Geschichte des Museums
Das Ansammeln wertvoller Gegenstände
ist bei Heiligtümern, weltlichen und geistlichen Herrschersitzen schon schon
in früher Zeit zu beobachten. Zu den wichigsten Motiven für das Sammeln
zählten mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit von Anfang an das Selbstverständnis
und die Selbstdarstellung in sichtbarem, vorzeigbarem Besitz. Dieser Aspekt dominierte
auch bei den berühmten Sammlern antiker Werke in der Renaissance, z.B. bei
Papst Julius
II. (1443-1513; reg. 1503-1513) oder Lorenzo de Medici (1449-1492).
Kunst- und Wunderkammern sammelten auch z.B. Erzherzog Ferdinand von Tirol (16.
Jh.), Andreas (Endres) I. Imhoff (14911579) und Verwandte, Melchior Hainhofer
(1500-1555), Philipp Hainhofer (1578-1647) und Verwandte, Stephan III. Praun (1544-1591),
Paulus II. Praun (15481616) und Verwandte, auch Kaiser Rudolf
II. (1552-1612; reg. 1576-1612) sowie die sächsischen Kurfürsten
in Dresden (Grünes Gewölbe) und die bayrischen Herzöge in
München. Diese Schätze wurden nicht isoliert und um ihrer selbst willen
präsentiert, sondern auf überaus origienelle Weise in die jeweilige
Architektur einbezogen, ebenso wie die Bibliothek mit Kupferstich- und Münzkabinett,
eventuell Waffen-, Jagd- oder Instrumentensammlungen. Im späten 18. Jahrhundert
wurden vor allem die Antikensammlungen ausgebaut, so in den Vatikanischen
oder Farnesischen Sammlungen (Funde aus Herculaneum und Pompeji) in Neapel.
Übrigens war der Typus der fürstlichen Kunstsammlungen in Deutschland,
wie er vom 15. bis zum 18. Jahrhundert vorherrschte, der der sogenannten Kunst-
und Wunderkammer, eines Raritätenkabinetts, in dem Kunstwerke, Naturalien
und Kuriositäten in buntem Beieinander waren.Das Museum als öffenliche
Institution wurde im 18. Jahrhundert geschaffen, wenngleich schon vorher vereinzelt
Galerien dem Publikum zugänglich gemacht worden waren, vor allem in Italien
und Deutschland. (Schon 1662 hatte z.B. die Stadt Basel das private Amerbach-Kabinett
angekauft und der Allgemeinheit überwiesen.). Als erste staatliche Gründung
entstand das Britische Museum in London (1753), in Deutschland das Kasseler Museum
Fridericianum (erbaut 1769-1776) als erste staatliche Gründung im kontinentalen
Europa.Das wichtigste Ereingnis auf dem Wege zum Museum, wie wir es heute
kennen, war die vom französischen Nationalkonvent ausgesprochene Erklärung
des königlichen Kunstbesitzes zum Nationaleigentum und die daraufhin 1793
erfolgte Öffnung der Galerie des Louvre. Schließlich sind die meisten
fürstlichen Kunstsammlungen in öffentlichen Besitz übergegangen.
 Indem das Museum mit einer
großen Erzählung beauftragt wird, schafft sich der Historismus
ein Institut, um sein Vorurteil einer zu uns her und auf uns hin erzählbaren
Geschichte kulturpolitisch in Kraft zu setzen. .... Die Eroberungskräfte des
imperialen Bürgertumss gestatten sich für einen geschichtlichen Augenblick
den Kompromiß mit der Kontemplation; die Tatsache, daß die Welt soeben
als globale Fabrik, als Gesamtwarenhaus und als Gesamtkriegsschauplatz hergerichtet
wird, schließt ihre gleichzeitige Verwandlung in ein Objekt der Bildungsandacht
nicht aus. Der Historimsus ist der philosophische Sonnatg der imperialistischen
Woche, und sein Museum ist der bürgerliche Tempel. (Peter Sloterdijk,
Museum - Schule des Befremdens, 1988, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 354-370, hier: S. 359).Mag das Wort Museologie
auch ein Neologismus sein, der nicht vor dem Ende des zweiten Drittels des 20. Jahrhunderts
auftaucht, so ist doch der museologische Gedanke bereits der Hegelschen
Ästhetik und mehr noch seiner Geschichtsphilosophie immanent. Hegel verwandelt
sich bei seinem Gang durch die Weltgeschichte in den ersten totalen Museumsbesucher.
In seiner Eigenschaft als Schriftführer des Weltgeistes protokolliert er
die Entwicklungsschritte des an-sich-seienden zum für-sich-seienden Geist.
Die Weltzeit ist bei ihm ganz zu einem Innenraum geworden, den der Geist bei seiner
Selbstrekapitulation zu durchmessen hat. Dieser Innenraum ist bereits als Ausstellungsraum
des absoluten historischen Weltmuseums konzipiert. Durch ihn geht der Phänomenologe
auf seine Gegenwart zu, in der die Welt- und Selbstaneignung des Geistes zur vollendeten
Tatsache werden soll. Nachdem er hastig den ersten Saal durchmessen hat, in dem
die monströse sphinxhafte afrikanisch-asiatisch-ägyptische Frühgeschichte
ausgestellt ist, gelangt er in den zweiten Saal, wo die Exponate der Antike in
schöner Individualität glänzen, und kommt schließlich in
dem Saal der christlichen Weltzeit an, der, wie nicht anders zu erwarten, der
dritte und letzte sein muß; in ihm riecht es nach Gebet und Arbeit - es
ist der integrale Kulturstaat als das vernünftige Altersheim der Menschheit.
(Peter Sloterdijk, Museum - Schule des Befremdens, 1988, in: Ders., Der
ästhetische Imperativ, 2007, S. 354-370, hier: S. 360-361).In
diesem gigantischen Saal hat der Geist viel zu sehen, er schreitet von seiner
mittelalterlichen Befangenheit in Offenbarungsglaube und feudaler Vormundschaft
fort zur neuzeitlichen Autonomie der Selbsterkennmis und des bürgerlichen
Rechtsstaats. Die dritte Halle ist so gewaltig, daß sie schon ein preußisches
Posthistoire und das tausendjährige Reich des Projekts Moderne
einschließt. Sie ist der Raum, der die okzidentale Weltzivilisation der
Moderne beherbergt und in dem die Vereinten Nationen der letzten Menschen tagen.
Der Hegelschen
Gewaltsamkeit ist es zu verdanken, daß die Gegenwartswelt als Weltausstellung
des Fortschritts skizziert worden ist. In seinem Entwurf wird die Welt selbst
zu einem dynamischen Museum, in dem Leben und Erinnerung, Ausstellung und Millenium
dasselbe sind; deswegen entfällt in ihm der Unterschied zwischen dem Veranstalteten
und dem Absoluten. Daß hier das Wirkliche auch das Vernünftige sei,
legt uns die Einsicht nahe, daß in den Exponaten der phänomenologischen
Weltausstellung tatsächlich die Schlußwahrheit des Ganzen sich offenbart.
Im Rechtsstaat, in der Enzyklopädie der Wissenschaften und in der romantischen
Kunst bringt der Geist endgültig zum Vorschein, was er objektiv und subjektiv
seit jeher in sich trug. Er weht von da an nicht mehr anarchisch, wo er will,
sondern nur noch dort, wo er nach allem kann, das heißt im Innern der millenarischen
dritten Halle. Folglich können Hegelianer bis heute zwischen dem Rauschen
der Inspiration und dem Summen einer Klimaanlage nicht unterscheiden - vielleicht
stammt von daher ihre Wut gegen die so genannte falsche Unmittelbarkeit, denn
wie sollte auch ein frischer Wind von außen in ein Hegelsches Museum gelangen?
Wenn dort etwas weht, dann kann es nur der Ventilator gewesen sein. (Peter
Sloterdijk, Museum - Schule des Befremdens, 1988, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 354-370, hier: S. 361-362).Der Grundbegriff
der Hegelschen
und der historischen Museologie ist zugleich der Schlüsselbegriff der bürgerlichen
Gesellschaft: Aneignung. Wer durch die museale National- und Weltgeschichte schreitet,
tut das, um auf seinem Parcours in einem doppelten Sinn Eigentümer zu werden,
an der Welt und am Selbst. Gerade um in den Vollbesitz seiner Identität zu
kommen, muß der Geist, was er nicht selbst war, entweder assimilieren oder
vernichten - am ehesten: vernichten durch assimilieren. Das ist der Sinn der historischen
Museumskultur: Sie soll die gesamte Vergangenheit wie eine Äußerung
des werdenden Selbst darbieten. Das Fremde kann demnach nichts mehr anderes sein
als ein Eigenes, das zuerst incognito auftrat, dann aber schnell durchschaut
und einverleibt wurde. Hegels absoluter Geist thront seltsam versöhnt über
der weltgeschichtlichen Szene, von der es heißt, sie sei eine Schädelstätte.
