1597) Hubert
Brune, 06.12.2021 (8580-8581)
Danke für Ihren Eintrag, Herr Heermann (**).
Aus der Sicht der Natur
mag es eine Vergeudung sein, wenn die Ansammlung von Wissen und Kenntnis
sich nur auf jeweils einen Menschen bezieht; nur kann die Natur nicht
sehen, hat also keine Sicht und kann weder verstehen noch
deuten. Sie müßte schon selbst ein Mensch sein, um über
die Ansammlung von Wissen und Kenntnis in einem Einzelnen wirklich urteilen
zu können.
Weil heute Nikolaustag (6. Dezember) ist, seien zwei Namen erwähnt:
Nicolai Hartmann
(1882-1950) und Niklas Luhmann
(1927-1998), denn die Vornamen dieser beiden Herren mögen an den
heiligen Nikolaus erinnern. Sie seien aber auch erwähnt, weil ich
auf den Sinn des Sinns, die Bedeutung des Sinns und das Vorkommen von
Sinn zu sprechen kommen möchte, denn auch Nicolai Hartmann und Niklas
Luhmann haben sich damit ziemlich eingehend beschäftigt.
Hartmanns Schichten
innerhalb
der realen Sphäre (1, 2, 3, 4)
und der idealen Sphäre (0) |
|
Hartmanns Schichtenlehre zufolge gibt es Sinn nur oberhalb
der organischen Schicht (**);
Luhmanns Systemtheorie zufolge gibt es Sinn
nur in den Sinnsystemen (**),
was der Aussage Hartmanns im Grunde gleichkommt. Organisch
ist jedes Lebewesen, und Lebewesen ist hier so gemeint, wie
es die Biologen verstehen. Das Anorganische, das Seelische und das Geistige
sind hier also nicht gemeint. So jedenfalls hätte Hartmann das jetzt
- sinngemäß (!) - gesagt. Und auch die seelische Schicht reicht
nicht aus, um an sich selbst oder anderen (geschweige denn der Natur)
Vergeudung festzustellen. Man braucht dazu schon die geistige
Schicht, und zwar innerhalb ihrer nicht eine der niederen Stufen (die
auch höhere Tiere schon erreichen), sondern schon eine
oberhalb dieser. Denn eine Voraussetzung für das Urteil Vergeudung
ist ja das Wissen um Rationalität, um Mathematik, um Ökonomie,
um so etwas wie Oikos (Haushalt[ung]). Eine Ahnung darüber
reicht nicht aus. Davon mal gehört zu haben, aber
dennoch dessen Bedeutung, dessen Sinn, nicht zu kennen, bedeutet eben
auch nur, daß das nötige Wissen fehlt. Wer meint, dieses Wissen
nicht zu benötigen, da eine Meinung, noch dazu eine gelenkte, ausreiche,
läßt es ebenfall an diesem Wissen fehlen, hat aber den Vorteil
(sofern es einer ist), eine Vergeudung bei sich selbst nicht feststellen
zu können.
Und Luhmann hätte das jetzt - sinngemäß (!) - ebenfalls
gesagt. Auch er sah die Grenze zwischen den Nichtsinnsystemen und den
Sinnsystemen dort, wo die Grenze zwischen dem Organischen und dem Seelischen
zu finden ist. Nur nannte er das Organische nicht das Organische,
sondern lebende Systeme, und das Seelische nicht das
Seelische, sondern psychische Systeme. Und das Geistige,
um das es uns hier geht, nannte er nicht das Geistige, sondern
kommunikative Systeme, soziale Systeme bzw. kommunikative
Wirklichkeiten, Gesellschaft, womit aber auch nur Teile
des Geistigen gemeint sind. Das Geistige: die höchste bzw. komplexeste
Schicht unter den realen Schichten, wie sie Hartmann verstand; die komplexesten
Systeme unter allen Systemen, wie sie Luhmann verstand.
