1653) Hubert
Brune, 27.04.2023 (8870)
Der Strukturalismus sieht in der Sprache, die er oft auch als
Kode (Code [**])
bezeichnet, d.h. als ein nach bestimmten Regeln kombinierbares Zeichensystem
mit nicht nur, aber doch vor allem kommunikativer Funktion, den Prototyp
jeder ganzheitlichen Organisation der Wirklichkeit. Die vom Strukturalismus
synchronisch untersuchten Sprachmodelle werden methodisch auf den gesamten
Bereich des Verhaltens ausgedehnt. **
**
Man mag mich gern einen Strukturalisten nennen. Ich habe nichts dagegen.
Allerdings habe ich etwas dagegen, ein französicher Strukturalist
genannt zu werden, denn alles, was seit der angeblichen Befreiung
Ende 1944 in Frankreich geschieht, ist nichts anderes als die Verleugnug
der eigenen Geschichte - ich meine hier insbesondere die Kollaboration
während der deutschen Besatzungszeiten, deren es ja viele gab, zuletzt
und besonders die während des 2. Weltkrieges -, die vertuscht und
vergessen gemacht werden soll durch die typisch französische Großmannssucht
und die ebenfalls typisch französische Anfälligkeit für
ein anderes Extrem, die Anarchie, der auch die Italiener immer wieder
erliegen. Das ergibt diese merkwürdige Allianz zwischen der nationalistischen
Großmnannsssucht und der sogenannten Linken in Frankreich,
von der sich kein Franzose so richtig loslösen kann, weil er gar
nichts anderes gelernt hat, es nicht gekonnt hat, weil es in Frankreich
nie etwas anderes zum Üben, zum Lernen gegeben hat. Peter Sloterdijk
faßte den Gedächnisverlust sowohl der Franzosen als auch der
Holländer gerade bezüglich beider Kollaborationen mit der deutschen
Besatzung während des 2. Weltkrieges einmal so zusammen: Wie
die Franzosen nach der libération plötzlich neben den
Siegern aufmarschierten, als ob nie etwas gewesen wäre, in dopppelter
Heuchelei ..., so haben die Niederländer nach 1945 sich etwas vorgemacht
und ihre Nachkriegswirklichkeit auf einen nicht selbst erfochtenen Sieg
aufgebaut. Die nachträgliche nukleare Großmannssucht der Franzosen
ist das formale Äquivalent der nachträglichen kosmopolitischen
Umarmungssucht der Holländer. (**
[**]).
Nennen Sie mich doch lieber einen spanischen Strukturalisten
().
Auch hier kann ich mit einem Sloterdijk-Zitat aufwarten: Napoleon
... hat als Beleidiger Geschichte gemacht. Die Spanier mußten bis
1975 - bis zum Tode Francos - warten, bis sie endlich aus der Folge ihrer
eigenen antinapoleonischen Reaktionen herauskamen. Man darf auch die Geschichte
Spaniens im 20. Jahrhundert nicht isoliert betrachten. Und die Deutschen
wären auch nicht dahin gekommen, wo sie standen, wenn sie nicht ...
durch die napoleonische Beleidigung ... in die reaktive Posoition gekommen
wären und bis 1945 ihre antifranzösische Reaktion abgearbeitet
hätten. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß die
Europäer allesamt ohne die Deutschen gar kein Beispiel dafür
hätten, wie es ist, sich als Europäer zu verhalten. Denn wenn
sie nur auf sich selber schauen, so sind sie doch Briten, Franzosen und
was weiß ich geblieben - mit Ausnahme der Spanier, die wirklich
ähnlich wie die Deutschen in einer solchen metanoetischen Verwandlung
.... (Kluge unterbricht Sloterdijk hier; HB),
die haben auch dieses Lernen aus den eigenen Lektionen auf einer ungewöhnlich
tiefen Ebene vollzogen, deswegen sind sie ... den Deutschen auch am nächsten,
auch sind sie die Nation, die eigentlich mit der größten politischen
Reife den Weg in die Demokratie gegangen sind, und zwar (sind sie) bei
permanentem Terror ... trotzdem ruhig den Weg weitergegangen. Man muß
sich nur mal vorstellen, wie es uns ginge, wenn wir auch nur ein
Zehntel des Terrordrucks in unserem Land hätten, den die Spanier
in den letzen dreißig Jahren chronisch erlebt haben. **
Ich bin also kein französischer Strukturalist, wie Sie
meinten, Hans (**),
und leider auch kein spanischer Strukturalist. Aber was bin ich dann?
Ein deutscher Strukturalist? Ja, auch. Ich bin auch ein deutscher Poststrukturalist,
aber lieber ohne die Vorsilbe Post. Auch bin
ich ein deutscher Systemtheoretiker, ein deutscher Kybernetiker, ein deutscher
Zyklentheoretiker ... u.s.w.. Weil Ihre Aussage sich aber wohl eher nicht
auf das Nationale, sondern auf das rein Philosophische bezog, muß
die Frage lauten: Was bin ich philosophischerseits? Ein Strukturalist,
ein Poststrukturalist, ein Systemtheoretiker, ein Kybernetiker,
ein Zyklentheoretiker, ein Enzyklopädist, ein Erkenntnistheoretiker,
ein Natur-, Kultur-, Existenz- und Lebensphilosoph, ein Phänomenologe,
ein Neuphänomenologe, ein Idealist, ein Realist, ein Realidealist
und Idealrealist ... u.s.w.. (**|**).
Darf man Ihnen zufolge auch philosophischerseits ein Wissenschaftler
sein? Ja? Dann bin ich ein Wissenschaftler und Erkenntnistheoretiker und
alles andere erst danach. Ist nicht aber ein Philosoph sowieso ein Wissenschaftler?
