebd., 2001, S. 108-109).»Was
die Ideologie anbetrifft«, schreibt Raymond Aron, »nahm der Nationalsozialismus
nie die systematische, dogmatische Form des Marxismus-Leninismus an. Es gab keinen
Hitlerischeri Katechismus, der Stalins Geschichte der KPdSU vergleichbar wäre.
Der Rassismus, Mittelpunkt des Hitlerischen Glaubens, verdarb nicht das gesamte
Denken, wie es der Stalinismus in seiner schlimmsten Zeit tat.« (Les
dernieres annies du siecle, a.a.O., S. 113 f.). (Ebd., 2001, S. 111).Hannah
Arendt unterstreicht in diesem Zusammenhang, daß weder der Sozialismus,
noch der Rassismus, noch der Antisemitismus totalitär an sich sind, sondern
daß sie es werden, wenn die Totalitarismen »ihr Auge auf sie geworfen
haben«. (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1938).
(Ebd., 2001, S. 112).Hannah Arendt, ebd.,
1938.Claude Polin, L 'esprit totalitaire,
1977, S. 110.François Furet, Brief an Ernst
Nolte,
2. Teil, Winter 1997/1998, a.a..O., S. 804. **François
Furet, a.a.O.. Siehe auch Jakob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären
Demokratie, 1961. Furet ist dagegen weniger überzeugend, wenn er im »Haß
auf den Bourgeois« den wichtigsten Hauptnenner der totalitären Ideologien
sieht. Die kommunistische Kritik an der bürgerlichen Demokratie hält
ihr nämlich nicht so sehr vor, bürgerlich zu sein, als ihre eigenen
Ideale zu verraten: Die historische Figur des Bourgeois widerspricht der von der
bürgerlichen Ideologie geforderten Gleichheit; trotzdem gebührt der
bürgerlichen Ideologie, so Marx, wenigstens das Verdienst, die letzten Überbleibsel
der feudalen Produktionsweise beseitigt zu haben. Das Bürgertum definiert
sich nun als die Gesellschaftsklasse, die um der Maximierung ihrer Interessen
willen den Idealen abschwor, denen es sich verschrieben hatte. Die französische
Revolution, an der sich Lenin orientiert haben will, war übrigens selber
eine im wesentlichen bürgerliche Revolution. (Ebd., 2001, S. 138-139).Ernst
Nolte, a.a.O., 1996, S. 139.Krzystof Pomian, a.a.O.,
1998, S. 101Denis de Rougemont, Journal d'Allemagne,
1938. Auszüge erschienen ... in den Nouveaux Cahiers vom 1.
Juni 1938. Boris Souvarine wurde auf die Schrift aufmerksam und verfaßte
1939 eine wohlwollende Rezension, die erst nach seinem Tod erschien (in: Commentaire,
Sommer 1993, S. 259-264). Das Journal liegt erst seit kurzem in deutscher Übersetzung
vor: Journal aus Deutschland, 1935-1936, Paul Zsolnay, 1998, mit einem
Nachwort von Jürg Altwegg. (Ebd., 2001, S. 140).Eine
Parallele zwischen französischer Revolution und nationalsozialistischer
Revolution wurde in vielsagender Weise bereits während der deutschen
Besatzung gezogen, und zwar von Marcel Déat, einem ehemaligen sozialistischen
Führer, der sich der Kollaboration angeschlossen hatte. »Der jakobinische
Staat«, schrieb Déat, »ist auf seine Art totalitär wie
das Reich. Der girondistische Föderalismus wird hart bekämpft, die Vereinigung
des Landes wird energisch vollzogen, selbst in sprachlicher Hinsicht. Ist es Zufall,
wenn Hitler bereits ab 1933 die gleichen Vorhaben verfolgt hat?« (Ebd.,
a.a.O., Juni 1944, S. 21). (Ebd., 2001, S. 140).Wir
folgen Lefort hingegen nicht, wenn er den Totalitarismus als modernen Versuch
deutet, eine prämoderne soziale Einheit (eine »ungeteilte« Gesellschaft)
wiederherzustellen, die ebenfalls gekennzeichnet ist durch ihre Verweigerung,
die Kluft zwischen Symbolischem und Realem anzuerkennen. Diese Auffassung beruht
unserer Ansicht nach auf einer falschen Analyse der traditionellen Gesellschaften,
die sich zwar als »ungeteilt« verstehen, nicht aber als homogen. Lefort
verwechselt ebenso organische Einheit des Sozialen und totalitäre Gesellschaft,
wenn er schreibt, daß der Totalitarismus darauf abziele, aus der Gesellschaft
wieder einen »großen Körper« zu machen: Das Hauptmerkmal
der organischen oder »holistischen« Gesellschaften liegt gerade in
der Einzigartigkeit und der gegenseitigen Abhängigkeit sämtlicher Teile
des »Körpers« sowie in der Tatsache, daß der »Kopf«