Luhmanns Systeme |
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Meine Systeme |
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Luhmann zufolge ist das Wirtschaftssystem das komplexeste, aber dieses
komplexeste System befindet sich bei ihm ja innerhalb des Gesellschaftssystems
(bestehend aus kommunikativen Systemen, sozialen Systemen
bzw. kommunikativen Wirklichkeiten), was nahezu identisch
ist mit der geistigen Schicht als der komplexesten und höchsten Schicht
bei Hartmann. Luhmanns Begriff der Gesellschaft und Hartmanns
Begriff des Geistigen sind in meinem Begriff der Sprache
enthalten. Und das, was bei Hartmann als das Seelische und
bei Luhmann als die psychsischen Systeme gilt, das verteilt
sich bei mir zum einen auf die ökonomischen Systeme und
zum anderen auf die semiotisch-linguistischen Systeme. Da
Sie das Ökonomische angesprochen haben, Herr Heermann, sei hier besonders
darauf eingegangen. Unter Ökonomie verstehe ich hier
nicht ein hochentwickeltes System, wie es der menschliche Geist nur erschaffen
kann und deshalb bei mir auch unter dem firmiert, was Hartmanns Ontologie
zufolge das Geistige, Luhmanns Systemtheorie zufolge der höchste
bzw. komplexeste Bereich der Gesellschaft bzw. Kommunikation und meiner
Gesamttheorie (Philosophie - also einschließlich Ontologie) zufolge
der logisch-mathemantische als der höchste höchste bzw. komplexeste
Bereich der Sprache ist. Ich verstehe hier ein ökonomisches Seinsverhältnis
im ureigentlichsten Sinne, in dem nicht nur das Ökologische berücksichtigt
ist, sondern auch die Haushaltung (altgriechisch: Oikos),
zu der Be-, Für-, Um- und Versorgen, kurz die Sorge (im Sinne Heideggers
verstanden) gehört: ein Lebewesen braucht eine Umwelt oder ist der
Welt ausgeliefert, wie es der Mensch ist (vgl. das In-der-Welt-Sein
[Heidegger]); es muß sich Nahrung beschaffen, Nachkommen haben,
mit den topographischen Verhältnissen in seiner Umwelt vertraut sein
u.s.w. - kurz: sein Organisches (Biologisches), auf dem es ja ruht (vgl.
Hartmann), muß mit dem, was es umgibt, in Beziehung gesetzt sein,
aus dem Organischen muß eine Organisation geworden sein, und zwar
eine, die sich mit der Natur noch verträgt, aber dennoch schon zur
Kultur gehört, genauer gesagt: zur Kultur im Sinne der Natur-Kultur.
Auf zwei Welten (Natur [Körper]
und Kultur [Geist]) mit zwei Übergängen
basierende acht kleinere Welten mit acht Übergängen,
wobei man sich das Ganze (die eine Welt) auch als Spiralbewegung
in zwei Richtungen (siehe Abbildungen) vorstellen sollte.
Diejenige Ökonomie, wie sie heute vornehmlich gelehrt und präsentiert
wird, ist nur ein Teil der Ökonomie, die ich oben beschrieben
habe (die bei allen Lebewesen auf die Umwelt, bei Menschen zusätzlich
auf das In-der-Welt-Sein zurückgehende fundamentale Organisation
[Sorge {bei Heidegger}] ihres Daseins), d.h. sie gehört dieser als
Teil der Sinnsysteme (**)
und damit der Kultur an, nur eben als ein späterer, andersgerichteter
Teil, weil nun der Geist als die höheren sprachlichen
Schichten bzw. Systeme (**)
im obigen Sinne sich einmischt, die Ökonomie beeinflußt,
d.h. geistig überformt, indem er eine oder mehrere Zweckursachen
setzt (vgl. Finalität, Finalnexus) und es danach aus Sicht
eines naiven Beobachters so aussieht, als liefe die Ökonomie rein
kausal ab, was aber nicht stimmt, denn die von ihm beobachtete
Kausalität ist keine natürliche, sondern eine geistige,
also eine Finalität.
Dies gilt, sobald der Geist erschienen ist, für die gesamte reale
Welt und also auch für alle acht Teilwelten. Auf der einen Seite,
die ich in Anlehnung an Walter A. Koch Genese genannt
habe (**|**|**|**),
zeigt sich die reale Welt ohne geistigen Einfluß, und auf
der anderen Seite, die ich in Anlehnung an Walter A. Koch Metagenese
genannt habe (**|**|**|**),
zeigt sich die reale Welt mit geistigem Einfluß. Betont sei
hier, daß zum Geist auch z.B. Wissenschaft, Kunst und Technik gehören,
daß er alle Bereiche, also auch sich selbst beeinflußt.