Als ich zum ersten Mal den Gedanken kennenlernte, daß etwas auch
für immer wegbleiben kann, daß also z.B. dann, wenn
ein Mensch gestorben ist, er nicht mehr wiederkommt, da entwickelte sich
in mir, in meinem Geist oder, wenn der Geist außerhalb des Körpers
sein sollte, in dem Geist, der zu mir spricht, auch zum ersten Mal das
Wissen von der Bedeutung der Zeit: ich wußte seitdem, daß
Zeit wirklich vergeht, daß sie nicht wiederkommt, daß sie
nicht zurückgeholt werden kann. Dies wurde mir erzählt. Ich
war zu der Zeit erst drei Jahre alt, denn das Erlebnis, das mir damals
den Tod eines anderen Menschen, der durch einen Autounfall ums Leben kam,
kennenlernen ließ, ist genau datierbar, also: heute noch in Erfahrung
zu bringen. Jedenfalls machte ich daraus so etwas wie eine Wissenschaft
von der Zeit, der Geschichte u.s.w.. Was ich damit sagen will, ist, daß
ich schon sehr, sehr früh ein Zeit- und Geschichtswissenschaftler
wurde und darum dieser Beruf wohl derjenige unter den sehr
vielen sonst noch sein wird, der mich als letzter verlassen wird.
Der einzige unter den französischen Strukturalisten, der für
mich dann, wenn ich seine sexuell motivierten Perversitäten und kommunistisch
motivierten Absurditäten völlig unberücksichtigt lasse
(denn anders geht es nicht), einigermaßen in Frage kommt, ist Michel
Foucault (1926-1984). Bei ihm muß man drei Denkstadien unterscheiden:
das frühe, das mittlere und das späte Denkstadium. Als die bedeutsamsten
Präger und Beeinflusser Foucaults gelten Immanuel Kant, Georg Wilhelm
Friedrich Hegel, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und
Louis Althusser. Vom 1950 bis 1954 war Foucault außerdem Mitglied
der französichen KP. Muß ich noch mehr dazu sagen? Marx fiel
seit 1954 immer mehr aus dem Denken Foucaults heraus. Alle anderen Präger
und Beeinflusser blieben. Foucault wurde eigentlich erst richtig interesasant
in seinem letzten - von der Mitte der 1970er Jahre bis zu seinem Tod währenden
- Denkstadium, doch in diesem war er bereits ein sogenannter Poststrukturalist.
Der Poststrukturalismus bleibt dem Strukturalismus verbunden, denn
auf die strukturale Konstruktion folgt die poststrukturale Dekonstruktion.
Der Begriff der Dekonstruktion geht auf Martin Heidegger zurück,
der von einer Destruktion der abendländischen Tradition
der Metaphysik gesprochen hat:
Die Destruktion hat ebenso wenig den negativen
Sinn einer Abschüttelung der ontologischen Tradition. Sie soll
umgekehrt diese in ihren positiven Möglichkeiten, und das besagt
immer, in ihren Grenzen abstecken, die mit der jeweiligen Fragestellung
und der aus dieser vorgezeichneten Umgrenzung des möglichen
Feldes der Untersuchung faktisch gegeben sind. ** |
Auch hat Heidegger von einer methodischen Verschränkung von Konstruktion
und Destruktion gesprochen. Diese betrifft drei Momente:
Erfassung des Seienden auf
das Verstehen von dessen Sein (phänomenologische Reduktion). |
Entwerfen
des vorgegebenen Seienden auf sein Sein und dessen Strukturen (phänomenologische
Konstruktion). |
Kritischer Abbau überkommener
Begriffe (Destruktion). ** |
In Aufnahme dieser Verschränkung von Destruktion und Konstruktion
meint Dekonstruktion nicht einen Angriff auf die Legitimität oder
Sinnhaftigkeit von Texten oder Thesen, sondern die sinnkritische Analyse
ihrer Verstehens- und Geltungsbedingungen.
Der Poststrukturalismus und der Strukturalismus gehen auf Heideggers
Daseinsphänomenologie (Existenzphilosophie) und auf Husserls Phänomenologie
zurück, die auf Freges Antipsychologismus zurückgehen. Ihnen
kann ich nur sehr hochachtungsvoll danken, denn auch ich bin ein Antipsychologist
und kann mir gut vorstellen, daß in den letzten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts der Psychologiewahn bereits so unerträglich geworden
war, daß ein Antipsycholgismus wie eine lang ersehnte Befreiung
davon wirken konnte, ja mußte.
|
Husserl |
Logische Untersuchungen (1900) |
Prolegomena und II. Untersuchung |
V. und VI. Untersuchung |
I., III. und IV. Untersuchung |
1. Strömung |
2. Strömung |
3. Strömung |
Eidetische Phänomenologie |
Transzendentale Phänomenologie |
Strukturale Phänomenologie |
München-Göttinger
Phänomenologie |
Husserlsche
Phänomenologie |
Heideggersche
Phänomenologie des Daseins
(Existenzphilosophie) |
Prager Strukturalismus |
Antipsychologismus, autonome
Phänomene, eidet. Universalien |
Französische Phänomenologie als Versuch,
Husserls und
Heideggers Phänomenologie wieder zusammenzubringen |
Autonome Linguistik,
strukturale Universalien |
Autonome Phänomene |
Korrelation von Subjekt und Objekt |
Autonome Linguistik |
Eidetische Universalien |
Objektiver Idealismus |
Subjektiver Dezisionismus |
Strukturale Universalien |
|
|
* Es sind hinzuzufügen:
(1.) Freges Antipsychologismus oben, weil er eine Voraussetzung
für Husserls Logische Untersuchungen ist;
(2.) der frz.
Strukturalismus/Poststrukturalismus, Gadamers
Philosophische Hermeneutik, Schmitz Neue
Phänomenologie innerhalb der 2. Strömung unten. |
|
Elmar Holenstein (ein Schweizer, noch dazu in Ihrem Alter, Herr Wagner!):
Husserls Logische Untersuchungen können als Ausgangspunkt
von drei ausgezeichneten phänomenologischen Strömungen angesehen
werden. (Siehe Skizze. 1. Strömung: München-Göttinger
Phänomenologie; 2. Strömung: Transzendentale Phänomenologie;
3. Strömung: Prager Strukturalismus. Alle drei Strömungen richten sich nach dem von Frege begündeten Antipsychologismus. HB.)