Das Weltmuseum ist für Hegel zugleich ein Weltfriedhof, der auch die Lebenden
schon integriert; doch fühlt der Geist sich auf ihm recht wohl, weil jedes
Grab eine eigene durchlebte Möglichkeit birgt und jeder Knochen einen Vorfahren
repräsentiert. Unter der Voraussetzung, daß sie sich willig musealisieren
und geschichtlich bestatten lassen, ist der absolute Geist bereit, alle vorangegangenen
und gleichzeitigen Geister als Verwandte anzuerkennen. Aber diese Anerkennung
erschöpft sich zuletzt in Einverleibungsakten. Im absoluten Gedächtnis
konserviert, gehen die Äußerungen des vergangenen fremden Lebens in
den Besitz des philosophischen Museologen über. Weil die Geschichte selber
als Akkumulation der Museumsbestände fortgeht, muß sich die Museumsverwaltung
wenig Sorgen machen über den Verdacht, daß auch hier Eigentum Diebstahl
sein könnte. (Peter Sloterdijk, Museum - Schule des Befremdens,
1988, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 354-370, hier:
S. 362-363).Doch solange Aneignung den Sinn der Geschichte ausmacht,
bleibt das Fremde dazu bestimmt, auf einen Rest reduziert zu werden. Der fremde
Rest ist die vernachlässigbare Größe im historischen Spiel, der
Staub der Archive, der ungegenständliche Atem eines Lebens, das uns nur in
seinen Äußerungen und Resultaten etwas bedeuten soll; dem Rest verfällt
»das Leben der infamen Menschen« und das Dasein des Ausdruckslosen.
Belangloser Rest bleibt diesem Denken auch der Fremdheitsschauder des Daseins,
für das die Welt mitsamt ihren Eigentümern ihrerseits in Belanglosigkeit
getaucht ist. (Peter Sloterdijk, Museum - Schule des Befremdens,
1988, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 354-370, hier:
S. 363).Die Korrespondenz zwischen Museum und Friedhof ist die
makaberste, aber auch die evidenteste ... In Wahrheit ist das Museum weniger ein
Fiedhof als ein irdischer Himmel der übrig gebliebenen Objekte, denn mit
dem Tag der Ausstellung brach für sie der Tag der Auferstehung an. In diesem
Sinn sind Dinge, denen es gelang, einer Dauerausstellung einverleibt zu werden,
tatsächlich in die Ewigkeit eingegangen. Für sie macht die Rede von
der Auferstehung des Fleisches mehr Sinn als für die sterbliche Hülle
von Christen, die bei der Erdbestattung wie im Krematorium gleich schlechte Chancen
haben, ein wenig Ähnlichkeit mit sich selbst bis zum Jüngsten Tag zu
bewahren. (Peter Sloterdijk, Museum - Schule des Befremdens, 1988,
in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 354-370, hier: S. 365-366).
Wenn Museen und Grabespyramiden tatsächlich die stärksten irdischen
Äquivalente zur metaphysischen Verewigung darstellen, so sind die altägyptischen
Leichenpräparatoren objektive Kollegen der zeitgenössishen Konservatoren.
Es soll ja Leute geben, die nicht gern ins Museum gehen, weil für sie alle
Exponate einen Geruch von Grabbeigabe um sich haben. Tatsächlich ist ein
teil der musealen Sammeltätigkeit bis heute nichts anderes als eine Fortsetzung
der Grabräuberei mit anderen Mitteln. (Peter Sloterdijk, Museum
- Schule des Befremdens, 1988, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 354-370, hier: S. 366).Im Austellen besiegt die moderne
Herstellung von Ewigkeit als Dauersichtbarkeit die antike Hoffnung auf Überleben
durch Verwandlung im Verborgenen. Doch indem es auch Moorleichen, Mumien und menschliche
Schädel ausstellt, stößt das Aneignungsmuseum an die Grenze, hinter
der die Dinge ihren Eigenssinn gegen die Ausstellung durchsetzen. (Peter
Sloterdijk, Museum - Schule des Befremdens, 1988, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 354-370, hier: S. 367). Der Vergleich des
Museums mit Friedhöfen, Hades und Totenstadt führt ins makabre, der
mit der Mülldeponie ins zynische Gebiet. So wie die Thanatologie an die Geheimnisse
des bewußten Lebens rührt, so eröffnet der Zynismus einen Zugang
zu den moralischen Schatzzentren der Zivilisation. Wer die Vergleichbarkeit von
Kunst und Müll, von Museumswürdigkeit und Vermüllungswürdigkeit
a priori bestreiet, der verzichtet darauf, die analytische Kraft der zynischen
Indifferenz gegen Wertunterschiede für sich zu nutzen. (Peter Sloterdijk,
Museum - Schule des Befremdens, 1988, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 354-370, hier: S. 368).Unter kulturökologischer
Perspektive ist die Analogie zwischen Museologie und Mülltheorie freilich
schlagend; Museen sind Einrichtungen zur Verarbeitung kultureller Entsorgungsprobleme
- Deponien zur exemplarischen Aufbewahrung von zivilisatorischem Sondermüll,
Endlagerstätten für schwach strahlende Substanzen und für Verbrennungsrückstände
kreativer Prozesse. Während die Mülldeponie die materiellen Überbleibsel
von Lebensprozessen anonym und nach unten entsorgt, leistet das Museum eine Entsorgung
nach oben und ins Gedächtnis. Sie widmet sich der Sondermüllkategorie
»objektiver Geist«, den sie als rezyklierbares Ergebnis früherer
Lebensprozesse auswählt und für Anschlußproduktionen zur Verfügung
stellt. Insofern sind musealisierte Werte und Aufbewahrungsstücke der Kultur
eher mit einem Kompost als einem Endlager für Haus- und Industriemüll
vergleichbar, tatsächlich nahm ja die alte Gartenkultur der Kompostierung
den modernen Recycling-Gedanken auf der Ebene organischer Umwandlungen vorweg.