leitet, ohne die Stelle der anderen Teile zu besetzen, während im Totalitarismus
die Gleichschaltung der »Organe« im Mittelpunkt des Handelns der Regierungsmacht
steht. Die holistischen Gesellschaften sind keineswegs Gesellschaften, in denen
die Menschen auf die gesellschaftliche Ganzheit reduziert würden, sondern
solche, in denen das Gemeinwohl die individuellen Interessen überwiegt. Man
kann nicht zugleich behaupten, daß der Totalitarismus jegliche spontane
Sozialität zu beseitigen suche und daß er aus der Gesellschaft wieder
einen großen Körper machen wolle. »Im großen und ganzen«,
schreibt Claude Polin, »stimmt es nicht, daß jede Ganzheit in allem
und immer eine Unterordnung jedes Teils verlangt (Unterscheidung der Arten); es
stimmt nicht, daß jede Ganzheit bedeutet, daß irgendeiner dieser Teile
sein Wesen eben dieser Ganzheit verdanke (zufällige oder wesentliche Einheit);
es stimmt nicht, daß jede Ganzheit zu der Ansicht zwinge, daß dieFinalitität
jedes Teils die Ganzheit selbst sei (Hierarchie der Finalitäten). .... Die
Organhaftigkeit einer Gesellschaft bedeutet nicht einfach, daß das Ganze
des Teils dem Ganzen der Gesamtheit völlig untergeordnet sei.« (Claude
Polin, a.a.O., S. 106) Der Totalitarismus darf auch nicht verwechselt werden mit
den Philosophien der Ganzheit, einem überaus dialektischen Begriff, den Georg
Lukacs seinerseits als eine »wesentliche Kategorie der Realität«
betrachtete. Irn übrigen berücksichtigt Lefort kaum die messianische
und historizistische Dimension der totalitären Systeme. (Ebd., 2001,
S. 147-148).In letzter Zeit wurde Frankreich
öffentlich beschuldigt, Partei für die Völkermörder in Ruanda
ergriffen zu haben. In Kambodscha konnten die Roten Khmer mit Unterstützung
der Westmächte (vor allem der US-Amerikaner, die die vietnamesische Regierung
schwächen wollten) 1979 wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen. »Die
USA wollen keine Verurteilung des kambodschanischen Völkermords«, war
in Le Monde (2. Mai 1998) zu lesen. Im übrigen führte das viktorianische
England während des Burenkriegs das System der Konzentrationslager ein. England
erzeugte auch jene Hungersnot, die 1847 jeden fünften Iren das Leben kostete.
Gilles Perrault erinnert seinerseits daran, daß bei einer Bilanzierung seiner
kolonialen Expansion sich Frankreich - wenn man »die Zahl ihrer Opfer auf
die - mäßige - Bevölkerungszahl bezieht - im vorderen Feld der
niedermetzelnden Staaten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befindet«.
(Le Monde diplomatique, Dezember 1997, S. 22) Er hätte noch folgende Zeilen
aus Lettres d'un soldat (1997, S. 22) anführen können, die Oberst
de Montagnac Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte: »Alle Bevölkerungen,
die unsere Bedingungen nicht annehmen, müssen dem Erdboden gleichgemacht
werden. Alles muß vernichtet werden, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht.
Wo die französische Armee ihren Fuß gesetzt hat, darf kein Gras mehr
wachsen. So ist Krieg gegen die Araber zu führen. Mit einem Wort: Alles vernichten,
was nicht wie Hunde zu unseren Füßen kriechen wird.« Wie von
einigen Beobachtern bemerkt, wäre es in dieser Hinsicht nicht unsinnig, ein
»Schwarzbuch des Liberalkapitalismus« zu schreiben, dessen Expansion
beträchtliche menschliche Verheerungen angerichtet hat und noch anrichtet.
Zwar wird man einwenden können, daß es einen grundlegenden Unterschied
zwischen einem angeordnetem und einem provozierten Tod gibt, zwischen einem Tod
als Folge eines Tötungsbefehls und einem Tod, der sich mittelbar aus einem
Struktur- oder einem Situationszwang ergibt. Dieser Unterschied ist jedoch für
die Sterbenden kaum wahrnehmbar. (Ebd., 2001, S. 149-150).Vgl.
u.a. Klaus Hornung, Metamorphosen des Totalitarismus. Von der totalitären
Diktatur zur »totalitären Demokratie«?, in: Criticon,
Apriljuni 1995, S. 71-74. Jacques Ellul schreibt seinerseits, daß
»die abstrakte Diktatur der Technik mit ihren Segnungen viel totalitärer
sein wird als die vorherigen«. (Jacques Ellul, a.a.O., 1977, S. 223).