Diese kurze Skizze ist eine Vereinfachung. Sie beschränkt sich auf
die Herausstellung der hauptsächlichen Quelle und der vorherrschenden
Aspekte jeder der drei Strömungen. Sie soll nicht als eine erschöpfende
Charakterisierung mißverstanden werden. Insbesondere ist vor der
weitverbreiteten Meinung zu warnen, der Strukturalismus setze sich über
das Hauptanliegen der transzendentalen Phänomenologie (siehe
2. Strömung in der Skizze; HB), die immanennte Korrelation
von Subjekt und Objekt, positivistisch hinweg. Der subjektive Pol der
Konstitution ist im Strukturalismus nicht abwesend. Was der Strukturalismus
verwirft, ist allein der »Egozentrismus« der klassischen Transzendentalphänomenologie.
Nicht anders als Husserl selber in seinen späteren Jahren befaßt
sich der Strukturalismus vorab mit dem unbewußten und mit dem intersubjektiven
Charakter der Subjektivität der sprachlichen Konstitution. .... Abgesehen
von elementaren und primitiven Erkenntnissen, die als solche freilich
grundlegend sind, beruht alles Wissen auf einer Interdependenz von intuitiven
und semiotisch (also: sprachlich! HB) vermittelten
Erkenntnissen. In der heutigen Wissenschaftsphilosophie kommt zur kognitiven
Funktion der Zeichen deren planifikatorische Funktion hinzu.
Zeichen dienen der Planung und Steuerung von Handlungen. Mit den kybernetischen
Wissenschaften ist es einer semiotischen (also:
sprachlichen! HB) Disziplin gelungen, das Verhältnis zwischen
Natur- und Geisteswissenschaften zum ersten Mal seit dem Beginn der Neuzeit
umzukehren und mit Erfolg naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen
ein humanwissenschaftliches (also: geisteswissenschaftliches;
HB) Modell zu unterschieben. **
Die Struktur bedeutet Gefüge, Bau, Zusammenhang, Bezugssystem
im Aufbau des Ganzen und schon bei Kant Lage und Verbindung
der Teile eines nach einheitlichen Zweck sich bildenden Organismus.
Die Struktur ist für den Strukturalismus eine Grundgegebenheit,
aus der sich alle Phänomene bestimmen lassen. Diese reale Gegebenheit
ist also objejktiv vorhanden und kann subjektiv enthüllt werden.
Strukturen sind intelligible Regeln der Komplexe und Ganzheiten der
Wirklichkeit, die sich aus ihrer gegenseitigen Relation bestimmen und
als solche formal übertragbaren Charakter aufweisen. Ausgehend
von der Linguistik beeinflußte der Strukturalismus sehr rasch auch
die Methoden aller anderen Wissenschaften vom Menschen. **
**
Alles Sprachliche (Zeichenhafte) hat ein Eigenleben.
- Im 19. Jahrhundert wurden nur kausale und genetische Erklärungen
als wissenschafliche Leistungen anerkannt. Dem vorherrschenden Ideal
der empirizistischen Naturwissenschaft der damilgen Zeit entsprechend
versuchte man, die Psychologie gleichfalls als eine empirisch erklärende
Tatsachenwissenschaft zu fassen, Den naheligendsten Weg dazu bot die Reduktion
alles Psychischen auf die es fundierenden physiologischen Prozesse. In
der Folge dieser Reduktion erfuhren auch sämtliche geistigen und
kulturellen Phänomene eine in letzter Instanz physiologische Erklärung.
(Ebd., S. 24). Das konnte natürlich nicht funktionieren, auch nicht
auf Dauer per Dogma durchgehalten werden. Frege, der Begründer der
modernen mathematischen Logik, der Logistik und der modernen
philosophischen Logik (**|**|**),
war der erste, der gegen den Psychologismus kämpfte, besonders gegen
den in der Logik, so daß er auch noch zum Begründer des Antipsychologismus
wurde. Frege wirkte besonders maßgeblich auf z.B. Russel, Church,
Quine u.a., ja auf die gesamte angelsächsische Philosophie bis heute,
wirkte auf den Wiener Kreis (Neupositivismus), dessen Begründer Schlick
war und zu dem sonst noch z.B. Wittgenstein, Carnap, Reichenbach gehörten,
und wirkte auch u.a. auf Husserl und Heidegger.
|
Schmitz selber
nennt einen Denker, dem er sich - wie keinem anderen - verwandt
fühlt und als dessen Erbe er sich selbst
begreift, und das ist Ludwig Klages (**).
(Jochen Kirchhoff, Zur Leibphilosophie von Hermann Schmitz,
Vorlesung, SS 2000 ).
Schmitz unterscheidet sich aber auch
stark von Klages, besonders stark z.B. bezüglich des uns sehr
interessierenden und
auch darum hier angesprochenen Themas: Psyche/Psychologismus.
Schmitz begründete
sein Erbe wohl eher so:
In unserem Jahrhundert hat der Averroismus eine unerwartbare,
vermutlich dem Autor selbst nicht bewußte Wiedergeburt
in der Metaphysik von Ludwig Klages erhalten, der die Seele mit
einer an die aristotelische Seelendefinition erinnernden
Wendung als den Sinn des Leibes ausgibt und den transzendenten,
einzigen Geist von außen einbrechen läßt, nun aber
nicht mehr als höchste Vollendung und Beglückung, sondern
als böse, katastrophale Lebensstörung. Klages verteidigt
das
unwillkürlich strömende, schauend empfängliche Leben
gegen die Willkür geistigen Tuns; abermals tritt in seinem
Werk
also der Averroismus in Gegensatz zu der seit Jahrtausenden in der
abendländischen Philosophie herrschenden Strömung,
die die Ermächtigung des Menschen gegen seine unwillkürlichen
Regungen verlangt und dafür auch den psychosomatischen
Dualismus in Kauf zu nehmen bereit ist. (Hermann Schmitz,
Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, 1978,
S. 239 [**]).
Ich meine dennoch, daß Schmitz eher Heideggers Erbe ist und
beide die größten Philosophen des 20. Jahrhunderts sind. |
|
Jedenfalls muß der Psychologismus überwunden, die Subjektivität
neu, d.h. ohne Berufung auf Innenwelten bestimmt werden. Hermann
Franz-Heinrich Schmitz, der Begründer der Neuen Phönomenologie
(**),
geht vom leibhaftigen In-der-Welt-Sein aus (**).