Die Natur kennt nicht Physik, Chemie, Biologie und die anderen
Bereiche, schon gar nicht so, wie der komplexe Geist sie kennt. So weit
wir wissen, gibt es den komplexen Geist nur als menschlichen Geist, und
nur er beeinflußt die Natur in dem oben genannten Sinne: Zweckursache
(vgl. Finalität, Finalnexus). Alle anderen Lebewesen beeinflussen
die Natur entweder lediglich auf eine nicht sinnhafte, d.h. natürliche
Weise oder auf eine zwar schon sinnhafte, aber noch planlos ökohafte
Weise, wie oben beschrieben.
Wie gesagt: Von der Natur her ist Ökonomie Fundamentalökonomie,
d.h. Organisation im Sinne der Art und Weise des Besorgens (z.B. der Nahrung
für den Stoffwechsel und damit Selbsterhalt) und Versorgens (z.B.
der Nachkommenschaft), bei höheren Lebewesen auch der Fürsorge
(Aufzucht, Pflege u.s.w.), und zwar entweder nur innerhalb einer Umwelt,
an die sich angepaßt werden muß, oder aber sowohl innerhalb
einer Umwelt, an die sich nur zum Teil angepaßt werden muß,
nämlich auf jene natürliche Weise, als auch innerhalb der Welt,
an die sich auf nur kulturelle Weise angepaßt werden muß,
was eine Distanzierung von der natürlichen Umwelt so weit wie möglich
bedeutet, wie es bei den Menschen, den Luxus-Lebewesen, üblich ist
- dank ihrer geistigen Fähigkeiten.
Von Vergeudung kann man also im Zusammenhang mit
der Natur (dem Anorganischen und dem Organischen) nur dann sprechen, wenn
man die Natur, die an sich sinnlos ist, versinnlicht. Didaktisch ist das
sinnvoll, die Natur selbst aber ist sinnlos. (Wer kennt den Sinn der Natur?
Finger hoch!)
Es bleibt im Spekulativen, wer z.B. die Sterne versinnlicht, vergeistigt,
vermenschlicht, vergöttlicht, im Sinne der Teleologie, Finalität
bzw. Determiniertheit deutet, etwa nach dem Wahlspruch: Sterne haben
den Sinn, uns Menschen hervorzubringen. Nur unter der Voraussetzung,
daß bekannt ist, was erkannt ist, d.h. nur von einer hochgeistigen
Perspektive aus ist die Aussage sinnvoll, die Natur sei vergeuderisch,
verschwenderisch, großzügig, gönnerhaft,
spendabel, sponsorenhaft. Sie kann dann auch durchaus
wissenschaftlich gemeint sein, obwohl sie mit wissenschaftlichen Methoden
nicht bewiesen werden kann. Sie kann zu weiterer Forschung anregen. Schelling
sagte einmal: Die Natur schlägt im Menschen ihre Augen auf
und bemerkt, daß sie da ist (**).
Und Peter Sloterdijk sagte einmal: Die Sonne ist der absolute Sponsor
(**).
Dieser Satz war nicht ontologisch oder systemtheoretisch, sondern poetisch
gemeint. Die Natur kennt keinen Sinn, hat keinen Sinn;
die Kultur jedoch kann ohne Sinn gar nicht sein. Es gibt eine Abhängigkeit
der Kultur von der Natur nur zu dem Teil, von dem die Unabhängigkeit
der Kultur von der Natur nicht betroffen ist. Also gibt es eine Independenz
in der Dependenz (**|**).