(Ebd., 2001, S. 152).Marx spricht übrigens
von »Diktatur des Proletariats«, und nicht von Diktatur der kommunistischen
Partei, die bei ihm keine strukturierte Vereinigung darstellt wie bei Lenin. In
der Heiligen Familie (1845) kritisiert er auch die jakobinische Schreckensherrschaft,
deren kleinbürgerliches Wesen er verurteilt. Auch Stephane Courtois ist der
Ansicht, daß es »übertrieben« wäre, »kommunistische
Ideologie und marxistische Ideologie gleichzusetzen« (a.a.O., S. 16).
(Ebd., 2001, S. 164).Ernst Nolte,
Brief an François Furet, in: Commentaire, Winter 1997/'98, S. 809. Der
Briefwechsel Furet-Nolte wurde ebenfalls in Buchform veröffentlicht, zunächst
in Deutschland, dann in Frankreich (Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus
im 20 Jahrhundert, 1998 **).
Willensfreiheit
gibt es so nicht. Auch wenn andere Wissenschaftler und andere Philosophen
das Gegenteil behauptet haben: den freien Willen gibt es so
nicht - wie v.a. Schopenhauer (**)
und in Anlehnung an ihn Nietzsche (**),
Freud (**),
Spengler (**),
Heidegger (**),
Sloterdijk (**)
u.v.a. richtig erkannt haben und heutige Wissenschafter wie Roth (**),
Singer (**)
u.v.a. neurowissenschaftlich belegt haben. Der freie Wille bezieht
sich also nicht auf die Menschen und schon erst recht nicht auf den Menschen,
sondern auf die Welt, wie Schopenhauer sagte. Zur Welt gehört auch der Mensch,
auch sein Bewußtsein, auch sein Wille; aber dennoch ist nicht der Wille
des Menschen frei, sondern nur der Wille der Welt (vgl. zufällig,
kontingent); der Mensch ist nur ein Teil der Gemeinschaft von
Menschen; das Gehirn ist nur ein Teil der Gemeinschaft von Gehirnen. Der
Mensch ist abhängig von seiner Gemeinschaft, weil sein Gehirn, von dem er
abhängig ist, von den Gehirnen derjenigen Menschen, die zu dieser Gemeinschaft
gehören, abhängig ist. Was den einzelnen Menschen angeht, so entscheidet
nicht dessen Wille, sondern dessen Gehirn, und das auch nur in Abhängigkeit
von den Gehirnen der Gemeinschaft. Dies ist auch im Sinne der Evolutionstheorie.
Jedes Gehirn dient dem Leben, denn es tut immer nur das, was dem Lebewesen das
Überleben sichert; und das Überleben wird dem Lebewesen durch
die Lebewesen als die Gemeinschaft gesichert. Evolutionär ist es einfach
sinnvoll, ein Gehirn in Abhängigkeit von mehreren Gehirnen einer Gemeinschaft
funktionieren zu lassen. Das gilt auch und vielleicht sogar erst recht dann, wenn
die Träger der Gehirne sich darüber täuschen und lieber glauben,
es sei genau umgekehrt. Weil der Mensch glauben kann, er habe einen freien
Willen, verfügt er immerhin über einen bedingten
freien Willen, denn der Mensch kann in Distanz zu sich selber
und also auch zu seinem Gehirn gehen (z.B. Gehirnforschung, Neurologie betreiben),
über sich selbst hinausgehen, das heißt: der Mensch kann transzendent
sein. Es ist seine Transzendenz (Heidegger nannte sie auch Weltoffenheit),
die ihm einen bedingten freien Willen ermöglicht und ihn
gegenüber allen anderen Lebewesen frei macht. Obwohl er also
über keinen freien Willen, sondern nur über einen bedingten
freien Willen verfügt, ist der Mensch - und zwar: nur der Mensch
- wegen seiner Fähigkeit zur Transzendenz, die man ja auch Geist
nennen kann, freier als alle anderen Lebewesen; er ist Schöpfer
und einziges Mitglied der geistigen Schicht. Freiheit
des Menschen heißt eben nicht Willensfreiheit des Menschen,
denn der Mensch verfügt über keinen freien Willen, sondern
nur über einen bedingten freien Willen. (Anmerkung von:
HB). |