Betrachtet man materielle Zivilisationsresultrate unter dem Müllaspekt, so
wird besonders scharf deutlich, daß die Kumulation von Herstellungswissen
im Subjekt nur einen Schein von Selbstaneignung und Machtergreifung über
die äußere Welt erzeugt. Wie wir allmählich begreifen lernen,
findet die primäre Kumlation auf der Abfallseite statt, wo die dysfunktionalen
und ungewollten Ergebnisse und Nebenprodukte des Zivilisationsprozesses schneller
zu wachsen beginnen als unser Vermögen der Abfallbeherrschung. Da der Müll-
und Nebenfolgenberg der gesellschaftlichen Reproduktion sich heute schneller auftürmt
als der Könnensberg, bricht im Zentrum des modernen Weltaneignungsprozesses
selbst, inmitten der Selbstermächtigung durch Hesrtellung, das schlechthin
Fremde und Nichtaneigenbare auf. Der Müll als heterologe Kategorie par
excellence signalisiert die Rache des Nicht-Ich an der unersättlich produzierend-konsumierenden
Subjektivität. Musealisierter Müll drückt schon das Selbstmitleid
des Subjekts aus, das die Gefahr seines Untergangs beim Rückschlag des Fremden
vorhersieht. Müllexponate entstehen nur zum Teil aus der Identifikation mit
dem Gegenangreifer, mehr noch spricht aus ihnen die späte Regung des aufgebrochenen
Subjekts, dem mißachteten Teil auch dann noch mit Aufmerksamkeit zu begegnen,
wenn sich objektiv die Zivilisation zur zweiten Schlacht gegen die Natur als Müll
rüsten muß. (Peter Sloterdijk, Museum - Schule des Befremdens,
1988, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 354-370, hier:
S. 369-370). Man muß der Welt nicht
avantgardistisch vorauseilen, um eine Gesamtansicht von ihr zu bekommen, wenn
man sich nach ihr umdreht. Nein, es ist an der Zeit, absolut museal zu werden,
um das Weltproblem »als Ganzes« zu thematisieren. Wer verstehen möchte,
was es heißt, heute zur Welt zu kommen, muß sich klarmachen, was es
bedeutet, ins Museum zu gehen. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung,
1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier:
S. 371).Menschen sind Wesen, die zur Welt kommen. Nur
eine Teilmenge der Zurweltgekommenen werden Museumsbesucher. Zur Welt kommen und
ins Museum gehen sind nicht nur sehr verschiedene Tätigkeiten, sie kontrastieren
auch durch einen sehr verschiedenen Grad an allgemeiner Beteiligung. Meine Behauptung
ist nun, daß es in der Logik der Neuzeit liegt, das Zuweltkommen und das
Insmuseumgehen konvergieren zu lassen. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum
und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 371-397, hier: S. 371).Das Museum ist eine neognostische
Weltmetapher, die während der Selbstvollendung der Moderne mit Notwendigkeit
auftaucht und unaufhaltsam an Plausibilität gewinnt. .... Mit dem Wort Museum
läßt sich ein Schlag führen gegen den gleichgültigen, halbtoten
und zufälligen Charakter der meisten Lebensinhalte von heute. Zugleich gibt
das Wort den Hinweis auf die Tragödie des »objektiven Geistes«
und unterstreicht den Verdacht, daß die Vergangenheit stets mächtiger
bleibt als die Gegenwart und daß das Leben gegen das Gelebthaben nicht mehr
wirklich aufkommt. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung,
1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier:
S. 373).Verallgmeinerte Museumskritik ist also eine Endstufe
jener Kulturkritik, die seit dem späten 18. Jahrhundert den vorgefundenen
Lebensformen die Schuld daran gibt, daß wir in ihnen ein gewisses Fremdheitsgefühl
nicht loswerden können. Je älter die Kultur ist, desto fremder steht
sie den Neuankömmlingen gegenüber - wie eine Kafkasche Behörde
und ein Hegelscher
Schädelberg. Ich habe einmal versucht, diese zur Weltkritik gesteigerte Kulutrkritik
auf den Kopf zu stellen, um herauszufinden, was sich ergibt, wenn das Befremden
an der Welt nicht von der Fehlerhaftigkeit der äußeren Verhältnisse
ausgeht, sondern in einem inneren Schwindel und in einem Mangel an Zugehörigkeitsgefühl
seine Ursache hat. Könnte es nicht sein, daß nicht die Welt uns fremd
ist, sondern wir der Welt? (Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung,
1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier:
S. 373-374).Die Welt wird zum Museum, wenn ich mich in
ihr aufhalten muß, ohne es zu wissen wie ich hineingekommen bin. Sie wird
museal, fremd, objektiv, blockhaft und abweisend, wenn in meinem Dasein der Elan
des ersten Ankommens und Entdeckens erstarrt ist. Wenn das Kontinuum der permanenten
Geburt zerbricht, dann tritt unweigerlich der Effekt auf, daß die Welt immer
schon vor uns dagewesen zu sein scheint - als die älteste abgekartete sache
der Welt, ein trostloses und lichtloses fait accompli. Dann wird die Welt
zum Urgestein dr längst bestehenden tatsachen, an dem alle Spätankömmlinge
zerschellen müssen; dann muß sie uns als die ungeheure Summe der aufgespeicherten
unvergangenen Vergangenheit erscheinen, gegen die unser viel zu spät gekommenes,
hinterherhinkendes gegenwärtiges Leben unmöglich aufkommt. Auf diese
Weise wird Welt zu einem Begriff, der die Resignation der Menschen vor dem unermeßlichen
Vorsprung der Dinge ausdrückt. Wenn Heidegger
vom In-der-Welt-Sein
spricht, dann klingt aus dieser Formel bereits die menschliche Verspätung
gegenüber dem fremden Kosmos heraus; unüberhörbar ist auch die
Drohung, daß wir im Rennen mit den harten Tatsachen, die vor uns waren,
nur durch den Tod noch eine letzte Chance erhalten haben; nur insofern der eigene
Tod den Weltuntergang bedeutet, holen wir im Tod die Welt ein und erlöschen
mit ihr zusammen; also wären wir in unserem letzten Augenblick mit ihr zum
ersten Mal gleichzeitig und auf einer Höhe. Ansonsten bliebe uns nichts anderes
übrig als die tapfere Einsicht in unsere schicksalhafte Geworfenheit
- um den berüchtigten Heideggerschen Terminus aufzunehmen; geworfen wohin?,
in ein Etwas, das nach Nichts schmeckt, oder ein Nichts, das als Etwas auftritt,
wie Sie wollen - jedenfalls in einen Zusammenhang älterer, mächtigerer,
längst gültiger und nur noch vorzufindender Gewalten und Gesetze.
(Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der
ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier: S. 374-375).Wenn
wir schon dazu verdammt sind, in der Welt zu sein wie Fremde in einem Museum,
so scheint es eine Sache der metaphysischen und museologischen Gesundheit zu sein,
nicht für alle Zeiten nur als ein verlorener Besucher am Rande der Welt herumzustehen;
sobald sich der erste Schrecken gelegt hat, ist es doch ratsam, auf der Seite
der Museumsmacher überzuwechseln. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum
und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 371-397, hier: S. 376).Wo das Museum am totesten
ist, hat es am deutlichsten die Eigenschaften eines präexistentiellen Schoßes.
In der Nähe der kalkigen Knochen der Urtiere fühlt der gnostische Geist
die mineralischen Mütter. Bis zu ihnen müßte unsere Museologie
zurückgehen, um zu verstehen, was da seit rund zweihundert Jahren in Gang
gekommen ist, als die Fürsten, die Minister, das Großbürgertum
und schließlich die demokratischen Pädagogen sich daran machten, unzählige
künstliche Vergangenheitshöhlen aufzustellen, um ganze Bevölkerungen
durch sie hindurchzupumpen. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung,
1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier:
S. 378).Es gibt in der imaginären Topographie
aller menschlichen Gemeinschaften Punkte, wo die Geschäfte der Lebenden mit
ihren Toten abgewickelt werden - die Hausaltäre, die Tempel, die Grabmäler,
die Friedhöfe, die Monumente, die Katakomben, die Kathedralen, die Schlachtfelder,
die Kriegergedenkstätten; auch die Kalender der Völker sind den Bedingungen
der Totenbeschwichtigung und der Totenfernhaltung unterworfen (ich
behaupte das Gegenteil: der Selbsttröstung und der Totennahhaltung! HB). Nun gehört nicht viel Aufwand dazu, den Gedanken plausibel zu
machen, daß auch die Museen ... zu großen Anteilen aus dem Psychodrama
neuzeitlicher Totenentfernungsmaßnahmen (ich behaupte
das Gegenteil: Totennahhaltungsmaßnahmen! HB) zu verstehen sind.
(Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der
ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier: S. 383).Die
Moderne schickt die Genien und Geister von früher rückwirkend auf die
Schule und ins Museum; sie schreibt ihnen vor, daß sie nur dann noch in
uns weiterleben dürfen, wenn sie sich in Unterrichts- oder Ausstellungsstoff
verwandeln. Die Verstorbenen kehren offiziell nur noch im Lehrplan wieder, sie
müssen zu Klassikern, zu Ausstellungsstücken werden, und wenn es hoch
kommt, kehren sie als Schöpfer bleibender oder steigender Werte wieder -
denken Sie an die gespenstischen Erfolge Vincent van Goghs, der, seit er tot ist,
von seinen Bildern leben könnte. Kurzum, ich will sagen, daß die Fortlebensbedingungen
für Tote und Totes sich in der Moderne dramatisch zu verändern beginnen
und daß neben den Friedhöfen, als den traditionellen Leichen-Zwischen-und-Endlagerstätten,
die schulischen und die musealen Institutionen die Hauptlast der geistigen Totenfernhaltungsarbeit
(ich behaupte das Gegenteil: Totennahhaltungsarbeit! HB) zu tragen haben. Immerhin gilt auch für diese Einrichtungen die
Regel, daß die Fernhaltung (=> Nahhaltung!)