Man darf nicht vergessen, daß eine Subjekt-Objekt-Beziehung
der Wirklichkeit widerspricht, ja widersprechen muß, um der Vorstellung
des sich gewiß werden wollenden Subjekts, dann der von
diesem gesetzten Zweckursache (Finalität), also der technischen Machenschaft
(Heidegger) zu genügen. Subjekt und Objekt
gibt es lediglich im geistigen Bereich. In der praktischen Wirklichkeit,
in der Existenz, im Leben, d.h. aus rein praktischer Perspekive betrachtet,
gibt es nur eine aus Einzelwesen und ihrer Umgebung bestehende Einzig(artig)keit,
sei es die Welt, wie bei den Menschen, oder die Umwelt, wie bei den restlichen
Lebewesen, oder gar das Proton, wie bei den Quarks, wobei jede dieser
Umgebungen ihrerseits wieder einer Individualität angehört,
deren größte, allumfassendste wir nicht zufällig Universum
nennen und damit Natur oder eben Welt meinen.
Auch eine Kultur kann nur rein theoretisch die Rolle des Subjekts
spielen, weil sie stets der Natur verhaftet bleibt. Trotzdem hat sie diese
Möglichkeit zur Theoriebildung und kann mit Hilfe der Theorie sogar
auch sehr stark auf die Natur einwirken, so sehr stark sogar, daß
man bereits im Weltall die Verschmutzung der Natur sehen kann. Die durch
das Subjekt begründete, auf Subjektivität und zuletzt auf Subjektivismus
gegründete Subjekt-Objekt-Relation ist also eine rein theoretische
(erkenntnistheoretische) Angelegenheit, hat also zunächst nur auf
den Geist selbst, doch bei Umsetzung seiner Theorie in die Praxis auch
solche Folgen, die gar keine Alternative mehr zulassen können zu
der Steigerung ins Riesenhafte (vgl. Heidegger). Hier zeigt sich, wie
stark die Theorie gegenüber der Praxis werden kann, wie sehr der
Geist die Natur vergewaltigen kann, auch wenn wir wissen, daß die
Natur nicht völlig zerstört werden kann, sondern letztlich Sieger
bleiben wird im Krieg des mit Hilfe der durch seine Zweckursache (Finalität)
herbeigeführten Technik des Geistes gegen die durch ihre Kausalität
herbeigeführte Technik der Natur, die zwar relativ leicht (für
einen intelligenten Menschen allerdings nur) zu durchschauen, aber dennoch
nicht zu besiegen ist.
Nach meinem Dafürhalten sind Sie entweder ein Hochgeistiger oder
ein Hochgeistlicher, Herr Heermann. 
Gönnerhafte Grüße.
Hubert Brune
P.S.) Da Sie sagten, daß jeder
Mensch ... ohne jedes Wissen und ohne jede Kenntnis beginne
und ... mit angesammeltem Wissen und angesammelter Kenntnis
sterbe (**),
lassen Sie mich bitte die These vertreten, daß die Individualität
von Anfang an in der Welt ist, also nicht entsteht, etwa durch Individuation,
die es gar nicht gibt. Dazu noch einmal Nicolai Hartmann: Man
darf ... sagen, es gibt kein principium individuationis, und es bedarf
auch eines solchen nicht. Ja, es gibt auch im strengen Sinne keine
»Individuation«, sondern nur Individualität. ....
Individualität ist nicht Individuation. Sie bedarf keines Prinzips
neben dem sonst alles beherrschenden Prinzipien.
Dort, wo sie wirklich zuhause ist, in der Realsphäre (**),
entsteht sie nicht nachträglich - hinter dem Allgemeinen her,
das da unfähig ist, sie zu bestreiten -, sondern ist von vornherein
und mit dem Allgemeinen zugleich da. (**).
Was aber bedeutet Individualität? Sie bedeutet Einzigkeit
(Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit), ist aber dennoch zweifach zu
verstehen: als quantitative Einzigkeit und als qualitative
Einzigkeit (Einzigartigkeit). Individualität gibt es nur
in der realen Sphäre, denn nur das real Seiende ist ein vollständig
Bestimmtes: ideales Sein ist unvollständiges Sein, Wesenheiten
stufen sich zwar nach genus und species ab, bleiben aber stets allgemein.