In seinem 1964 erschienenen Buch Subjektivität heißt
es: In meiner Analyse des leiblichen Befindens setze ich mir - soviel
ich sehe, zum ersten mal in der Weltliteratur - das Ziel, ein abgerundetes
Begriffssystem allein auf das Zeugnis des eigenleiblichen Spürens
zu gründen, also dessen, was der Mensch, wie man sagt, am eigenen
Leibe spürt. (**).
Schmitz arbeitete ein in 10 Büchern vorliegendes System der Philosophie
aus, dessen Basis die Erfahrung der Leiblichkeit und des Augenblicks unmittelbarer
Betroffenheit ist. Er setzte bei der ursprünglichen, unwillkürlichen
Lebenserfahrung an. Seine Methode ist Phänomenologie in neuem,
empirisch ernüchterten Stil; sein Grundgedanke ist, daß
die Innenwelthypothese Quell aller Verfehlungen
des abendländischen Geistes seit der Antike sei (vgl. ders.: Die
vier Verfehlungen des abendländischen Geistes, in: ders.: Adolf
Hitler in der Geschichte, 1999, S. 3282). Schmitz will
beschreiben, wie die Welt sich zeigt, wenn ihr zurückgegeben wird,
was man fälschlich in die vermeintlich private Innenwelt einzelner
Subjekte (Seele, Bewußtsein, Gemüt pp.) hineingesteckt hat.
(**).
Der Sinn von Subjektivität sei neu (ohne Berufung auf Innenwelten)
zu bestimmen. Mit Hilfe des Spürens am eigenen Leib (Leiblichkeit)
und des Fühlens (Gefühle) und der durch die Neue Phänomenologie
ermöglichten kategorialen Erschließung der so wahrgenommenen
Gegenstände könne erstmals der jahrtausendealte Psychologismus
überwunden werden. Zur falschen Innenwelthypothese gehört eben
auch und besonders die Seele bzw. Psyche.
|
Ich
war immer davon überzeugt, daß es dem Schmitz mit diesem
System gelingen könnte, mit den traditionellen Mitteln der
europäischen Gelehrsamkeit das 3. Jahrtausend zu erschließen,
d.h. Verkrustungen aufzubrechen, die sich so festgesetzt haben im
Denken, daß eigentlich nur mit einer ganz grundsätzlichen
und einer ganz breit angelegten Auseinandersetzung überhaupt
dem beizukommen ist. .... Den letzten Band des Systems übergab
mir Hermann Schmitz persönlich mit der Bemerkung: ,Ich habe
es fertig und jetzt bin ich nur noch ein gewöhnlicher Gelehrter.
Diese Bescheidenheit hat er nicht durchgehalten, denn anschließend
ging es los mit den historischen Bänden .... Er hat ja wirklich
die ganze Philosophiegeschichte durchgeackert .... Carl Friedrich
Weizsäcker hatte Heidegger meine Dissertation (**)
geschickt. Heidegger lud mich ein nach Todtnauberg. Ich bin dann
noch ein paar Mal bei ihm gewesen .... Er hat bei verschiedenen
Besuchen immer wieder gesagt: ,Nötig ist eine Rekonstruktion
der Geschichte der Philosophie. Und da muß man bei den Vorsokratikern
anfangen. .... Heidegger ... wollte mich noch zur Historie, zur
Philosophiegeschichte bekehren, und ich wußte von vornherein:
das ist nicht mein Ding. Aber ... es war Hermann Schmitz
Ding: er hat später ja wirklich die ganze Philosophiegeschichte
durchgeackert, wie Werhahn es formulierte. (Vgl. Hans Werhahn,
in: Neue Phänomenologie - Über Hermann Schmitz / Gespräch
mit einem Weggefährten, Film von Michael Großheim,
2010 ). |
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Durch die Eichung von
Worten an Phänomenen werde die Voraussetzung dafür geschaffen,
daß die Menschen in die Lage versetzt werden, über Erfahrungen
zu sprechen, die ihnen wichtig werden, wenn sie nach durchdringender Enttäuschung
des Lebens in Projektionen und Utopien Gelegenheit und Bedürfnis
haben, ihren Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern. (Ders.,
Mein System der Philosophie, 1977 [**]).
Theoretischer Kernbegriff der Philosophie von Schmitz ist der Begriff
des Leibes. Sein Verständnis von Leib erläutert er so: Wenn
ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen oder tierischen
Körper, den man besichtigen oder betasten kann, sondern an das, was
man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein Sinnesorgan
wie Auge oder Hand zu verfügen .... (Ders., Der unerschöpfliche
Gegenstand, 1990, S. 115 [**]).
Damit ist der für die traditionelle Philosophie klassische Dualismus
von Körper und Seele radikal in Frage gestellt. Schmitz Neue
Phänomenologie kann daher auch treffend als Leibphilosophie bezeichnet
werden. Vom Leib als zentralem Gegenstand der Analyse aus gelangt Schmitz
auf nahezu allen Gebieten der Philosophie zu neuen Einsichten, die er
zu seinem System der Philosophie zusammengefaßt hat.