der weiterlebenden Toten nur durch kulturelle Kompromißhandlungen zu leisten
ist - das heißt durch abweisende Einladungen (im Gegenteil!),
durch herbeiholendes Wegschicken (im Gegenteil!),
durch abtötende Wiederbelebung (im Gegenteil!),
durch vernichtende Aufbewahrung (im Gegenteil!),
durch verdunkelnde Bekanntmachung (im Gegenteil!),
durch verstellendes Vorstellen (im
Gegenteil!), durch unsichtbarmachendes Ausstellen (im
Gegenteil!). In allen diesen Disziplinen leisten die Museen der Gegenwart
Außerordentliches, ja sie gehen vielerorts über dieses ihr eigentliches
Pensum weit hinaus und behandeln auch lebende Künstler schon wie Tote, bei
denen die Wiederkehrgefahr durch Großausstellungen vorbeugend gebannt werden
soll. Die Museen sind also, analog den neurotischen Symptomen der Freudianer,
Kompromißbildungen zwischen Wiederkehr und Abwehr - Beschwörungen und
Erledigungen des Vergangenen zugleich. Sie sind Zentren der Vergangenheitsbewältigung
in dem prekären Sinn, daß sie unsere Überwältigung durch
die Toten, die Vergangenen, Ehemaligen, Abgelebten abwehren (ich
behaupte weiterhin das Gegenteil! HB). (Peter Sloterdijk, Weltmuseum
und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 371-397, hier: S. 384-385).Das Museum
ist die perfekteste moderne Einrichtung, um das lebenswichtige Kurz-Rein-und-Schnell-Wieder-Raus-Spiel
zu spielen; es ist unser offizielles Uterodrom. .... Hält jemand sich gern
in Museen auf, so sitzen ihm die Toten schon gefährlich im Genick. Er gehört
vielleicht schon mehr zu den Exponaten als zu den Exponenten. Er lebt vielleicht
schon im Kernsog der Gräber. Wer die typischen Museumssymptome - Müdigkeit,
Schwindelgefühl. Lebensüberdruß, Ekel, Klaustrophobie, Atemnot,
Gähnen und panischer Drang zum Ausgang seit längerem nicht mehr bei
sich beobachtet hat, sollte so bald wie möglich einen Psychoanalytiker oder
besser noch einen Daseinsanalytiker aufsuchen. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum
und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 371-397, hier: S. 385-386).Noch immer
gibt es keine Geschichte der Kultur, die nicht zugleich, wie verborgen auch immer,
eine Geschichte fortwirkender Besessenheit wäre. (Peter Sloterdijk,
Weltmuseum und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 371-397, hier: S. 387).Über
das Museum spotten heißt wahrhaft ins Museum gehen. Zeit für uns, mit
der Museumsverspottung Ernst zu machen und die Musealisierung der Welt an ihren
Ursprüngen zu beobachten. Woher kommt diese Überschwemmung der modernen
Gesellschaften mit Institutionen zum Vorzeigen von fertigen Dingen aus gestriger
Arbeit? Was ist schuld daran, daß die Resultate der Arbeit unserer
Vorfahren heute »wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden« lasten
- nicht anders als Karl Marx
es von der »Tradition aller toten Geschlechter« behauptet hat? Welche
Notwendigkeit hat bewirkt, daß die Summe der von sämtlichen Produzenten
vor uns geschaffenen Werte jetzt wie ein globales Kapital der weiteren Verwertung
entgegensieht? - Kurzum, wie ist es zu dieser massiven Gegenwartsverschmutzung
durch Rückstände der Vergangenheit gekommen? (Peter Sloterdijk,
Weltmuseum und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 371-397, hier: S. 387-388).Die
Musealisierung der Welt ist eine Folge der kapitalistischen Kulturrevolution,
die seit dem späten 18. Jahrhundert die lokalen Zivilisationen auf der
Erde zunehmend in das Abenteuer der Synchronisation verstrickt. Durch den weltweiten
Ausgriff der Kapitale werden sämtliche traditionelle Lebensgemeinschaften,
in Europa wie auch in den anderen Kontinenten, aus ihren Bindungen an die Vermächtnisse
ihrer Vorfahren, das heißt ihrer Toten herausgebrochen. Das Kapital synchronisiert
die Welt, indem es überall dem Austausch mit den fremden gleichzeitig Lebenden
einen fast unbedingten Vorrang verschafft vor der Bindung an die eigenen verstorbenen
Vorfahren und ihre verinnerlichten Stimmen. Diese mögen über das Grab
hinaus ihre Sprachen weitersprechen und ihre Grundaussagen über die Welt
und ihre Ordnung beharrlich wiederholen; die Nachkommen werden wohl diese Stimmen
auch weiterhin im Ohr behalten und durch sie zurückgebunden bleiben an ihre
Herkunftswelten. Aber die Stimmen der Vergangenheit verlieren ihr einstiges Monopol
und werden zunehmend historisch, mittelbar, relativiert; sie werden übertönt
durch eine neue Einheitsweltsprache, die nur noch von aktuellen und gleichzeitigen
Dingen reden möchte. Gleichzeitig können die Dinge aber nur auf dem
Weltmarkt werden, wo die Weltsprache Geld alles mit allem in Beziehung setzt.
Erst durch das Kapital kommt es zum Sieg der synchronen Beziehungen über
die traditionalen Bindungen an die Herkunft; die Tauschgegenwart drängt die
Lebensformen, die sich aus der Vergangenheit heraus verstehen, energisch zurück.
Wo das geschieht, dort müssen die mitlebenden Fremden lebenswichtiger werden
als die eigenen Toten; folgerichtig lösen sich die an den Weltmarkt angeschlossenen
lokalen Kulturen von ihren traditionellen Seinsweisen ab und richten sich mehr
und mehr auf Transaktionen mit entfernten und gleichzeitigen Partnern ein.
(Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der
ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier: S. 388-389).Die
Synchronisierung der Welt durch das Kapital treibt zwei kulturell neue Phänomene
hervor: das historisietende Museum und die aktualisierende Ausstellung. Beide
realisieren eine neue Weltidee, genauer: eine neue Form der Darstellung und Zusammenfassung
der Welt als Inbegriff von Werten; Museum und Ausstellung tragen Wertobjekte der
menschlichen Kultur an herausgehobenen Versammlungsorten zusammen und setzen sie
der kollektiven Wertschätzung aus. So wie, vom 18. Jahrhundert an, Weltgeschichtsschreibung
und lexikalische Enzyklopädie die maßgeblichen literarischen Medien
der Weltsynchronisierung wurden, so setzen sich das Kulturmuseum und die Weltausstellung
als die beiden stärksten Ideen des 19. Jahrhunderts zur Präsentierung
von Wertwelten unauthaltsam durch. Das Museum wird als Werttempel eingerichtet,
die Weltausstellung als Weltkaufhaus. Die Ausstellbarkeit der Welt hängt
in beiden Fällen unmittelbar an der Verwertung von Werten. »Welt«
überhaupt wird hier schon als Inbegriff von Leistungen, Werken und Werten
aus menschlicher Arbeit aufgefaßt, und deren Vorzeigung oder Sichtbarmachung
setzt voraus, daß ein Publikum von werthungrigen Aneignungswilligen bereit
ist, sich diesen Objekten anerkennend zuzuwenden. Als Punblikum von Käufern
und Betrachtern kann dieses sich eben dadurch formieren, daß die Dinge auf
den Markt kommen. Daher ist das berüchtigte enrichessez vous des französischen
Bürgerkönigs nicht nur ein Motto für die Bourgeoisie von einst.
Es enthält die museologische Konfession des Zeitalters, das an die Gleichung
von Werken und Werten glaubt. Ist erst die Welt durch die universelle Verwertung
synchronisiert, dann folgt die Zusammenführung der Werte im Museum und in
der Weltausstellung von selbst. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung,
1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier:
S. 389-390).Im Zeitalter der Werteverwertung
wird die Beziehung zu vergangenem Leben überall abstrakt. Zwar kommt Wert
vor allem durch die Verausgabung von lebensarbeit zugunsten austauschbarer Produkte
zustande, aber dem Produkt selbst ist seine Vergangenheit, das Lebenskolorit der
Umwelt, in der es erzeugt wurde, der Aufwand von Kunst und Mühe, die in es
eingingen, nur noch ausnahmsweise anzusehen; seine »Abstammung« spielt
für seinen Tauschwert nur noch eine untergeordnete Rolle Wert ist gewissermaßen
abstrakte Vergangenheit, neutralisierte Anstrengung, homogenisierte Arbeit. Die
Wertförmigkeit der Lebensprodukte sorgt dafür, daß die Vermächtnisse
der Produzenten vor uns auf uns übergehen können, ohne daß wir
uns ihnen durch besondere Verpflichtungen verbunden fühlen müssen. Im
Zeitalter des Werts kommen von den Toten auf uns nicht so sehr substantielle Traditionen
als vielmehr mobile konvertierbare Vermögen. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum
und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 371-397, hier: S. 390).Wenn von einem
Erbe die Rede ist, fragen wir daher zwangsläufig eher »wie viel«
als »was«. Somit ist es eine sachlich triftige und sprachlich aufschlußreiche
Formulierung, wenn Marx
schreibt: »Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten
ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen.« (Karl
Marx / Friedrich Engels, Werke, Band 8, S. 117). Für den Inhalt dieser
Revolution bietet Marx verschiedene Formeln an: zunächst, »beschleunigte
Bewegungskraft« der kapitalistischen Völker; sodann »Entfesselung
und Herstellung der modernen bürgerlichen (und der ihr konsequenterweise
folgenden sozialistischen) Gesellschaft«; schließlich »soziale
Revolution« und Neuformung der Welt durch das alleshervorbringende Proletariat.