Das Sosein einer Sache aber, wenn man es in der Betrachtung von ihrem
Dasein abtrennt, ist »neutral« gegen Idealität und
Realität; denn der Unterschied der Seinsweisen hängt nicht
an ihm, sondern am Dasein. .... - Am Sosein als solchem also kann
das »Nur-einmal-Dasein« nicht liegen, denn es ist Sache
des Daseins, und zwar ausschließlich des realen Daseins. Es
gibt natürlich sehr wohl die Wesenheit eines Individuellen -
die quidditas des einmaligen Realen in seiner Einmaligkeit -, aber
sie ist keine individuelle Wesenheit. Sie bleibt allgemein in dem
Sinne, daß die Einzigkeit des Realfalles (sein Nicht-Wiederkehren)
nicht an ihr liegt, sondern an der Artung der realen Welt. Die Einzigkeit
hängt am Gefüge des Realzusammenhanges, sofern dieser eben
strukturell (relational und determinativ) so geartet ist, daß
er das in allen Stücken Identische nicht zum zweiten Mal hervorbringen
kann: dieselbe Sache würde zum zweiten Mal in anderen Seinsverhältnissen
und anderen Determinationsverkettungen stehen und, da diese ihr nicht
äußerlich sind, sondern ihre Beschaffenheit mit bestimmen,
schon dadurch allein eine andere sein. Der Realzusammenhang der Welt
ist aber selbst einzig. Darum allein ist alles das, was in ihm steht,
auch einzig. (**).
Der Realzusammenhang der Welt also selbst ist einzig und kann nichts
zum zweiten Mal hervorbringen. Einzigkeit gibt es nicht einem Prinzip,
auch nicht dem Sosein, sondern einzig dem Dasein nach. |
Nun, Herr Heermann (**),
wenn wir davon ausgehen wollen, daß etwas und nicht etwa nichts
(vgl. Leibniz) ist, und gleichzeitig wissen wollen, was dieses ist, dann
sind wir schon mitten in der Ontologie, einer philosophischen Disziplin;
denn die nichtphilosophischen Wissenschaften ignorieren sowohl das Dasein
(Daß-Sein, Existenz) als auch das Sosein (Was-Sein, Wesen, Essenz),
obwohl sie beides ständig stillschweigend oder unwissend voraussetzen.
Eine philosophische Wissenschaft wie die Ontologie ist also eine durchaus
sinnvolle Angelegenheit.
Das Unteilbare als das Individuelle gilt als die Einzigkeit bzw. Einzigartigkeit
und bildet mit dem Allgemeinen zusammen einen Elementargegensatz, nämlich
einen der Gegensatzpaare der Qualitität, die mit der Quantitat zusammen
ebenfalls ein Gegensatzpaar bildet, welches Nicolai Hartmann zufolge zu
einer der drei Gruppen der Fundamentalkatgeorien gehört (**).
Früher galt das Allgemeine mehr als das Individuelle. Mit dem Universalienstreit
begann diese Geltung zu bröckeln - führend hierbei war zunächst
der in Köln lehrende Duns Scotus und nach ihm der in München
lehrende Wilhelm von Ockham, letzterer mit Argumenten, die die Universalien
als die Allgemeinbegriffe theoretisch vom Thron stießen und auch
praktisch vom Thron gestoßen hätten, wenn nicht die päpstliche
Macht es vorerst verhindert hätte, daß der Ockhamismus, auch
Nominalismus genannt, sich dennoch behaupten konnte. So ging
die Zeit der Vorherrschaft des Allgemeinen über das Individuelle
zu Ende; und dieses Ende war eine Voraussetzung dafür, daß
die Individualität sich gegenüber dem Allgemeinen emanzipieren
und bald auch so durchsetzen konnte, wie es bei Emanzipationsbewegungen,
abgesehen von Ausnahmen, die Regel ist: Übernahme der Vorherrschaft.
Seitdem gilt die Vorherrschaft der Individualität gegenüber
der Allgemeinheit. Daher die berechtigte Frage: Ist das in Ordnung? Nein!
Denn das Individuelle herrscht nicht vor, sondern enthält das Allgemeine
in sich, mit dem es gemeinsam - bei voller Gleichstellung - herrscht:
Der Alleinherrschaft des Allgemeinen im idealen Sein entspricht
demnach keineswegs eine Alleinherrschaft des Individuellen im realen.