Eine kritische Retraktion bestimmter Aspekte des Systems hat
Schmitz 1990 in seinem Werk Der unerschöpfliche Gegenstand
vorgelegt. Neben seinem umfangreichen systematischen Werk hat Schmitz
zahlreiche philosophiehistorische Werke erarbeitet und veröffentlicht,
die seine eigenen Gedanken in den Kontext der Geschichte stellen. Dabei
hat sich Schmitz mit Vertretern nahezu aller Epochen der abendländischen
Kultur beschäftigt.
Meine Berufsbezeichnung heißt ja »Psychiater«.
Und ich habe von Hermann Schmitz gelernt: Die Psyche ist es gar nicht!
Ich habe einen berufliche Identitätskrise, die mir aber viel Freude
macht. Mir fehlt nur noch eine Sache in der Neuen Phänomenologie.
Wenn ich die noch kriege von Hermann Schmitz ...: Was ist Gesundheit?
(Robby Jacob, Hermann Schmitz im Gespräch, VIII, Zukunft der
Neuen Phänomenologie, 06.06.2010
[**]).
.... Es
ist immer eine Labilität. Es wird immer bei einem gewissen »Wellenreiten«
bleiben. Die Person kann sich nicht stabil über ihre Basis erheben,
sondern es ist immer ein Hin und Her von Emanzipation und Regression
nötig. Und diese Regression ist nicht abzuschätzen.
Es ist also der Fehler der asiatischen Weisheitslehren, daß sie
denken, die Regression in die Emanzipation einbinden zu können,
so daß man zwar hinfallen kann, aber sich überhaupt nicht
mehr dabei wehtut und gleich wieder aufsteht, wie das auch in den asiatischen
Kampfkünsten eingeübt wird. Diese Technik ... ist dann aber
keine richtige personale Regression mehr. Das Gegenbeispiel ist die
attische Tragödie. Tragödie ist eigentlich nicht dafür,
in eine Katastrophe zu geraten, sondern ist eine Option für eine
der Mächte, und zwar im Grunde der göttlichen Mächte,
in deren Bann der Mensch steht, ... und indem er sich auf diese Option
nun eben festlegt, wählt er einen Weg, der - weil es nur eine von
mehreren Mächten ist, eine von mehreren Perspektiven -, der ihn
ins Verderben führen kann, aber nicht muß. Und er ist im
Grunde optionsfähig: der tragische Mensch der Griechen. Die griechische
Tragödie ist keine Katastrophendramatik, besteht nicht aus lauter
Trauerspielen, sondern aus dem für den Menschen unvermeidlichen
Risiko der Vereinseitigung und daß er da - im Grunde genommen
- seiner eigenen glücklichen oder unglücklichen Hand überlassen
ist: da gibt es personale Regression mit dem Risiko des Scheiterns.
Darüber wird man nicht hinwegkommen. .... Ja, das ist natürlich
auch etwas, ... aber mehr für die Menschengestaltung ..., auch
da ist die Neue Phänomenologie wichtig als Besinnung - Herr Böhme
hat das verstanden in Darmstadt -, das ist aber keine direkte Anwendung
in den Wissenschaften. (Hermann Schmitz, Hermann Schmitz im
Gespräch, VIII, Zukunft der Neuen Phänomenologie, 06.06.2010
[**]).
Gernot Böhme bemühte sich darum, die philosophische Ästhetik
thematisch zu erweitern. Er konzipierte Ästhetik als Aisthetik, also
als allgemeine Wahrnehmungslehre. Hierbei bezog er sich zentral auf die
Arbeiten des Philosophen Hermann Schmitz, welcher bereits in den 1970er
Jahren eine ausführliche Theorie der Wahrnehmung vorgelegt hatte,
dessen Werk jedoch weitgehend unbeachtet blieb. Von diesem übernahm
Böhme in den 1990er Jahren den Begriff der Atmosphäre sowie
zahlreiche phänomenologische Beobachtungen und übertrug dessen
Neue Phänomenologie in eine Neue Ästhetik. Im Zentrum der Betrachtung
sollen nun Design, Natur und Kunst stehen. Ästhetik hat nicht nur
die Aufgabe, moderne Kunst zu vermitteln. Eine ausschließlich intellektualistische
Interpretation von Kunstobjekten wird abgelehnt. Sie hat sich auch mit
dem neuen Verhältnis zu der zunehmend vom Menschen gestalteten Natur
zu befassen. Eine besondere Rolle spielen für die Ästhetik die
Stimmungen und Affekte. Atmosphären sind Böhme zufolge die erste
und entscheidende Wirklichkeit für die Ästhetik. Dabei handelt
es sich um räumliche Träger von Stimmungen. Sie bilden die gemeinsame
Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Böhme verstand
die Wahrnehmung als Modalität leiblicher Anwesenheit. Dabei betonte
er dann die gefühlsmäßige Komponente. So wie Schmitz bereits
Wahrnehmung als eigenleibliches Spüren definiert hatte
(in: System der Philosophie, 3. Band: Der Raum, 5. Teil:
Die Wahrnehmung, 1978), ist auch gemäß Böhme die
Wahrnehmung ein Spüren von Anwesenheit bzw. das Spüren einer
gewissen Atmosphäre. Die Atmosphäre gehört weder zum Objekt
noch zum Subjekt, sondern ist eine Kopräsenz diesseits der Subjekt-Objekt-Spaltung.
Erst später differenziert sich die Atmosphäre in einem Ich-
und Gegenstands-Pol der Relation aus und verfestigt sich in der dualen
Subjekt-Objekt-Struktur.
In der Wahrnehmung der Atmosphäre
spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese
Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung,
die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite
ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe
und darin gewahre, daß ich jetzt hier bin. .... Umgekehrt
sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen
präsentieren. (Gernot Böhme, Atmosphäre,
1995, S. 96). |
Die Atmosphäre ist auf eine unbestimmte Art in den Raum ergossen. Der Atmosphäre kann nur nachgegangen werden, indem sie erfahren wird.
Man muß sich ihr aussetzen und affektiv von ihr betroffen sein.