Im Rückblick auf die marxsche Epoche scheint es uns freilich angemessener,
die Revolution des 19. Jahrhunderts als Durchsetzung der allgemeinen Verwertung
und Verwerkung der Welt zu bezeichnen. Eben dies ist der Prozeß, der zu
seinem erfolgreichen Fortgang voraussetzt, daß wir die Toten ihre Toten
begraben lassen, um frei zu sein für unsere gegenwärtigen Obsessionen:
Reichtum, Aktualität, Erlebnis. Die universelle Revolution besteht darin,
allenthalben die Bindung an die eigenen Totenvermächtnisse zu durchtrennen
und somit der Besessenheit der Lebenden durch ihre Vorfahren ein Ende zu machen.
Die Synchronisierung aller Lebenden in der gemeinsamen Zeit der universellen Tauschgesellschaft
enthält das Projekt, die Welt als Ganzes von ihrer Vorzeit abzusprengen und
sie als gesamtmenschheitlichen Großbetrieb neu zu beginnen: als Weltmarktgesellschaft,
als Menschheitsfabrik. Zum ersten Mal traut sich der Geist der Produktion einen
definitiven Sieg der Gegenwärtigkeit über das an die Vergangenheit verfallene
Leben zu. Das Produzieren und tauschen wird messianisch - es will nicht weniger,
als die lebenden von den Alp der »Tradition aller toten Geschlechter«
erlösen. Aber diese Erlösung muß aus einem prinzipiellen Grund
mißlingen (!!!). Die synchronisierte Welt der
Kapitale bleibt genauso den Toten und dem Toten verfallen, wie die ungleichzeitigen
lokalen Traditionswelten es waren. Der Wert bringt lediglich die Modernisierung
des Toten mit sich, denn er ist vergangene Produktion, abstraktes Vermächtnis,
neutralisierte Überlieferung. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es nämlich
nicht nur, wie Marx schrieb: »Arbeit überhaupt, Arbeit sans phrase«,
sondern auch »Vermächtnis überhaupt, Vermächtnis sans
phrase«. Seither haben wir es mit dem weltgeschichtlichen Novum einer
reinen wertförmigen wiederkehrenden Vergangenheit zu tun. Alles Erbe wird
.somit tendenziell guthabenförmig und anonym - reine, in der Vergangenheit
erarbeitete Verfügbarkeit. Die Toten mögen zwar nicht mehr wiederkehren,
aber das Tote geht allenthalben um als Wert, der sich erhalten und weiter verwerten
will. Aus der konkreten Besessenheit der Lebenden durch ihre Vorfahren ist abstrakte
Besessenheit durch sich verwertende Werte geworden. Deswegen hat Marx Unrecht
(!!!) zu glauben, daß die Revolution des 19. Jahrhunderts
erst »mit sich selbst beginnen« könne, wenn »sie allen
Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift« habe. In Wahrheit bringen
das 19. und das 20. Jahrhundert gemeinsam den Abergleuben an die Vergangenheit
nur auf eine höchste allgemeine Form - die universelle Wertform. Vergangen
sein heißt von jetzt an: weiterverwertbaren Wert geschaffen haben. Vergangenheit
ist nur ein anderes Wort für Wertschöpfung. Der Wert wird zum Aberglauben
sans phrase. Wo Werte systematisch verwertet werden, dort beginnt die Gespenstigkeit
im universellen Maßstab zu herrschen, die Erde wird zum Spukschloß
für die Herren in Grau. Im Namen der zu verwertenden Werte holt die Vergangenheit
aus zur durchschlagenden Rache an allem späteren Leben. Die Herrschaft des
Werts sorgt dafür, daß die Überwältigung der Gegenwart durch
abstrakte Vergangenheit planetarische Ausmaße gewinnt. Mit unaufhaltsamer
Gewalt erzeugt das Kapital einen ontologischen Treibhauseffekt auf der Erde, auf
den Konten und in den Gehirnen. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung,
1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier:
S. 391-393).Erst in diesem Kontext kann eine
philosophische Museologie das Wesen ihres Gegenstandes zur Sprache bringen. Die
Museen und die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts sind nichts anderes als
Bühnen, Märkte und Messen für die von Menschen zu allen Zeiten
und allerorts erarbeiteten »Werte«. Der Epiphanie des Werts zu dienen
- das ist die eigentliche Funktion jener fiebrigen Ausstellungstätigkeiten,
die vor allem seit der Londoner Weltausstellung von 1851 die neuere Zeitgeschichte
skandieren. .... Was Heidegger
die Zeit
des Weltbildes genannt hat, entspricht, ausstellungstheoretisch gesehen, der
Zeit der Weltausstellungen. Für die Organisatoren dieser Großveranstaltungen
bietet die Darsteilbarkeit und Ausstellbarkeit der Welt kein wirkliches Problem.
Sie bekennen sich durch ihre Arbeit zu dem Glauben, daß beim umfassenden
Zusammentragen von Waren aller Art - von Maschinen, Werkzeugen. Kunstwerken, Modeartikeln,
Architekturen und Ideen - tatsächlich alles versammelt wird, was die Welt
von heute zur Welt macht. Die Ausstellbarkeit der Welt hängt für diese
Unternehmer des Vorzeigens nur daran, daß von allem, wss zur gegenständlichen
Wertwelt gehört, mindestens ein Exemplar auf der Messe vertreten ist - wie
auf einer kapitalistischen Arche Noah. Die Weltausstellung ist ein Platonischer
Ideenhimmel, eine Vollversammlung der Werte, an ihr nimmt teil, was auch immer
als Mobilie auf die Resie geschickt werden konnte. An diesen Riesenspektakeln
läßt sich eines deutlich erkennen: daß nicht das Museum die Ausstellung
macht, sondern die Ausstellung das Museum. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum
und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 371-397, hier: S. 393-394).Erkennbar,
daß die Kapitalisierung und die Inventarisierung der Welt weitgehend parallele
Prozesse sind. Die Warenwelt wirft auf alles Übrige ihren Schatten und zwingt
ihm die Seinsweise des zumindest Wissenswerten auf. Sachwert, Marktwert und Wissenswert
spiegeln sich ineinander. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung,
1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier:
S. 395).Nicht umsonst sind wir seit den 1970er
Jahren unterwegs zum Museum der Museen. .... Wer aber geglaubt hätte, daß
... das Nachdenken über die Ausstellbarkeit der Welt erkennbare Fortschritte
machen müßte, würde von dem Ergebnis ... grob enttäuscht.
Durch bloße Anwendung der Ausstellung auf sich selbst wird das Wesen des
Ausstellens nicht erhellt, und das Problem des Ausstellens von Welt wird durch
eine bilderwütige Geschichte der Weltausstellungen eher noch weiter verstellt
als bisher. Hieran ist freilich nichts Erstaunliches: Kein Betrieb kann seine
eigene Unterbrechung wollen. Das Exponieren der Wertobjekte und das Anslichtstellen
der Exponate bleibt auch weiterhin das Dunkelste im Ausstellungsbetrieb - so wie
die Herstellung von Sichtbarkeit sich hartnäckig als das Unsichtbare im »phototechnischen«
Prozeß behauptet. Die Ausstellung als Veranstaltung von Evidenzen ist ein
Vollzug des von Heidegger
so genannten neuzeitlichen Gestells
und die füllige Besinnung über das Gestell muß unweigerlich zur
Infragestellung auch des Ausstellens führen. Was ist Aletheia
in der Welt der Weltausstellungen? Was bedeutet Unverborgenheit im Zeitalter ihrer
technischen Reproduzierbarkeit? Was hat das Ausstellen von Welt mit dem Weltaufgang
selbst zu tun, in den wir als Zurweltkommende hineinblinzeln wie Neugeborene ins
Licht? Welche Kraft ist es, die uns in dieser Welt als Ausstellung und Museum
zum Ausgang drängt, als gäbe es irgendwo »draußen«
etwas, das frei wäre vom Vorzeigenzwang und vom Gedränge der Stellplätze?