Hier haben wir vielmehr die volle Gleichstellung: alles Reale ist zwar
individuell, aber das Allgemeine ist im Individuellen selbst mit real.
Der Unterschied in der Stellung beider ist zwar greifbar, aber er ist
nicht ein solcher des Vorranges. Die oft proklamierte Priorität
des Allgemeinen, bei der das Einzelne als kombinatorisches Resultat
dasteht, hat sich als irrig erwiesen: alles Vorherrschen des Allgemeinen
vor den Fällen ist bloß ein solches in der idealen Sphäre,
ideales Sein aber ist selbst nur unvollständiges Sein. Eine Priorität
des Individuellen aber ist erst recht nicht haltbar, weil stets schon
gemeinsame Züge das Einzelne verbinden. Leibniz, der in der Monadenmetaphysik
hiermit Ernst machen wollte, konnte es auch nicht vermeiden, die Mannigfaltigkeit
der Einzelsubstanzen durch eine Fülle gemeinsamer Wesenszüge
zu bestimmen. Er setzte also gleichfalls das Allgemeine schon voraus.
**
Zwar finden Sie auf meinen Internetseiten nur wenige Argumente
für, aber viele Argumente gegen das Individuelle,
aber der Grund dafür ist die quantitative Übermacht des Themas
Kultur gegenüber dem Thema Natur (**|**)
und die Tatsache, daß im kulturellen Bereich und besonders in der
abendländischen Kultur die Individualität wie eine Gottheit
angebetet wird, wogegen ich mich wehre. Mein Eintreten für die Individualität
ist dennoch nicht unerheblich, und auch jetzt möchte ich eine Lanze
für das Individuelle brechen.
An keinem der Elementargegensätze tritt der Unterschied
der Seinssphären so greifbar zutage wie an dem von Allgemeinheit
und Individualität. Das Allgemeine ist beiden Sphären gemeinsam,
das Individuelle scheidet sie radikal. Im idealen Sein gibt es nur Allgemeines.
Es stuft sich dort zwar mannigfach ab, es reicht herab bis zur »Wesenheit
eines Individuellen«; aber auch von dieser hat sich gezeigt, daß
sie keineswegs »individuelle Wesenheit« ist. Die ideale
Seinssphäre kennt kein Individuelles. Alle wirkliche Einzigkeit
gehört dem Realen an. **
Vielleicht waren Sie, Herr Heermann, mit Ihrer Frage, ob das Individuelle
wirklich von Anfang an existent (**)
sei, von dem Gedanken beherrscht, die anorganische Natur sei vom Individuellen
vielleicht gar nicht betroffen; doch da muß ich besonders stark
widersprechen, denn die Tatsache, daß das Individuelle in der anorganischen
Natur kaum bemerkt wird, ist kein Beweis für die Nichtexistenz des
Individuellen in der anorganischen Natur; es ist sogar so, daß man
sagen muß, daß wir ohne das Individuelle in der anorganischen
Natur gar keine Unterschiede in ihr feststellen könnten, weil alles
gleich aussähe, weil alles allgemein wäre, so wie im idealen
Sein, wo es zwar Abstufungen geben mag, die man auch als Unterschiede
bezeichnen mag, die uns aber nichts über das reale Sein vermitteln
können. Da wir aber Unterschiede in der anorganischen Natur feststellen
können, können wir wissen, daß das Individuelle genauso
alt sein muß wie die Natur selbst. Denn wir können in unserer
realen Welt immer nur die Natur erkennen, die das Individuelle enthält.
Andererseits können wir uns auch mit der Frage beschäftigen,
ob diese reale Welt überhaupt existiert - bei einer Verneinung
dieser Frage wären wir dann im Bereich des Solipsismus als des extremen
Subjektivismus -, oder zwar akzeptieren, daß sie existiert, aber
der Frage nach ihrem vielleicht doch existenten Sinn nachgehen, obwohl
ich in meiner letzten Antwort gesagt habe, daß es einen Sinn der
Natur nicht gibt (**|**).
Ich habe nichts gegen solche Fragen.
Mit freundlichen Grüßen.
Hubert Brune
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