So kann beispielsweise in einem Raum eine gewisse heitere oder eine bedrückende
Stimmung herrschen. Dabei handelt es sich nicht um eine subjektive Stimmung.
Diese Atmosphäre wird als quasi objektiv äußerlich erlebt.
Es wird ein gemeinsamer Zustand des Ichs und seiner Umwelt bezeichnet.
Die Phänomene des Atmosphärischen werden als freischwebende
Qualitäten, wie Kräfte im leiblich-emotionalen Sinn oder als
halb personifizierte Naturmächte erlebt. Böhme unterschied verschiedene
Charaktere von Atmosphären. Zu den gesellschaftlichen Charakteren
zählen Böhme zufolge Reichtum, Macht oder Eleganz. Wärme,
Kälte und Helligkeit gehören zu den Synästhesien. Kommunikative
Charaktere sind zum Beispiel gespannt, ruhig oder friedlich. Bewegungsanmutungen
können drückend, erhebend und bewegend sein. Es gibt auch noch
Stimmungen im engeren Sinne wie beispielsweise die Szenen des Englischen
Gartens. In der Wahrnehmung spürt das Ich nicht nur die Anwesenheit
von etwas, sondern es spürt es leiblich und spürt sich dabei
auch selbst. Die Dinge entstehen aus dem atmosphärischen Spüren
durch Prozesse der Abwehr, Differenzierung und Verengung. Sie werden als
dynamisch wahrgenommen, weil sie Atmosphären und damit unsere Befindlichkeit
erzeugen. Die Dinge sind durch ihre räumlich feste Lokalität,
durch Körperlichkeit, Identität und durch die Verdichtung als
die in einem endlichen Raum konzentrierte Potenz des atmosphärisch
gespürten Charakters gekennzeichnet. Erst die Wahrnehmung der Dinge
konstituiert die duale Subjekt-Objekt-Beziehung. Dabei werden sie als
etwas Faktisches und Objektives außerhalb des Subjekts erfahren.
(Vgl. Gernot Böhme, Aisthetik, 2001, bes. S. 103 und S. 166
ff.).
Gernot Böhme hatte in seinem 1980 erschienenen Buch Alternativen
der Wissenschaft u.a. Kants Erkenntnistheorie kritisiert: Die
Wahl von Kants Erkenntnistheorie - gegenüber anderen - läßt
sich aus verschiedenen Gründen rechtfertigen. Für uns sind zwei
Merkmale ausschlaggebend: Kants Erkenntnistheorie begründet objektive
Erkenntnis und zielt letzten Endes auf die Möglichkeit von Physik,
und doch ist sie durch und durch eine Theorie des Subjekts, des Ich, der
Innerlichkeit. Diese Tatsache läßt vermuten, daß sich
bei ihm die Selbstdressur, die sich das Subjekt in der objektiven Erkenntnis
auferlegt, besser noch identifizeiren läßt als in neueren Theorien
objektiver Erkenntnis, wo nur noch von Meßverfahren, Apparaten und
vielleicht noch diskursiven Strukturen die Rede ist. .... - Kant ... behauptet
..., daß wir der Natur die Gesetze vorschreiben. .... - Wir schreiben
der Natur die Gesetze vor. - .... Erkenntnis ist Rekonstruktion. ....
- Die systematische Beziehung von Erkenntnis und Moral wird durch Kants
Auffassung des Begriffs als Regel gestiftet. Für Kant bedeutet »der
Begriff vom Hunde eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die
Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann.
Entsprechend ist der Begriff geometrischer Figuren die Konstruktionsanweisung,
nach der Figuren in der reinen Anschauung herzustellen sind. Schließlich
sind die reinen Verstandesbegriffe Regeln der Einheit, denen gemäß
die Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen in der Anschauung herzustellen
ist. .... - Für die Objektivität der Erkenntnis ist ... Freiheit
ebenso Voraussetzung wie für moralisches Handeln. - Man soll den
Regeln objektiver Erfahrung folgen - aber man tut es nicht immer. Auch
das weiß Kant. ..... Die Normen und Regeln der Erfahrungskenntnis
setzen sich also keineswegs von selbst durch. Vielmehr ist man verpflichtet,
sich ihnen zu unterwerfen, wenn anders man als Vernunftwesen mitgezählt
werden will. - Diese Unterwerfung eines durchaus widerspenstigen Subjektes
unter bestimmte Verhaltensregeln nennt Kant in seiner praktischen Philosophie
»Nötigung«. Vorstellungen, denen man nicht unwilllkürlich
folgt, die deshalb durch Nötigung durchgesetzt werden müsse,
nennt er Imperative (**).
..... - Man soll sich durch Befolgung dieser Regeln zum Vernunftwesen
machen. Man soll nicht als vereinzeltes individuelles Subjekt denken,
sondern als Subjekt überhaupt. In der praktischen Philosophie heißt
das, daß man nur solchen Maximen, d.h. also subjektiven Motivationen
folgen soll, von denen man zugleich annehmen kann, daß sie allgemeines Gesetz seien: das ist der kategorische Imperativ. (»Kant
sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand ...« [Oswald Spengler, Der
Untergang des Abendlandes, Band I, 1918, S. 481 {**}]; HB).
In der theoretischen Philosophie heißt das, man soll seine subjektiven
Auffassungsweisen so stilisieren, daß man in ihnen als allgemeines
Vernunftsubjekt fungiert. Ebenso wie man als moralischer Mensch seine
subjektiven Neigungen überwinden muß, so muß man sich
als Erkennender zu allererst von seinen Gefühlen trennen. Denn diese
bestimmen auch - das sieht Kant ganz klar - die primären unmittelbaren
Auffassungsweisen, die Kant Wahrnehmungsurteile nennt: Das Zimmer ist
warm, der Zucker süß, der Wermut widrig. - Was der Gegenstand
für mich ist, ist für die objektive Erkenntnis uninteressant,
denn die Bestimmungen, die dem Objekt zuzuschreiben sind muß dieses
Objekt für jedermann haben - folglich muß ich mich als Subjekt
objektiver Erkenntnis quasi zu diesem »Jedermann« machen (vergleichbar
mit dem Man Heideggers [**];
HB). - »Es sind ... objektive Gültigkeit und notwendige
Allgemeinheit (für jedermann) Wechselbegriffe«, schreibt Kant
in dem Prolegomena, § 19 (**).