(Peter Sloterdijk, Weltmuseum und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der
ästhetische Imperativ, 2007, S. 371-397, hier: S. 395-397).Es
gibt für uns wohl kein wirkliches Draußen. Was uns verbleibt, ist ein
Platz auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen dem Museum und
seinem Gegenteil, und nur auf ihr, zurückschauend auf die aufgegangene und
ausgestellte Welt und vorausblinzelnd in ein allesermöglichendes Nichts,
erkennen wir uns als Einwohner des Unvortsellbaren. (Peter Sloterdijk, Weltmuseum
und Weltausstellung, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 371-397, hier: S. 397). Seit 2 Jahrhunderten ist
die Verbürgerlichung der Gier im Gang. Sie hat nach dem Großbürgertum
auch den Mittelschichten eine neue Sinnlichkeit erschlossen. Der Wertmagnetismus
versetzt inzwischen ein wahrnehmbares Publikum in eine kleine Hitze. Wer jemand
sein will, eröffnet in seinem Innern ein Konto für die Kunst.
(Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 405-425, hier: S. 405-406).Vor dem Aufbruch
der Moderne war im Gesamtbestand der Welt die Zahl der Dinge, die als Menschenwerke
angesprochen werden konnten, sehr gering. .... Die mächtigsten Zeugnisse früher
hochkultureller Werkmacht, die Sakralbauten, sind technische Antworten auf die
Ideen des Heiligen und der Majestät gewesen. (Peter Sloterdijk, Die
Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 405-425, hier: S. 407).Im Modernisierungsprozeß
wird prinzipiell alles ausstellbar, was in den säkularen Prozessen zur Steigerung
des Herstellbaren eine Rolle spielte. .... Auch Landschaften und Lebensräume
sind schon zu Exponaten erklärt worden. Die ganze Gesellschaftsstruktur strebt
ins Museum. (Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 405-425, hier: S. 410).Wenn
das moderne Ausstellen per se die Selbstanzeige einer Werkmacht darstellt, so
wird ... der Umfang des Ausstellbaren durch eine zweifache Revolution der Künste
gesprengt: einerseits durch die radikale Selbstbefreiung des Ausdrucks und der
Konstruktion, andererseits durch die unaufhaltsame Erweiterung des Kunstbegriffs.
Mit ihren didaktischen Verbiederungen und kunstpolitischen Verbreitungen zusammen
ergeben diese beiden Sprengungen einen gemeinsamen Effekt: eine ... Tendenz zur
Steigerung von Beliebigkeit. Verstehbar wird die zeitgenössische Austellungs-
und Messekultur nur als ein kunstorganisatorisches System zur Verarbeitung ästhetischer
Beliebigkeit bei deren Annäherung an den Höchstwert. Seine Leistung
ist es, die Fluktuationen der modernen Kunst hermeneutisch, museologisch und merkantil
so zu bearbeiten, daß die Steigerung von Beliebigkeit mit der Selbstfeier
der Werkmächtigkeit koexistieren kann. Alle traditionellen Werk-Parameter
können revolutioniert werden; was fest bleibt, ist die Konvertierbarkeit
von Werkform und Wertform. .... Die Gleichung von Werk- und Wertform ist rein herausgearbeitet. .... Die Werke werden als ästhetische Aktien ausgestellt. .... Zuletzt muß
alles in Kunst verwandelt sein, was vom Leben der Künstler berührt wurde.
König Midas ist überall. Wenn es juristisch möglich gewesen wäre,
hätte Andy Warhol ganze New Yorker Straßenzüge, die er durch sein
Hindurchspazieren in Kunstwerke verwandelt hatte, an finanzstarke Sammler verkauft.
(Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 405-425, hier: S. 411-412).So kommt es,
daß sich die moderne Kunstausstellungskunst in ihrer Tautologisierung festschraubt:
Das Herstellen von Kunst dreht sich um ein Ausstellen von Kunst, das sich um ein
Herstellen von Ausstellungen dreht. (Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet
sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S.
405-425, hier: S. 413-414).Die Selbstaufstellung von Messen, Museen,
Galerien ist der Selbstoffenbarung der Werke zuvorgekommen; sie hat den werken
die Seinsweise der Selbstreklame aufgezwungen. Seither müssen Werke selbstapplaudierend
sein. In der Reklame besitzt die Aletheia
ihren äußersten Vorposten. .... Sicher ist nur: Kein Bild kann noch
so viel bedeuten wie der wiederverwendbare Haken, an dem es vorübergehend
hängt. (Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 405-425, hier: S. 415).Menschen
erweisen sich ... als Wesen, die Glücksvoraussetzungen herbei- und Unglücksgründe
beiseitezuschaffen vermögen; sie haben zudem das Glück, ihr Unglück
ausdrücken zu können. Diese dreifache Können wirkt selbst als unmittelbare
Gunst; wer an ihm teilhat, ist Partner in der menschlichen Allianz gegen die Unglücksgewalten.
Was kann die Kunstmessenkunst heirvon noch wissen? Sie ist dazu verurteilt, die
Verbindung zwischen Werkmächtigkeit und Glücksversprechen in der Tiefe
zu durchtrennen. Ein Werkausstellungswerk kennt ja kein anderes Glück mehr
als das, den Sprung in die große Ausstellung zu schaffen. Unter dem Gesetz
der Gleichung von Werk- und Wertform zweigt es sich einen Privatanteil vom unermeßlichen
Glücksvermögen menschlicher Werkmacht ab - eben den Anteil an Herstellungsmacht,
der hinreicht, um das Werk in Zirkulation zu bringen. Das Glück, das es sucht,
ist das, ausgestellt, gehandelt und hochinterpretiert zu werden. .... Vom Magnetismus
des Glücks hängt letztlich die Ausstrahlungsfähigkeit des modernen
Könnens ab. .... Kunst ist die antigrave Tendenz, sie überschreitet die
Schwelle vom Du-mußt zum Du-kanst. Daher hat sie den Ernst der großen
Erleichterungen. (Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, 1989,
in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 405-425, hier: S. 415-416).Im
Inneren der Werkmächte selbst ist eine Spaltung aufgeklafft, sie sich fortwährend
vertieft. Die Kunst sieht in der Virtuosität nicht mehr ihre absolute Voraussetzung.
Das Genie betrachtet den Ingenieur nicht mehr als notwendigen Partner bei allen
Unternehmungen. Die artistischen Kräfte erkennen in der technischen Beherrschung
der Mittel nicht mehr den natürlichen Verbündeten. (Peter Sloterdijk,
Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 405-425, hier: S. 418).In dieser Umformung der Allianzen
verändert auch das Ausstellen seinen Sinn. Es scheint, als könne man
heute nur noch Zweitbestes zeigen. .... Wie können Werke bekennen, daß
sie nur noch Epizentrum von etwas Besserem sind? (Peter Sloterdijk, Die
Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 405-425, hier: S. 419).Die Kunst faltet sich ein. Das
ist nicht gleichbedeutend mit einem Rückzug ins Eigenheimliche, weltlos Höhlige.
Die Kunst verkleinert jedoch ihre Weltfront, reduziert ihre Kontaktfläche
zum übrigen Betrieb. Sie tritt von der Ausstellungsfront einen Schritt zurück.
Sie prüft sich, ob sie gut beraten war, stets in die vorderste Linie der
Sichtbarkeiten zu stürzen. Sie denkt über ihre Allianz mit den musealen,
galeristischen, publizistischen Veröffentlichungsmaschinen nach. Sie läßt
die Frage zu, ob Glücksbezeugung und Vornesein dasselbe bedeuten können.
In alledem gibt sie zu verstehen, wie sei teilnimmt am epochalen Selbstzweifel
der Werkmächte. Indem sie sich selber einfaltet, wird sie Mitwisser von der
Krise des Menschengemachten. Was hieße es, jetzt Werke vorzubringen an die
Ausstellungsfront, wenn doch die Zeit der Selbstbefragung des Herstellens gehört?
Wie sollte man das Glück des Machenkönnens simulieren, wenn doch seit
langem deutlich wurde, wie die Freiheit zum werk überrolt wurde von dem Zwang,
Kräfte ins Werk zu setzen und Werte zu verwerten? (Peter Sloterdijk,
Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 405-425, hier: S. 419-420).Jetzt heißt es, die Kunst
geht zur Seite, die Kunst faltet sich ein. Sie geht zur Seite, indem sie sich
einfaltet. Sie faltet sich ein, indem sie zur Seite geht. Sie zeigt nur noch wenig.
(Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 405-425, hier: S. 420).Das Werk bleibt
zusammengefaltet, in sich eingerollt, in sich geheftet, gleicham geschlossen. .... Die Gegenwart des Werks ist weder die Gegenwart seines Werts noch dessen,
was es an Sichtbarem enthält. .... In einigen Fällen ist die Einfaltung
so dicht, daß man sich nicht einmal davon überzeugen kann, ob in den
Behältern wirklich Werke liegen. Man schwankt unwillkürlich zwischen
zwei Hypothesen: Drinnen ist etwas, drinnen ist nichts. (Peter Sloterdijk,
Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische Imperativ,
2007, S. 405-425, hier: S. 421).Können Künstler aus der
Kunst austreten, ohne ihren Austritt wieder als Kunstwerk auszustellen? (Zuvor
ist eine andere Frage noch viel wichiger: Sind diese »Künstler«
wirklich Künstler? HB). .... Beuys hatte mit seiner Austrittserklärung
den avantgardistischen Traum von der Aufhebung der Kunst ins Leben fortgesponnen.
Für seine Person und seine Zeit hat er damit behauptet, daß es etwas
gebe, was allgemeiner und zugleich intensiver sei als künstlerische Kunst.
Vielleicht muß man als Künstler scheitern können, um als Helfer
des Glücks voranzukommen. Vielleicht müssen sogar die Werkmächte
selbst ruhen wie allzu lange schon zu stark ausgebeutete Böden. (Peter
Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, 1989, in: Ders., Der ästhetische
Imperativ, 2007, S. 405-425, hier: S. 423).Sich in sich einfalten
und nicht in Höchstform in die Kunstgeschichte eingehen - das ist für
bedeutungshungrige Kunstwerke das Kunststück, auf das sie am wenigsten vorbereitet
waren (und immer noch sind! HB). .... Die Kunst
liegt brach. (Peter Sloterdijk, Die Kunst faltet sich ein, 1989,
in: Ders., Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 405-425, hier: S. 424). Wenn man die
Darstellung des Bösen in der Kunst und auch das Böse für
die Kunst ins Auge faßt, also die Anfechtung der Kunst durch die Risiken
der Einbildungskraft, die Gefahr des Nichtigen und des Nichts, so gerät das
Selbstverständliche leicht aus dem Blick: die tiefsitzende Grundüberzeugung
nämlich, daß die Kunst mit der Idee des Guten verbunden sei. Sie ist
gut, so heißt es, weil sie das Kunststück fertigbringt, die Schönheit
wahr und die Wahrheit schön erscheinen zu lassen. So lautet die Formulierung
Hegels, der sich dabei auf eine mächtige Tradition berufen kann. (Rüdiger
Safranski, Rechtfertigung
der Kunst in einer bösen Welt, in: Ders., Das Böse oder:
Das Drama der Freiheit, 1997, S. 232).Zu dieser Grundüberzeugung,
die so tief sitzt, daß man sich kaum Rechenschaft darüber abgibt, gehört
auch die Auffassung, daß die Kunst eine nützliche Rolle in der Ordnung
der Welt spielen sollte. Sie gilt als »gut«, sofern sie Gutes bewirkt.
Die Kunst soll also nützlich sein, um ihre Daseinsberechtigung zu erweisen.
Im Hintergrund wirkt ein Rechtfertigungszwang. Die Kunst sieht sich mit der Frage
nach ihrer Daseinsberechtigung in einer Welt konfrontiert, die aus welchen Gründen
auch immer im Argen liegt. Die Kunst wird in die Verantwortung für das Ganze
genommen, damit es gut werde. Und nur dann ist auch sie selbst - gut. (Rüdiger
Safranski, Rechtfertigung
der Kunst in einer bösen Welt, in: Ders., Das Böse oder:
Das Drama der Freiheit, 1997, S. 232).Schon Platon hatte darüber
nachgedacht, ob es in seinem idealen Staat überhaupt Kunst geben dürfe,
und wenn, wie sie auszusehen habe. Der Platonismus stellt auch ein Konzept zur
politischen Bewirtschaftung der Kunst dar. In moderner Zeit, da die Politik noch
nachhaltiger zum »Schicksal« geworden ist, haben die Versuche zur
politischen Instrumentalisierung der Kunst nicht nachgelassen. Kunst wird, auch
ohne ideologische Bevormundung, unter das Kriterium der sozialen Nützlichkeit
gestellt und in die Verantwortung genommen. Die Künstler haben sich diesem
Ansinnen sozialer Nützlichkeit gebeugt oder es von sich gewiesen, gleichgültig
jedenfalls konnten sie nicht bleiben. (Rüdiger Safranski, Rechtfertigung
der Kunst in einer bösen Welt, in: Ders., Das Böse oder:
Das Drama der Freiheit, 1997, S. 233). Wo
die »Partei des Elends« siegte, wurde sie bekanntlich zur Macht der
totalen politischen Bewirtschaftung der Gesellschaft, und die Künstler, die
dabei mitwirkten oder sich einnehmen ließen, handelten - wie das Beispiel
des realen Sozialismus zeigte - nicht durchweg aus Machttrieb, Opportunismus oder
Angst, sondern standen auch unter der Suggestion ihres sozialen Gewissens. Der
politisch-moralische Utilitarismus hatte sie fest im Griff. Sie waren erpreßbar.
(Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 235).Daß
die Kunst unter dem Druck der politischen und sozialen Selbstrechtfertigung immer
wieder bereit ist, sich ein politisches und soziales Gewissen zu machen oder machen
zu lassen, zeigt auch das Beispiel der 68er Bewegung. Manche verkündeten
damals den Tod der Literatur aus Gründen des politisch-moralischen Utilitarismus.
In Vietnam, so hieß es, werden Kinder mit Napalmbomben verbrannt, deshalb
sei Kunst Lüge. Angesichts der Verpflichtung für das sozial Gute sei
für das Schöne keine Zeit und kein Platz. Kunst verleite zur falschen,
jedenfalls aber voreiligen Versöhnung. Man muß sich vor ihren milden
Stimmungen hüten, gerechtfertigt sei sie nur in ihrer Agitpropform. Literarisch
hieß das: Straßentheater, Flugblatt, Reportage. Damit ist es vorbei.
Geblieben aber sind die milderen Varianten, die Sozial- und Politikverträglichkeit
der Kunst zu bedenken und einzufordern. (Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 235-236).Wenn
die Kunst in einer Welt voller Übel wohl oder übel ihre Existenzberechtigung
erweisen muß, liegt die Versuchung nahe, aus der Rolle des Angeklagten in
die des Anklägers überzuwechseln und ihr »gesellschaftskritisches«
Potential vorzuweisen. Sie verteidigt sich mit dem Gedanken, daß die Kunst
mit den Übeln in der Welt unter folgenden Voraussetzungen koexistieren kann:
daß erstens diese Übel ausdrücklich zum Thema gemacht werden,
daß man zweitens nicht so zu tun braucht, als könne man sie allein
durch die Kunst abschaffen, woraus drittens die Verpflichtung zur ohnmächtigen
Sympathie mit der Ohnmacht folgt. Die schwache Stimme der Kunst soll zur Stimme
der Schwachen werden. (Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 236).In der
Schule der ästhetischen Theorie Adornos gibt es einen besonders subtilen
Versuch, die Wahrheit und Würde der Ohnmacht zu bedenken. Gemäß
dieser Reflexion findet gelingende Kunst eine nichtkorrumpierte Sprache für
das Leiden an der Gesellschaft. Sie hält in einer unversöhnten Welt
den Anspruch auf Versöhnung fest, nicht als Botschaft, sondern in der inneren
Logik des künstlerischen Gebildes. Das soziale Gewissen, das auf die Theodizeefrage
(sie lautet ungefähr so: Wie läßt sich
angesichts der Übel in der Welt die Existenz Gottes überhaupt denken?
Auf die Kunst übertragen: Wie läßt sich angesichts der Übel
in der Welt das luxurierende Unternehemen der Kunst rechtfertigen? HB)
empfindlich reagiert, wird zum künstlerischen Gewissen. Demzufolge kann Kunst
mit dem Leiden in der Welt koexistieren, wenn die Künstler bereit sind, unter
den strengen Anforderungen ihrer Kunst zu leiden. (Rüdiger Safranski,
Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 236).Wenn
das Ganze das Unwahre ist, wie Adorno erklärt, dann wird die Kunst nur »wahr«
werden können, indem sie sich vorbehaltlos in ihre eigene Besonderheit, in
ihre »Logik« vertieft. Dann wird sie unter der Voraussetzung, daß
sie nicht fremden Zwecken dient, sondern sich selbst Zweck bleibt, dem Anspruch
von Humanität gerecht werden können. (Rüdiger Safranski,
Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 236-237).Die
Versuche, die Kunst in den Dienst des Humanen zu nehmen, haben eine lange Geschichte.