(Gernot Böhme, Alternativen der Wissenschaft, 1980, S. 62-67).
Die kantischen Kategorien sind Regeln, denen sich das empirische
Subjekt unterwerfen muß, soll sein Wissen Anspruch auf Objektivität
erheben können. Durch diese Regeln werden die möglichen subjektiven
Auffassungsweisen des empirischen Subjektes auf solche eingeschränkt,
die zur Einheit des Bewußtseins »schicklich« sind. Das
empirische Subjekt, das sich in seinem Erkenntnisverhalten nur auf die
Einheit von Bewußtsein überhaupt bezieht, stilisiert sich so
selbst zum allgemeinen Subjekt, zum Jedermann (vergleichbar
mit dem Man Heideggers [**];
HB). Die dadurch erreichte Gültigkeit seines Wissens für
jedermann garantiert zugleich die Objektivität dieser Erkenntnis.
Denn die Zusammenstimmung der Vorstellungen in einem Bewußtsein
ist zugleich der Garant der Zusammenstimmung der Vorstellungen zu einem
Objekt. - Man hat in jüngeren Interpretationen das kantische transzendentale
Subjekt als die unendliche Forschergemeinschaft reinterpretiert. Diese
Interpretation ist durchaus angemessen, insofern auch für Kant die
Einheit des Bewußtseins eine Aufgabe bleibt, die nur im unendlichen
Forschungsprozeß, d.h. also auch von vielen empirischen Bewußtseinen,
durchgeführt werden. - Reflexivität und Kontrolle. -
.... Der Verstand bestimmt (unter der Benennung der Einbildungskraft)
die Sinnlichkeit. .... Der Verstand reguliert bereist die Sinnlichkeit.
.... In der Innerlichkeit des inneren Sinnes geschieht die geregelte Aneignung
der eigenen Vorstellungen. Dabei wird nur zugelassen, was zur objektiven
Erkenntnis taugt. d.h. was den Bedingungen der transzendentalen Apperzeption
gemäß ist. Kant redet hier ganz konsequent von Selbstaffektion:
Der Verstand bestimmt in dieser Beziehung den inneren Sinn; d.h. er affiziert
ihn. Dadurch wird zugleich sichergestellt, daß das so innerlich
angeeignete Material der Sinne der Anwendung der Kategorien gemäß
ist. Diesen wird umgekehrt damit ihre Anwendbarkeit oder, wie Kant sagt,
objektive Gültigkeit a priori gesichert. - .... Objektive Erkenntnis
ist im strengen Sinne reflexiv. Der Verstand spiegelt sich in ihr am inneren
Sinn. So gesehen ist objektive Erkenntnis Selbsterkenntnis. Der Verstand
übt unter der Benennung der Einbildungskraft eine Kontrollfunktion
über die Sinnlichkeit aus. Durch diese Kontrolle wird die Aneignung
der Affektionen durch den äußeren Sinn im inneren Sinn so reguliert,
daß die dadurch produzierten Daten einer späteren Anwendung
der Kategorien gemäß sind. Die Kontrollfunktion des Verstandes
setzt genau den Hiat zwischen Realität und Vernunft, der Erkenntnis
zu bewußtem Wissen macht. Der von den Sinnen herkommende
Einfluß auf den Menschen wird durch die Kontrolle aufgehalten, es
wird Innerlichkeit erzeugt. d.h. der innere Sinn kommt ins Spiel. Die
entstehenden Vorstellungen sind als kontrollierte bewußt.
(Gernot Böhme, Alternativen der Wissenschaft, 1980, S. 68-71).
Damit dürfte deutlich geworden sein, wie sehr Kants Erkenntnistheorie
- ohne daß dies ihre Absicht wäre - Zeugnis für die Disziplinierung
der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten zugunsten objektiver Erkenntnis
ablegt. .... Es ist eine generelle Schwäche der kantischen Erkenntnistheorie,
daß sie nicht zwischen lebensweltlicher Erfahrung und wissenschaftlicher
Erfahrung unterscheidet. .... - .... Gegenstände wie Atmosphären,
Halbdinge (siehe Hermann Schmitz, Die Wahrnehmung, in: System
der Philosophie, Band III, Teil 5, 1978) wie ein Wind oder ein Blick,
die doch so deutliche, artikulierbare Erfahrungen mit sich bringen, können
nicht Thema sein. Gesetzeszusammenhänge können nur nach dem Schema der Kausalität gedacht werden. d.h. Zweckbezüge müssen
entsprechend umgedeutet werden, Strukturzusammenhänge oder symbolische
Zusammenhänge oder gar Analogien gehören nicht in den Bereich
der Erkenntnis. Schließlich wird als objektiv nur anerkannt, was
in durchgängiger Beziehung von Wechselwirkung ist, d.h. also in den
Zusammenhang einer Zeit bzw. eines Erfahrungskontextes gebracht
werden kann. Die Erfahrung von Ungleichzeitigkeit, die Vielfalt der »Welten«,
in der wir gleichwohl leben müssen, verfällt dem kruden Bereich
der Subjektivität. - .... Objektives Wissen, d.h. Wissenschaft im
Sinne neuzeitlicher Naturwissenschaft ist nicht im Rahmen individuellen
Bewußtseins denkbar. Bei Kant äußert sich das so, daß
nach seiner Erkenntnistheorie sich das individuelle Bewußtsein zum
Bewußtsein überhaupt, d.h. also zum Repräsentanten des
allgemeinen Bewußtseins stilisieren muß. .... - Der Stand
der Selbstaufklärung der europäischen Wissenschaft verlangt
nicht nur zu verstehen, daß wissenschaftliches Wissen kontrolliertes
und diszipliniertes Wissen ist, sondern gleichzeitig einen Begriff davon
zu haben, welche Dunkelheiten, Verdrängungen diese Kontrolle erzeugt,
welche Vorstellungen aus dem offiziellen Kanon ausgeschlossen sind und
warum. (Gernot Böhme, Alternativen der Wissenschaft,
1980, S. 71-74).
Ich habe mich mich bestätigt gefühlt und sehr gefreut, als
Hermann Schmitz ebenfalls sagte, daß die Sprache etwas ist, in dem man sich immer schon vorfindet, so wie in einer Umgebung, wie in einem
Raum (hier ist Heideggers In-Sein
angesprochen [vgl. auch: In-der-Welt-Sein
{**}]).
Information allein reicht als Definition für Sprache nicht aus, meint
auch Schmitz (dessen Aussage ich hier jetzt mit eigenen Worten wiedergebe),
denn alle Sprachteilnehmer sind mehr als nur Informationssender und Informationsempfänger,
sondern eben Teilnehmer an der Sprache - die Sprache selbst ist es also
-, und um an dieser teilnehmen zu können, muß die Sprache schon
da sein, was auch für die gilt, die die Sprache erst noch erwerben,
denn ohne eine bereits in der Umgebung und der Situation gegebene Sprache
müßte man da anfangen, wo diejenigen anfangen mußten,
die noch keine Sprache vorfanden (oder fanden auch die bereits
eine Sprache vor?).
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Sie haben
die Bedeutung der satzförmigen Rede im Zusammenhang mit der
Reifung der Person betont. Könnte man nicht sagen, daß
grundsätzlich unser gesamtes Erleben sprachlich vermittelt
ist, daß selbst die einfachsten körperlichen Eindrücke
wie Schmerzen im Grunde sprachlich vermittelt sind? Zwar ist es
so, daß der Schmerz als Schmerz sich im Leben eines sprachlichen
Wesens nicht so sehr unterscheidet vom Schmerz im Leben eines nicht-sprachlichen
Wesens. Aber bei sprachlichen Wesen ist der Schmerz immer schon
eingebettet in Befragungen: Was ist das für ein Schmerz?,
Muß ich zum Arzt?, Wie schlimm ist das?. Das heißt:
Unsere scheinbar unwillkürlichste Regung scheint noch in ein
Netz von Sprache hineingespannt zu sein. Vorsprachliche Bedeutsamkeitsbezüge
scheinen immer schon auf sprachliche Bedeutungen bezogen zu sein.
Ich würde hier sogar von einem apriorischen Perfekt der Artikulation
sprechen. Die Rede ist nicht nur gliedernd, wie Sie es gesagt haben,
sondern sie ist artikulatorisch stiftend, während Sie auch
im Fall von sprachlichen Wesen noch so einen Bereich des Vorsprachlichen
eingeräumt haben. (Christoph Demmerling [**]).
Diese Sprachlichkeit liegt insbesondere im personalen Verhalten
in der Tat vor. (Hermann Schmitz [**]). |
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Gemäß Hermann Schmitz ist Philosophie Sichbesinnen des
Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung (**).
Die Umgebung wird am Leib erfahren und ist ein Raum (vgl. Heideggers In-Sein,
aus dem er das In-der-Welt-Sein
{**}
abgeleitet hat). Schmitz zufolge sind Personen diejenigen
Menschen, die das Präpersonale hinter sich haben, und
Präpersonen Tiere, Säuglinge, folglich auch Föten,
Embryonen, Morulen. Ich unterteile Sprache in Sprache i.e.S. (im
engeren und im engsten Sinne), womit der rein linguistische Bereich
der Sprache gemeint ist, und Sprache i.w.S. (im weiteren und im
weitesten Sinne), womit der gesamte semiotisch-linguistische und
der gesamte logisch-mathematische Bereich der Sprache gemeint sind
(**).
Die Sprache i.e.S. (im engeren Sinne) kann aktiv nur dann werden,
d.h. kann nur dann verwendet werden, wenn die Verwender Personen
im Schmitzschen Sinne sind, und zu diesen zählen auch die, die schon
oder noch dabei sind, Personen zu werden, die Sprache i.e.S.
zu erwerben, um sie bald aktiv zu beherrschen: z.B. Kinder, die keine
Säuglinge mehr sind. Meine Folgerung daraus ist, daß Personen
Sprachwesen i.e.S. sind. Präpersonale Lebewesen
verwenden noch keine linguistische, sondern nur und auch nur die,
die dazu in der Lage sind (Säuglinge, Föten und sog. Höhere
Tiere), eine semiotische Sprache, sind aber in der Lage, Teile
der linguistischen Sprache zu verstehen. Vorsprachlich ist alles,
was zeitlich vor dem Erscheinen der Sprache i.e.S. liegt, da es
vor dem Erscheinen der Sprache i.e.S. noch kein einziges Wesen
gibt, daß die Sprache i.e.S. benutzt und folglich erkennen kann,
daß es Sprache überhaupt gibt. Ist die Sprache i.e.S. da, ist
für die Benutzer der Sprache i.e.S. alles andere nur noch
bedingt durch die Sprache i.e.S.. Es gibt also einen Sprachrelativismus,
allerdings nur einen solchen, der die Frage, ob etwas auch ohne die Bedingtheit
durch die Sprache i.e.S. existiert, einfach unbeantwortet
läßt, ja lassen muß, denn diese Frage ist nicht beantwortbar,
weil die Sprache i.e.S. ja nun schon da ist, erreicht ist. Wir Personen
als die Verwender der Sprache i.e.S. müßten, um die Frage beantworten
zu können, wieder zu Wesen ohne Sprache i.e.S. werden, doch wenn
wir wieder Wesen ohne Sprache i.e.S. werden würden, würden wir
die Frage nicht mehr beantworten können.
Ohne viel Gerede im Überblick:
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