Es ist nicht nötig, sie in allen ihren Stationen zu erzählen. Nur eine
Argumentationsfigur soll genannt werden, weil sie wirkungsmächtig geblieben
ist und nicht nur von den Theorien über die Kunst, sondern auch von Künstlern
favorisiert wurde und wird. (Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 237).Schiller
erklärte: Der Mensch ist erst dort wahrhaft Mensch, wo er spielt. Die Kunst
ist Spiel. Also kommt der Mensch erst in ihr zu seiner Wahrheit. Und Richard Wagner
verkündete: Der Daseinszweck ist ein künstlerischer, denn das Schöpferische
ist das wahrhaft Menschliche. Schiller und Wagner weisen darauf hin, daß
es gesellschaftliche Bedingungen gibt, die der Entfaltung des Schöpferischen
entgegenstehen, weshalb man die Gesellschaft umwälzen muß - der Kunst
zuliebe, genauer: damit jeder das Schöpferische in sich entdecke und entfalte.
Das ist eine Argumentation, die den politisch-moralischen Utilitarismus ins Herz
der Kunst setzt. Aber es gibt hier einen blinden Fleck. (Rüdiger Safranski,
Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 237).Die Behauptung,
das Spiel der Kunst sei ein Daseinszweck, vielleicht sogar der höchste, mag
plausibel sein. Jedoch läßt sich die Forderung, jeder solle in den
Genuß dieser Tätigkeit kommen, nur begründen durch ein zusätzliches,
damit nicht notwendig verbundenes Prinzip: das der Gerechtigkeit und der Gleichheit
nämlich. Wie wenig selbstverständlich dieses Prinzip im künstlerischen
Bereich eigentlich ist, merkt man, wenn man den Willen zur Einmaligkeit im künstlerischen
Schaffen berücksichtigt. Wenn alle, wie es sich zum Beispiel Beuys vorstellte,
Künstler würden, wenn also die Demokratisierung der Kunst in diesem
Sinne gelänge, wäre im selben Augenblick die Kunst entwertet, denn sie
lebt von der Differenz zur Nichtkunst. Wenn jeder Künstler ist, ist es keiner
mehr. (Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 237-238).Das
Bewußtsein der Einmaligkeit gehört zu den produktiven Voraussetzungen
des Künstlers. Das bindet ihn an einen heimlichen oder unheimlichen Aristokratismus,
der in Schwierigkeiten gerät bei der demokratischen Vergesellschaftung der
Kunst. (Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 238).Das hat
wohl keiner so deutlich empfunden und ausgesprochen wie Friedrich Nietzsche, der
nicht zuletzt aus Gründen der ästhetischen Lebensgestaltung seine radikale
Absage an das demokratische Prinzip formulierte, Mit dem Satz »Nur als ästhetisches
Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« hatte Nietzsche
seine beispiellose Rangerhöhung der Kunst und des ästhetischen Lebensentwurfes
begründet. Er hatte die künstlerische Praxis zum Paradigma des gelingenden
Lebens erhoben und ihr jenen Ort zugewiesen, der einst der Religion vorbehalten
gewesen war. Kunst war für ihn das Gegengewicht zur utilitaristischen Entzauberung
der Welt. Nietzsche hatte die Künstler und Lebenskünstler zu einem überschwenglichen
Autonomiebewußtsein ermuntert. Das »L'art pour l'art« sollte
nicht nur für die Kunst, sondern für das ästhetisch gestaltete
Leben selbst gelten. Der ästhetische Mensch hat nach Nietzsche geradezu die
Pflicht zur Rücksichtslosigkeit. Er soll sich nicht durch Mitleid und durch
das davon abgeleitete Bewußtsein der sozialen Verantwortlichkeit herunterziehen
und schwächen lassen. Er ehrt vielmehr die Menschheit, indem er sich selbst
zur Persönlichkeit formt, und nicht dadurch, daß er Solidarität
mit den »Allzuvielen« übt. Ausdrücklich setzt Nietzsche
den ästhetlschen Menschen in einen Gegensatz zum moralichen. Wenn er behauptet,
die Welt sei nur als »ästhetisches Phänomen« gerechtfertigt,
bedeutet das: Ihr Sinn liegt darin, daß sich das Leben in einigen gelungenen
Exemplaren aufgipfelt. Nicht das Glück und Wohlergehen der größtmöglichen
Zahl, sondern das Gelingen des Lebens in einzeinen Fällen ist der Sinn der
Weltgeschichte. (Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 238).Für
Nietzsche ist die soziale Demokratie und die ihr entsprechende Kulturgesinnung
eine Angelegenheit der verächtlich so genannten »letzten Menschen«.
Er wirft die Ethik und Ästhetik einer allgemeinen Wohlfahrt über Bord
und etabliert statt dessen eine Ethik und Ästhetik der Selbstgestaltung eines
großen Individuums. Nietzsche ersetzt das »Wohlwollen ohne Ansehen
der Person« durch das Prinzip der Begünstigung des singulären
Gelingens von Lebensentwürfen und Lebenswerken. (Rüdiger Safranski,
Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 239).Der demokratische
Staat mit seiner Orientierung an allgemeiner Wohlfahrt, ausgleichender Gerechtigkeit
und Schutz der Schwachen behindert, aus der Perspektive Nietzsches, die Entwicklungsmöglichkeit
großer Persönlichkeiten. Damit verschwindet der noch verbleibende Sinn
aus der Geschichte. Weil er diesen Restsinn in der Geschichte verteidigt, greift
er die Demokratie an und verkündet, es komme darauf an, die »gänzliche
Vergutmüthigung des demokratischen Heerdenthiers« wenigstens zu »verzögern«.
Der Zusammenhang zwischen den Ideen der Selbststeigerung und der Solidarität
ist bei Nietzsche zerrissen. Für ihn bedeutet das wohlfahrtstaatlich organisierte
Leben ein Triumph des menschlichen Herdentiers. Das läßt ihn »unzeitgemäß«
erscheinen vor dem Hintergrund jenes Theodizeetribunals, das von der Kunst fordert,
sie müßte an der Anstrengung teilnehmen, diese Welt besser einzurichten.
(Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 239).Allerdings
ist der politisch-moralische Utilitarismus, welcher die Kunst auf den Kampf gegen
die Übel der Welt verpflichten will, schwächer geworden und dem ziemlich
moralfreien Effektivitätsdenken im Sinne des Marktes gewichen. Im Zeichen
eines Denkens, das um den »Wirtschaftsstandort« kreist, muß
die Kunst eher ökonomische als moralische Nützlichkeit nachweisen. Der
Nutzen, ob moralisch oder ökonomisch, realisiert sich in der massenhaften
Wirkung. Der Wille zu solcher Wirkung ist nicht so selbstverständlich, wie
es den Anschein hat, er ist vielmehr eine moderne Obsession. Es gab ja eine Zeit,
in der die Ausdrucksbeziehungen zwischen dem Künstler und seinem Werk oder
zwischen dem Werk und dem, was Gott oder Geist genannt wurde, maßgeblich
waren. Das Publikum konnte dazukommen oder auch nicht. Es war gleichsam Zaungast
dieser Beziehung. Die Kalkulation auf Publikumswirkung war eher anrüchig,
das Wertvolle sollte vor breiter Aufmerksamkeit sogar geschützt werden. In
der modernen Medienkultur aber ist das Kriterium der Massenwirksamkeit entscheidend,
hier gilt der Satz: Was nicht wirkt, gibt es nicht. In den zwanziger Jahren wurde
für diese Wirkungsbesessenheit der Begriff der »totalen Mobilisierung«
geprägt. Auch die Kunst soll mobilisieren oder sich mobilisieren lassen.
Dabei gerät sie leicht in ein Dilemma. Will sie sich nützlich, wirksam,
verkäuflich erweisen, droht ihr der Selbstverrat. Bewahrt sie ihren Eigensinn,
kann es geschehen, daß sie auch als moralisch unverantwortlich gilt.
(Rüdiger Safranski, Die
Versuchungen der Kunst: die Moral, die Macht, der Markt, in: Ders., Das
Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 239-240).
 Die
Erfindung des Museums ist faustisch, folglich muß in Fausts Heimatort Knittlingen
auch ein Faust-Museum zu finden sein. 
Faust-Museum in Knittlingen 
|